Wohin geht die zeitgenössische Lyrik? (gelöscht)

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Mirko Kussin

Dein versachlichender Ansatz in allen Ehren. Aber die Behauptungen, die du aufstellst, hätte ich doch gerne ein bisschen argumentativer unterfüttert, als das es mir in deinem Beitrag stattzufinden scheint.

Zu deiner Frage, wohin die zeitgenössische Lyrik gehen müsse: Muss sie wirklich gehen? Den Beweis bleibst du nämlich zumindest mir schuldig. Aber wenn sie denn gehen müssen sollte: Dann bitte in Richtung einer gerechten Sprache, die nicht glaubt, Autorinnen seien automatisch beglückt, wenn sie unter dem Überbegriff Autoren subsumiert werden.

Ach was, die Sprache ist eben so? Und warum sollte ausgerechnet die Lyrik nicht in der Lage sein, sie zu ändern? Wenn sie sich denn schon aufmachen muss, warum sollte sie sich dann nicht auch öffnen?

Schöne Grüße von blaustrumpf
 

Mirko Kussin

Foren-Redakteur
Zu deiner Frage:
Ja ich denke eine Weiterentwicklung muss stattfinden. Wie und in welcher Form ist die Frage. Und natürlich kann da niemand eine Antwort drauf geben, aber ich finde die Fragestellung an sich immens wichtig. Und nur über solche Diskussionen kommt (meiner Meinung nach) zu einer Weiterentwicklung.
Dass ich meine Argumentation nicht ausreichend belegt habe, liegt zum einen daran, dass es erstmal meine persönlichen (und ziemlich spontanen)Gedanken sind, die auf Beobachtungen beruhen. Zum anderen sollte das hier ja keine wichtige wissenschaftliche Hausarbeit sein, sondern einfach der Anstoss zu einer Diskussion über die man dieser Fragestellung vielleicht einen Schritt näher kommt.
Ich beziehe mich als Autor ja auch selbst mit ein, auch meine Texte sind nur Zitate und halbherzige Versuche eine eigene Sprache zu finden.
Und ich beziehe natürlich auch die Gruppe der Autorinnen in dieses Gedankenspiel mit ein ;)
Gruß Mirko
 
Hallo Mirko,

ich finde es prima, dass du dich zu diesem Thema mit deinen Überlegungen äußerst. Klar ist das hier nicht der Ort, wo man gleich fertige Essays zu einem so komplexen Thema abliefert. Ich finde das alles andere als überflüssig, sich über Literatur, über Lyrik, Gedanken zu machen. Nun gut, die Lyrik geht so oder so ihren Weg, wie ein Fluss fließt, ob das ein Muss ist oder in der Natur der Sache liegt, ist ja egal.

Ich glaube sogar – bitte nicht steinigen - , dass heutige Lyrik gar nicht möglich ist ohne 99 Prozent Leben und Nachdenken und Aufarbeiten des Geschriebenen, Lyrik ist alles andere als eine spontane Gefühlsäußerung, aber sie kann sich selbstverständlich in dieses Gewand kleiden, das ist dann eine Art Mimikry. Sie rebelliert gegen ihren eigenen kunsthaft-esoterischen Anspruch. Das scheinbar locker Dahingesprochene ist dabei nicht weniger schwierig als das offenkundig Geformte. Die Frage, wohin die Lyrik geht und wo sie steht, ja, das ist in der heutigen Welt eine wirklich schwierige Frage, Stichworte: Pluralismus, Globalisierung. Lyrik steht heute auch im internationalen Kontext. Wie schreibt ein Schwarz-Afrikaner, wie ein Japaner, ein Chinese aus Bejing, wie ein Mensch aus Düsseldorf? Zunächst gilt es zu lesen, aufzunehmen, sonst erfindet man das Rad zweimal.

Celan und die Nachkriegsliteraten sind ja nun schon lange vorbei. Ich halte dennoch die politische Lyrik immer noch für möglich. Es geht nicht darum, dass sie im konkreten Fall etwas bewirkt, aber sie kann gesellschaftliche Umstände lyrisch reflektieren. Meine Haltung wurde stark durch Gedichte von Celan (Todesfuge), Bachmann, Eich, Enzensberger (Verteidigung der Wölfe), Fried, Wolf Biermann und natürlich Pablo Neruda beeinflusst. Ohne sie wäre meine Haltung eine andere. Insofern bewirkt Literatur und Lyrik auch etwas. Wer wirklich seinen Celan und seine Else Lasker-Schüler und seinen Eich und seine Nelly Sachs kennt und liebt, wird wohl mehr von Juden und Gewalt verstehen als jemand, der „nur“ seine Spiegelartikel liest. Lyrik und Prosa sind Ausdrucksformen, die gegen alle Verlogenheit der Welt immer noch ein Fünkchen Authentizität suchen, es sind die einzigen rettenden Inseln in einem Meer der Gewalt, der Korruption und des kapitalistischen Ungeistes.


