Wochenende

Jean-Claude

Mitglied
Wochenende

Manchmal dachte er an die Zeit zurück, als er noch sorgenlos schlafen konnte. Damals war die Morgenluft noch frisch, ein-fach klarer als jetzt.

Sein Körper fühlte sich noch leicht an. Nein, er litt nicht an Übergewicht! Einst war sein Körper seelenleicht. Die Kirchturmglocken klangen wie Akkorde, obwohl sie ihn an läs-tige Aufgaben erinnerten: an die Schule, die Kirchmesse, die Länge der Nacht und an die Zeit. Dass ihm die Zeit davonge-laufen war, hatte er nicht bemerkt. Eines Tages war sie ein-fach weg und seine Haare grau!

Warum hatte er denn nichts dagegen unternommen? Er hätte doch Vieles tun können. Ihm war bewusst, dass alle Möglich-keiten offen standen. Er hätte etwas gegen seine Einsamkeit unternehmen müssen. Er war selber schuld!
Wenn er abends alleine vor der Glotze saß, an seine Freundin dachte, lief ihm ein kalter Schweiß über den Rücken. Sie hatte ihn in diese Wohnung gebracht hatte, ihn dann nach Jahren einfach sitzen lassen. Sie wollte ein neues, interes-santeres Leben, ohne ihn beginnen, wie sie ihm einmal kalt-schnäuzig sagte. „Du bist alleine für dein langweiliges Le-ben verantwortlich.“ Dann schlug sie die Türe hinter sich zu. Seither hatte er sie nie wieder gesehen; nicht einmal in der Stadt, bei Giovanni’s Kaffeebar. Er durfte mit ihr nicht böse sein. Sie war unschuldig. Er hätte sein Schicksal – wie einfallslos er dieses Wort brauchte! - selber in die Hand nehmen müssen und etwas gegen sein leeres Dasein unternehmen sollen. Dazu war er zu schwach. Manchmal hatte er den Ein-druck, das Leben überrumple ihn. Jeden Tag plagte ihn das unheimliche Gefühl, der Morgen sei schneller gekommen, als erwartet.
Bereits, als es ihm an Kraft fehlte, den Wecker auszuschal-ten, hätte er reagieren müssen. Er hätte nicht warten sol-len, bis ihn die Gewohnheit völlig in der Hand hatte und ihn in ihren Rachen hinunterzog. Anfangs ließ er es geschehen und dann war es zu spät. Er hatte überhaupt keinen Mut, zum Kampf. Irgendwann verlor er den Überblick.
Dann als er Mitte dreißig war, dachte er, sein Leben sei eine hoffnungslose Ansammlung selbst gebastelter Ideen. Er war überzeugt, die eigenen Gedanken würden ihn betrügen. Sein Leben hatte ihn im Griff. Nicht er war Herr über seinen Alltag, nein, der Alltag erdrückte ihn mit seinen Forderun-gen.

„Warum will ich mich immerzu beschäftigen.“ dachte er. „Wa-rum muss ich mich mit allerlei Tätigkeiten ablenken?“ Ihm blieb immer mehr Freizeit und immer weniger Freiheit. „Aber spielt es denn überhaupt eine Rolle, frei zu sein? Nein, wahrscheinlich nicht.“ Manchmal verwechselte er den Frei-heitsentzug mit dem Arbeitszwang, die ihm die natürlichen Grundbedürfnisse aufnötigten. Seine Eltern lebten auch unter dem Joch schwerer Arbeit und schienen glücklicher zu sein als er. Zu jener Zeit wurde sonnabends noch gearbeitet und niemand dachte im Geringsten daran, nichts zu tun. Er konnte sich an seinen großen Bruder erinnern, der nach getaner Ar-beit noch die Einfahrt zum Haus kehren musste, während er und seine Schwester beschäftigt waren, die Schuhe sämtlicher Familienmitglieder zu schruppen und zu polieren. Da wurde nicht zweimal überlegt, ob es sich schickte, an einem Sams-tag zu arbeiten.
Wenn er sich Freitagnachmittag um sechszehn Uhr von Frau Meyer – seiner Sekretärin – verabschiedete, musste er schon an Montag denken. Nur schon deshalb wurden seine Wochenenden mit negativen Gedanken vermiest. – Alles ging für ihn so schnell. Er ertappte sich auch, wie er sagte: „Ich fahre schnell in den Supermarkt.“, oder „Ich mache noch schnell dies und schnell das!“ Alles musste er noch schnell erledi-gen, dabei fuhr er nicht sonderlich schneller als sonst. Trotz seiner Schnelligkeit, hatte er weniger übrige Zeit für sich, als sonst.
Es war Freitag. Er war überglücklich, denn vor ihm lagen zwei arbeitsfreie Tage. Das Gefühl von Freiheit war schon am Samstagmorgen vorbei, als hätte es nie existiert. Er wollte nur noch schnell fürs Wochenende einkaufen und schnell die Wohnung reinigen. Danach fühlte er sich besser. Nachher wür-de er das Wochenende genießen. Er goss sich ein dunkles Bier ein, holte seine Brezel, die er noch schnell gekauft hatte und zündete sich eine Zigarette an. Ja, eigentlich fehlte ihm nichts mehr. Jetzt konnte er genießen, doch der Gedanke, dass das Wochenende schon bald wieder zu Ende war, ärgerte ihn. Aber es war schließlich schon siebzehn Uhr und bald ging er wieder schlafen.
Am Sonntag, war das Freiheitsgefühl komplett verschwunden und er legte sich auch schon wieder die Kleider bereit, die er fürs Büro brauchte. Er fiel in sein bekanntes Sonntags-loch, ließ seine Arme hängen und sprach mit niemandem. So schnell ging alles vorbei.
 



 
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