Yellow ribbon

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Bursch

Mitglied
... If I don't see a ribbon round the old oak tree
I'll stay on the bus
Forget about us
Put the blame on me ...


Ich fahre selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Fiel mein Wagen mal aus in den letzten Jahren, lieh mir meine Frau ihren.

An diesem Montag Ende August klappte das nicht. Den Samstag zuvor war mir jemand in die Seite gefahren. Ausfall. Am Sonntagmorgen starte ich den Wagen meiner Frau, Ausfall Nummer zwei. Motorschaden.

Zum Glück musste Georg, mein Nachbar, am Montag Richtung Neuss. Er nahm mich mit aus dem heimischen Grenzland, den Rest erledigte ein Taxi. Meeting in unserer Düsseldorfer Regionaldirektion, Anwesenheitspflicht, die Umsätze verlaufen zu schleppend.

Am frühen Nachmittag war es überstanden, wir hatten alle unser Fett abbekommen. Ich nahm den Zug zurück nach Mönchengladbach. Von dort ging es mit dem Bus weiter.

Ich erwischte den vorletzten freien Platz in der Mitte des Busses, kramte meine Zeitung hervor, der Fahrer fuhr an. Stoppte aber nochmal, denn ein weiterer Fahrgast tauchte auf. Will sagen, er tauchte auf.

Er, ein Mann um die 40. Bullig, füllig, rot angelaufener, beinahe viereckiger Kopf, ein Stoffbündel im Arm. Abgewetzte braune Lederjacke, schmuddelige Jeans, Turnschuhe, altertümlich wirkende Hornbrille. Oje! habe ich nur gedacht. Ließ sich schnaubend nieder auf dem letzten freien Platz gleich mir gegenüber, der Bus zog an.

Was mich irritierte, war aber weniger sein abgeblättertes Erscheinungsbild, sondern der Stress, unter dem der Mann unverkennbar stand. Seine Augen suchten unruhig nach Halt, fanden aber keinen.

Meine Frage kam spontan, überraschte mich selbst: "Alles in Ordnung?"

Statt einer Antwort kam ein unsicheres Nicken. Sei's drum, dachte ich. Was geht es dich an? Und setzte meine im Zug unterbrochene Zeitungslektüre fort.

Nicht lange. Als ich zwischendurch kurz aufblicke von meiner Zeitung, sehe ich, dass er nicht nur bittend herüber blickt, sondern zugleich ein kleines Foto zwischen seinen angeschwollenen Fingern hält: "Das ist sie."

"Wer?"

Wir erregen ein gewisses Aufsehen, der Bus bewegt sich hinaus aus der Stadt. Er: "Anna."

Eine zierlich gebaute oder vielmehr hagere Frau um die 40 blickt mich an. Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt. Hat gewiss nicht nur glückliche Tage gesehen in ihrem Leben, sage ich mir. Und laut: "Ihre Frau?"

"Lebensgefährtin. Das heißt ..."
"Das heißt?"
"Falls noch."

Ich lege meine Zeitung beiseite, einige Mitreisende reagieren ungehalten. "Sie sind sich nicht sicher? Beziehungsweise nicht mehr?"

"Seit dem Knall kurz vor Weihnachten nicht, nein."
"Das ist aber lange her."
"Komm ja gerade erst heraus aus'm ..."

"Ach so!" kalkuliere ich laut, mustere ihn erneut von oben bis unten. "Wie lange waren Sie denn ...?"
"Zwei Jahre, vier Monate."

Spitze Ohren um uns herum. Ich: "Hoppla! Wegen was, wenn ich mal so direkt ...?"
Er leise, Richtung Fenster: "Diebstahl. Schwerer. Gemeinschaftlich. Baugeräte. Ich saß am Steuer."

Unser Bus nahm Kurs auf Hardt. Mir war die ganze Fahrt mittlerweile so egal wie die lauschenden Mitreisenden, nahm betreffend Lautstärke keine Rücksichten mehr: "Also heute geht es zurück zu ihr?"

"Ja. Wenn ..." Er wurde gesprächiger. "Es ist hinter Hardt, wissen Sie? Ein alter Bauernhof, ein Vorgarten, Obstbäume. Es ist das zweite Mal. Das erste Mal war vor sechs Jahren, da war ich nur ein knappes Jahr weg. Hatte ihr geschrieben, wenn du mich noch willst, Anna, du kennst diesen alten Song 'Gelbes Band'. Eins reicht. Um den alten Pfirsichbaum, okay?"