Monfou
 

San Martin

Mitglied
Lyrik ist für mich eine ästhetisierte Aussage. Das will ich mit Lyrik tun und erreichen. Ich bevorzuge gereimte Lyrik mit Metrum, also eine klassische Vorstellung der Lyrik, aber ich verschließe mich nicht der reimlosen, metrumlosen Poesie. Allerdings lehne ich die letztere ab, wenn ich fühle, dass kein Aufwand hineingeflossen ist, wenn ich keine Verdichtung der Aussage erspüren kann.

All diese Überlegungen, die natürlich völlig die meinen sind, führen mich zu der Erkenntnis, das jeder andere Mensch eine andere Meinung vom Thema besitzen muss, und dass aus diesem Grunde eine pauschalisierte Bewegung des Namens "die Lyrik dieser Tage geht in diese oder diese Richtung" unmöglich, unerwünscht und unnötig ist. Jeder Dichter folge seinem eigenen Pfad und suche seine Erkenntnis, welchen Weg er einschlagen will, um das zu verwirklichen, was ihm seinen Antrieb verleiht. Ob nun der Einzelne die Schwerpunkte setzt auf Ästhetik, Subjekt, Aussage, Form, etc., ist im Effekt irrelevant. Wir alle streben auseinander und nehmen uns das, womit wir etwas anzufangen vermögen. Und wenn eine Mode, eine Strömung aufkommt, der ich nichts abgewinnen kann, dann soll sie an mir vorbeiströmen. Erreicht einer eine Veränderung, bedient er sich Mitteln, die mir gefallen, eigne ich sie mir an. Vielleicht. Nur habe ich, wie jeder, eine Meinung davon, was für mich das Richtige ist. "Wohin geht die zeitgenössische Lyrik?" Ist mir nicht egal, aber geht sie dorthin, wo ich nicht seien mag, winke ich ihr hinterher.
 

Mirko Kussin

Foren-Redakteur
Hallo Monfou, hallo San Martin,
Klar, die Sprache (und die Lyrik) verändert sich immer irgendwie, aber was mir etwas fehlt ist eine Gemeinsamkeit, eine Idee, die Autoren miteinander verbindet, wie etwa (und nur als Beispiel) bei den Expressionisten, den Beat-Autoren, oder eben der Gruppe 47. Heute kann jeder machen was er will und sieht sich mit einer totalen Freiheit im ästhetischen und inhaltlichen Ausdruck konfrontiert. Und diese Freiheit hat auch etwas nachteiliges, denn sie fördert eine gewisse Bequemlichkeit im Denken.
Ich stimme Monfou 100%ig zu, dass Lyrik heute in erster Linie ein Aufarbeiten von Geschriebenem ist.
Über die Globalisierung will ich gar nicht nachdenken. Man kann schon nicht all die gute Literatur des eigenen Kulturkreises überschauen. Global verliert man sich.
Außerdem (auch wieder nur als Ansatz): kann man die Lyrik einer vollkommen anderen Kultur (als Beispiel: asiatische) mit unserem europäischen Background überhaupt adäquat aufnehmen? Wie kann ich einen (japanischen) Dichter verstehen, wenn ich nicht mindestens zwanzig weitere (japanische) Dichter gelesen habe. Wie kann ich ihn einordnen, wenn mir der Vergleich fehlt?
Wie immens wichtig Celan, Bachmann und auch Brecht waren will ich überhaupt nicht bestreiten. Ganz im Gegenteil: genau sowas brauchte das Nachkriegsdeutschland. Aber in der heutigen Zeit könnte man in dieser Form nicht mehr schreiben: Brechts „An die deutschen Soldaten im Osten“ oder „Die Lösung“, Bölls „Katharina Blum“, wirken heute auf mich naiv.
Als unnötig und unerwünscht empfinde ich Fragestellungen nach der Entwicklung der Lyrik ganz und gar nicht. Im Gegenteil, für mich persönlich ist diese Leere, dieses Fehlen einer erkennbaren Strömung sehr problematisch. Dein Satz San Martin bringt diese Problematik auf den Punkt. Du schreibst: „Und wenn eine Mode, eine Strömung aufkommt, der ich nichts abgewinnen kann, dann soll sie an mir vorbeiströmen“. Sollte es nicht eher so sein, dass wir als Lyriker solche „Moden“ oder besser Strömungen selbst erst entstehen lassen müssen? Das ist mir so zu passiv: Schauen was da kommt und sich dann dafür oder dagegen entscheiden. Unsere Sprache zu finden, die dann auf andere zuströmt, sollte das Ziel sein.
Und gerade in der Lyrik sehe ich so was halt nicht wirklich. Eine kurze Zeit lang dachte ich, dass die Slam Poetry eine echte Bereicherung wäre und wirklich etwas Neues. Aber leider sind die meisten Vortragenden auch nur Adepten der Beat-Autoren. In der Prosa gab es wenigstens vor zehn Jahren noch die so genannten Popliteraten, die in dieser Form etwas bisher nicht dagewesenes auf den Markt warfen. Die Lyrik kocht so in ihrem eigenen Saft, dass es längst Zeit wird für eine neue Sprache, einen neuen Tonfall.
Ein anderer Ansatzpunkt: Wie sieht es mit dem Internet aus? Wir sind inzwischen alle so geschult darin durchs Netz zu surfen. Das sind ja auch Strukturen (wenn auch oft eher strukturlos). Wir leben viel weniger linear als noch vor zehn Jahren. Links anklicken, von Seite A nach Seite B. Diese „Datenwege“ auf denen wir durchs Netz ziehen, können sehr gezielt ablaufen, ich kann mich aber auch komplett treiben lassen und habe keine Ahnung wo ich nach zehn Links herauskommen werde. Diese labyrinthischen Strukturen (Deleuze und Guattari haben etwas ähnliches schon vor 30 Jahren beschrieben und es Rhizom genannt) könnten doch auch in die Literatur einfließen.
Wie sähen solche, sich beim Lesen verändernden Gedichte denn aus? Oder ist solch eine Struktur auf Papier nicht machbar?
Gruß Mirko
 

