Weißt du noch?

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Anonym

Gast
Weißt du noch?

Weißt du noch, wie ich dein Büro betrat und dich missmutig in Augenschein nahm? Du warst in ein Gespräch mit Kollegen vertieft und lachtest viel zu laut. Deine Neugier hing im Zimmer wie kalter Rauch. Schweigsam richtete ich meinen neuen Arbeitsplatz ein und fragte mich, wie man eine Kollegin erträgt, von der es allgemein im Haus hiess, sie gebe komische Geräusche von sich. Sie ist gross, schwarzhaarig und sagt ständig „Ssst“, war alles, was ich von dir wusste.

Weißt du noch, daß deine Schwester stets ohne anzuklopfen die Bürotür aufriss und dir dämliche Grimassen schnitt, die mich befremdeten? In der Mittagspause habt ihr Frikadellenbrötchen verzehrt und mich angestarrt. Einmal hast du auf ein Stück Knorpel gebissen, dein Gesicht verzogen und das Teil mit einem zischenden Geräusch ausgespuckt. Es flog im hohen Bogen in einen Blumentopf. Deine Schwester gluckste. Ich war fassungslos und wünschte mich in eine andere Galaxie.

Weißt du noch, wie du versucht hast, mich mit Zigaretten zu kaufen? Du hast sie mir ungefragt hinüber auf meinen Schreibtisch geworfen. Ich war eine von Marlborohügeln umgebene Staatsbedienstete. Zum Dank riss ich das Telefon an mich, weil ich Gott und der Welt von meinem Unglück berichten wollte. Nur gingst du nie aus dem Büro. Und wenn sich mal die Gelegenheit ergab, stieß deine Schwester die Tür auf und schnitt mir dämliche Grimassen. Ich kam einfach nicht zum Telefonieren.

Weißt du noch, daß ich eine Kerze in der Kirche aufstellte, als ich erfuhr, daß du dir einen Sehnenriss zugezogen hattest? Deine Mutter rief mich im Büro an. Ich hätte sie küssen können, als sie mir mitteilte, dass ich 6 Wochen ohne dich auskommen muss. In meinem Überschwang liess ich mich zu einem „Schade“ hinreissen. Das wird sie dir wohl ausgerichtet haben. Denn schon eine Woche später humpeltest du mit einem Spezialschuh der Krankenkasse ins Büro. Du hast gestrahlt, und ich zog ich erstmals in Erwägung, aus der Kirche auszutreten.

Weißt du noch, wie oft der Spiegel neben der Bürotür zu Boden krachte, wenn deine Schwester ins Zimmer stürmte, weil sie in einem billigen Revolverblättchen Fotos von niedlichen Affenbabys entdeckt hatte? Beide habt ihr vor Entzücken gejauchzt, und ich versteckte mich hinter meiner Frankfurter Allgemeinen. Ich hasse Affen und Menschen, die nicht anklopfen. Das sagte ich dir auch. Dabei kamen wir ins Gespräch. Wir unterhielten uns lange über Tierquälerei und schimpften auf die Südkoreaner. Am Ende tauften wir sie Kükenquetscher.

Weißt du noch, daß unsere Pressesprecherin wochenlang mit einem dicken Pflaster auf der Stirn herumlief, weil sie meinte, neugierig nach oben blicken zu müssen, als mir im Treppenhaus das Paket Heftklammern aus der Hand fiel? Schuld daran war deine Weigerung, den Aufzug zu benutzen, den wir uns frühmorgens mit einem schweigsamen Herrn geteilt hatten. Wer konnte ahnen, daß er sich urplötzlich herumdrehen, sein medizinisches Sprechgerät auf volle Lautstärke drehen und uns nach dem Ausgang fragen würde? Die biblischen Posaunenklänge aus seinem Hals trieben dich dazu, gegen die Aufzugtür zu springen. Bis dahin war mir nicht bewusst, wie beweglich du in Momenten der Angst sein kannst. Das donnernde „Danke“ aus dem Sprechgerät konnten wir noch 2 Flure weiter vernehmen.