Ein Grinsen schob sich in sein Gesicht: "Das war so ein Witz, wissen Sie? Sie wollte mich zurück, sie wartete auf mich. Hatte das Band nicht nur um den Obstbaum gezogen, nein, gleich weiter über den ganzen Zaun vorne an der Straße und zurück bis zum Haus. Das war ein Anblick, sage ich Ihnen. Irre!"

Jetzt hatte er es geschafft. Nicht nur unsere unmittelbare Umgebung lauschte, nein, der ganze Bus zog mit. Mancher war ausgestiegen, einige hinzugekommen, der Bus immer noch reichlich voll. Einer hatte den anderen ins Bild gesetzt.
"Und diesmal?" fragte ich stellvertretend für alle.

Sein Grinsen starb weg. "Seit Weihnachten keine Nachricht mehr. Auch kein Besuch. Ein einziges Mal hatte ich den Namen Kai-Uwe erwähnt, als sie mich besuchte. Nur gesagt, dass ich indirekt Kontakt hatte mit dem. 'Du brichst mit dem, ein für alle Mal. Der ist an allem schuld. Oder es ist aus zwischen uns. Hast du mich vertanden?' Und dann springt sie auf und rennt davon."

Wir passierten die letzte Haltestelle in Hardt, der Bus brummte Richtung Hehler. Ich hatte das Gefühl, auch der Fahrer war im Bilde. "Wo ist der Bauernhof genau?" will ich wissen.

"Hinter der übernächsten Haltestelle. Hab ihr geschrieben, dass es heute ist. 'Wenn du mich noch willst, Anna, du weißt, ein einziges gelbes Band ...' Und: 'Ich schwöre dir, ich hab endgültig gebrochen mit dem. Ein für alle Mal.'"

Dann kam nichts mehr. Unser Bus nahm Haltestelle Nummer eins. Eine Frau wollte aussteigen, kehrte aber wieder um: "Nee, jetzt will ich wissen, wie das ausgeht."

Der Bus erreicht Haltestelle Nummer zwei. Niemand steigt ein, niemand aus. Der Fahrer biegt in eine Rechtskurve, verlangsamt die Fahrt. Unser Strafentlassener will nicht hinsehen, verbirgt sein Gesicht unter den Händen.

"Noch langsamer!" rufe ich nach vorn, "Da, das muss es sein."

Wer schildert die Beklommenheit, die in diesem Bus herrschte? Da war nichts, da war kein gelbes Band. Ein gepflegter Vorgarten war da, Obstbäume, ein schöner Anblick, sommerlich. Nur weit und breit kein Band in Sicht, kein rotes, kein blaues und ein gelbes schon mal gar nicht.

Der Bus stand. Ich: "Es ist ..., ein Gebäude mit roten Klinkern? Rechts eine Auffahrt? Weißer Kies?"

"Ja!" Er nimmt seine Hände vom Gesicht. Er begreift.

Nun weiß der geneigte Leser, wie ein großes Tier schreien oder besser: brüllen kann, wenn der Schmerz es zerreißt. Etwa so klang das, was unser Mann ausstieß. Es war ihr Name, den er hinausschrie. Es riss uns allen förmlich das Hirn weg.

"Nun fahren Sie doch endlich weiter!" schrie ich meinerseits Richtung Fahrer. Bedauerte das im gleichen Moment. Schließlich war der Mann vorn schuld an nichts.

Wir sammelten unsere Seelen wieder ein. Ich suchte nach Worten: "Hast du ..., haben Sie ..., gibt es jemanden, zu dem Sie jetzt ...?"

Er: "Ich? Ach so. Ja, danke. Meinen Bruder. Ach ja, da muss ich ja ganz anders. Fahrer, können Sie anhalten?"

Natürlich konnte der Fahrer, mitten auf der Landstraße konnte er. Und schon war er weg, der Mann in der abgewetzten Lederjacke.

Ich stieg an unsrer Kirche aus und ging, vielmehr es ging mich in den nächsten Blumenladen. Leerte gleich einen ganzen Eimer voll bereit stehender Rosen, fragte nicht nach den Kosten.