San Martin

Mitglied
Dein Satz San Martin bringt diese Problematik auf den Punkt. Du schreibst: „Und wenn eine Mode, eine Strömung aufkommt, der ich nichts abgewinnen kann, dann soll sie an mir vorbeiströmen“. Sollte es nicht eher so sein, dass wir als Lyriker solche „Moden“ oder besser Strömungen selbst erst entstehen lassen müssen? Das ist mir so zu passiv: Schauen was da kommt und sich dann dafür oder dagegen entscheiden. Unsere Sprache zu finden, die dann auf andere zuströmt, sollte das Ziel sein.
Moment. Selbstverständlich sollen Lyriker Moden und Strömungen entstehen lassen, aber jeder seine eigene. Wenn einer dieser Lyriker gut genug und einflussreich ist, warum sollten sich dann nicht andere seiner Sprache und Ausdrucksweise annehmen? Oder daraus borgen und kombinieren mit anderen und so auch Neues entstehen lassen. Abwarten und schauen was kommt ist doch grundfalsch. Man sollte seine eigene Stimme, seinen eigenen Stil finden (ohne alles andere zu ignorieren) - das war meine Aussage. Ab sich der eigene Stil an eher klassische Muster anlehnt oder nicht, ist Nebensache. (Hin)Fortschritt um des Fortschritts willen ist in der Lyrik nun wirklich nicht sinnvoll.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich denke, die Lyrik entwickelt sich und blüht wie nie zuvor - hier außerhalb der Verlage.
Neue Strömungen entstehen, die es zuvor nicht gab, sie verschwinden auch wieder.

Neben fast mathematisch durchgestylte geschriebene Werke kommen improvisierte, die nur für den einmaligen Gebrauch bestimmt sind, wie beim "Poetry Jam" - einer Richtung im englischsprachigen Raum. Und hier gibt es wieder so was, wie Sängerwettstreite. Und doch sind es neue.

Wo gab es je die Möglichkeit für Laien, potentiell gehört oder gelesen zu werden?

Die scheinbare Beklemmung besteht immer, wenn altes durch neues abgelöst wird. Dabei ist das Neue immer irgendwie neu, aber auch das alte wird neu. Heute lese ich Gedichte Goethes beispielsweise anders, als sie damals gelesen wurden.

Für viele ist Lyrik ein Durchgangserlebnis von kurzer Dauer, für andere etwas langfristiges.

Immer wenn sie an Grenzen stößt, gibt es Krach, oft wird sie als fehlerhaft empfunden.

Heute wird oft von den Tönen abstrahiert, viele nehmen Lyrik nur noch als Schrift war. Aber es gibt auch tonale Ansätze und man kehrt zur Schaffung von Gesängen zurück, Sprechgesängen zum Teil.

Auch die Lieder werden wieder poetischer, es gibt sehr sehr gute Liedtexte.

Viele sahen in "Wadde hadde dude da" nur Unfug, aber: es war Lautmalerei, Anklang an Sprache, Sinn durch Unsinn, Versuch einer Neuerung.

Nicht jede Neuerung gelingt.

Wenn ich in der Leselupe Einwort-Lyrik veröffentlichte, wäre wohl kaum Verständnis zu erwarten, außerhalb kurzzeitiger Satire.

In Opern aber wurde Lyrik gedehnt und ein Wort dehnte sich durchaus auf zehn Minuten aus, wurde tonal.

Umgekehrt: Die Sprache nimmt lyrische Elemente auf, Bildhaftigkeit, wir verwenden wieder mehr "anrüchige" Wörter, die Abstraktheit weicht konkreten Vergleichen.

Spontane Lyrik ist oft politisch. Viele Verse entstanden, die sich herumsprachen und zu geflügelten Redensarten wurden.

Eine neue Mündlichkeit tritt auf.

Auch im Netz. (Mp3 und ähnliche Formate machen es möglich).

Es scheint, als sei das Ende der Gutenberggalaxis erreicht, aber Galaxien sind groß. Sie ist lange nicht am Ende.

Zum Glück gibt es in ihr Splitter, Nebelschwaden und Meteore.
 



 
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