Weißt du noch, wie dir im Büro Kaffeesatz auf den Boden fiel? Du fandest, daß er gut mit dem Braun des Teppichs harmoniert. Als die Tür aufging und jemand dich fragte, was du da machst, sagtest du bierernst: „Ich trete gerade Kaffeesatz in den Teppich.“ Das ist typisch für dich. Einmal hast du unsere Vorgesetzte mit dem Hinweis unterbrochen, doch bitte zu schweigen, weil deine Schublade gerade brennt. Du solltest weniger rauchen. Manchmal lagen sogar Kippen vor unserer Bürotür.

Weißt du noch, daß du Simone Rethel in der Altstadt brüskiert hast, als sie und eine Traube Kellner den klapprigen Heesters an den Tisch trugen? Du sagtest trocken: „Sieh an, der Johannes! Hält der Kopf nicht mehr ohne Schal? Na, da hastes ja bald geschafft, Schätzchen!“ Dein Lachen klingt mir heute noch im Ohr. Und in edlen Restaurants machtest du dir einen Spaß daraus, die schweren Stoffservietten mit einem Ruck und so lautstark zu entfalten, daß die Gäste zusammenzuckten, weil sie dachten, ein Vogelschwarm sei gerade aufgeflattert.

Weißt du noch, wie ich dich aus dem Urlaub anrief, weil mir dein freches Lachen fehlte? Nach fünf Minuten legte ich wutentbrannt auf, weil du uns zusammen zu einer Weiterbildungsmaßnahme angemeldet hattest. Dabei wusstest du ganz genau, daß ich gegen die neue deutsche Rechtschreibung war. Während der öden fünf Tage in dem muffigen Klassenzimmer alterte ich um zehn Jahre und entwickelte einen nervösen Tick. Dozenten mit Fistelstimme eignen sich nicht zum Unterrichten.

Weißt du noch, daß wir wie Vagabunden über die staubigen Straßen Sardiniens zogen? Ausgeraubt und ohne Rückflugtickets trampten wir von Oristero nach Cagliari zum Deutschen Konsulat. In der Via Garzia Raffa mussten wir uns von der Konsularangestellten massregeln lassen, weil wir ohne Geld dastanden. Mit dem Lireschein, den sie verkniffen aus ihrer Schublade zog, konnten wir uns gerade mal zwei Kaffee und einen Obstsalat erlauben. In den engen und dämmrigen Gassen des alten Matrosenviertels kam dir die Idee, eine Kirche auszurauben. Ich konnte dir das partout nicht ausreden. Wie ungehalten du doch wirst, wenn dir die Zigaretten ausgehen!

Weißt du noch, wieviel wir zusammen mit deiner Mutter gelacht haben? Im Sommer saßen wir oft zusammen auf der Wiese vor ihrem Haus und tranken Eistee. Und abends haben wir auf deinem Balkon im Schein bunter Lampions Barolo genossen und philosophiert. Einmal warst du so betrunken, daß du dich an einen Türrahmen festgeklammert hast. Ich konnte dich nicht von dort weg bewegen. Du warst ein lebender Vorhang. Als deine Mutter krank wurde und starb, verschwand dein freches Lachen für lange Zeit. Du wolltest tot sein. Da wurde mir klar, wie sehr du mir fehlen würdest...

Weißt du noch? Dann vergiss‘ es nicht!
 

Renee Hawk

Mitglied
"Du hast gestrahlt, und ich zog ich erstmals in Erwägung, aus der Kirche auszutreten."


sehr schöne Geschichte. Nur ein kleiner Fehler ist mir aufgefallen, im oben stehenden Satz ist ein "ich" zuviel.

liebe Grüße
Reneè
 



 
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