"Was ist denn los?" fragte meine Frau. "Du hast doch nichts verbrochen?"

"Ich? Nein. Alles in Ordnung. Aber gib mir bitte mal 'n Cognac, ja?"
 

Cafard

Mitglied
Man muss nicht sonderlich berührbar sein, um von dieser Geschichte berührt zu sein, doch auch, wenn man schwer berührbar ist, dürfte man hier gefühlsmäßig mitgegangen sein - schöner Schluss auch, echt gut, auch der ganze Stil, mag ich so etwas. Die Örtlichkeiten sind mir gut bekannt, das macht es alles noch interessanter. Danke für das Lesevergnügen, trotz der Schwere ein Vergnügen, wenn du erlaubst.
 

Vagant

Mitglied
Hallo Bursch,
nun, Geschichten sind halt nun mal so wie sie sind, deshalb möchte ich nur mal auf die Stilistik und Semantik eingehen.

Ich fahre selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Fiel mein Wagen mal aus in den letzten Jahren, lieh mir meine Frau ihren.

An diesem Montag Ende August klappte das nicht. Den Samstag zuvor war mir jemand in die Seite gefahren. Ausfall. Am Sonntagmorgen starte ich den Wagen meiner Frau, Ausfall Nummer zwei. Motorschaden.

Zum Glück musste Georg, mein Nachbar, am Montag Richtung Neuss. Er nahm mich mit aus dem heimischen Grenzland, den Rest erledigte ein Taxi. Meeting in unserer Düsseldorfer Regionaldirektion, Anwesenheitspflicht, die Umsätze verlaufen zu schleppend.

Am frühen Nachmittag war es überstanden, wir hatten alle unser Fett abbekommen. Ich nahm den Zug zurück nach Mönchengladbach. Von dort ging es mit dem Bus weiter.

Ich erwischte den vorletzten freien Platz in der Mitte des Busses, kramte meine Zeitung hervor, der Fahrer fuhr an. Stoppte aber nochmal, denn ein weiterer Fahrgast tauchte auf. Will sagen, er tauchte auf.

..... So, der fette Satz ist der erste Satz der Geschichte. Gut, ist er gerade nicht, er hätte aber das Zeug dazu, es zu werden. Alle ihm vorangestellten Sätze braucht es hier nicht, die Aussage dieser Sätze hat nicht das Geringste mit Deiner Geschichte zu tun und kann ersatzlos gestrichen werden. Warum eigentlich immer diese luftige Formatierung, diese Inflation der Absätze? Das macht überhaupt keinen Sinn und vermiest einem schon zu Beginn den Lesegenuss – da ist mir ja selbst der gute alte Blocksatz lieber; solange sich weder die Szene, noch die Intention des Textteils – also hier die Idee einer Exposition – ändert, ist kein Absatz nötig)...
Der Punkt in diesem (ersten) Satz gehört hinter "kramte meine Zeitung hervor". Punkt. Danach wechselt der Handlungsträger; es ist ein wenig ungeschickt, eine Handlung des Fahrers noch in diesem Satz unterzubringen. Also hier einen Punkt nach ‚hervor‘ und dann eine neue Zeile.

Er, ein Mann um die 40. Bullig, füllig, rot angelaufener, beinahe viereckiger Kopf, ein Stoffbündel im Arm. Abgewetzte braune Lederjacke, schmuddelige Jeans, Turnschuhe, altertümlich wirkende Hornbrille. Oje! habe ich nur gedacht. Ließ sich schnaubend nieder auf dem letzten freien Platz gleich mir gegenüber, der Bus zog an.

... Naja, die übliche Versuchung, es immer ganz genau beschreiben zu wollen. Aber weniger ist da oft mehr – pars pro toto – also zwei oder drei bezeichnende Details sollten für eine Beschreibung ausreichen. Die sollten dann allerdings auch wirklich passen. Deine Beschreibung ist nicht mehr, als ein in die Höhe gehaltenes Foto. Anstatt 3 Zeilen lang die Oberfläche zu beschreiben, wäre es an dieser Stelle interessante zu erfahren, wie der Eindruck auf den Ich-Erzähler in dieser Situation ist.

Was mich irritierte, war aber weniger sein abgeblättertes Erscheinungsbild, sondern der Stress, unter dem der Mann unverkennbar stand. Seine Augen suchten unruhig nach Halt, fanden aber keinen.

... Mit dem ‚Augen-suchten-Halt‘ hast Du versucht, diese Stresssituation zu beschreiben. Also das ist schon mal der richtige Weg, aber am Ende doch ein bisschen dünn. Diese Stresssituation ist ja ein tragendes Moment dieser Geschichte, und könnte wirklich ein bisschen mehr Lametta vertragen.
Apropos Lametta – der Erzählton fällt mir an dieser Stelle auf. Dein Protagonist war bei einem Meeting in der Regionaldirektion. Nun gehe ich davon aus, dass er ein Mann ist, der irgendwo in der Provinz eine Filiale leitet – Versicherung, Einzelhandel, Was-weiß-ich-was – also jemand , der sich vielleicht nicht immer sachlich, so doch aber immer konkret ausdrückt. Hier passt dann stellenweise der Erzählton nicht. Ich möchte das mal speziell an dem Satz: „ein Fahrgast tauchte auf“ festmachen, also dieses "auftauchen". Dieser Erzählton wiederholt sich hier ständig – ein Ton, der eigentlich nicht zu dem uns vorgestelltem Protagonisten passt. Allzu viele unkonkrete Verben und eine unzuverlässige Narrative „eine zierlich gebaute oder vielmehr hagere Frau um die 40...“ (warum ist er sich da nicht sicher? – nur ein Beispiel fürs unzuverlässige Erzählen)

Meine Frage kam spontan, überraschte mich selbst: "Alles in Ordnung?"

... dieser Satz ist Quatsch. Alles unterliegt der Gesetmässigkeit von Reaktion- Aktion; das Sprechen gehört zu Aktion und kann somit nicht spontan erfolgen, ihm geht immer erst eine Reaktion voraus, also die geistige Verarbeitung eines Eindrucks, manchmal auch ein spontane Reaktion wie ein Schrei bei Angst; aber nie ein Sprechen. Wer das beim Schreiben nicht beachtet, der vergrault die Leser.

Statt einer Antwort kam ein unsicheres Nicken. Sei's drum, dachte ich. Was geht es dich an? Und setzte meine im Zug unterbrochene Zeitungslektüre fort.

.... in der erlebten Rede heißt es für den Ich-Erzähler: was geht es MICH an?

Nicht lange. Als ich zwischendurch kurz aufblicke von meiner Zeitung, sehe ich, dass er nicht nur bittend herüber blickt, sondern zugleich ein kleines Foto zwischen seinen angeschwollenen Fingern hält: "Das ist sie."

...Sorry, aber hier zerfasert die Sprache zusehens.

"Ach so!" kalkuliere ich laut, mustere ihn erneut von oben bis unten. "Wie lange waren Sie denn ...?"
"Zwei Jahre, vier Monate."

... hier wieder das Problem mit den Verben. „kalkulieren“ und „mustern“ sind so farblos, so unsexy, so unkonkret, dass sie ja fast schon zum Sprachgebrauch eine Filialleiters passen würden - shit, nun habe ich mich selbst ins Knie geschossen - also „kalkulieren“ und „mustern“ wären wohl meine letzte Wahl, würde hier aber eventuell sogar zum Erzähler passen;-)

Spitze Ohren um uns herum. Ich: "Hoppla! Wegen was, wenn ich mal so direkt ...?"
Er leise, Richtung Fenster: "Diebstahl. Schwerer. Gemeinschaftlich. Baugeräte. Ich saß am
Steuer."


... die direkte Rede gehörte etwas gestrafft. Ich finde auch die Form der nachgestellten Rede nicht so prikelnd, diese „Ich:“. Die Form mit dem Redebegleitsatz (angehängt oder eingeschoben) ist immer die bessere Wahl. Allerdings liegt es in der Freiheit des Autors, für welche Form er sich entscheidet.


Nun weiß der geneigte Leser, wie ein großes Tier schreien oder besser: brüllen kann, wenn der Schmerz es zerreißt. Etwa so klang das, was unser Mann ausstieß. Es war ihr Name, den er hinausschrie. Es riss uns allen förmlich das Hirn weg.

... ich habe nun einiges übersprungen. Der Text hatte zwischendurch einige Stärken, aber auch weiterhin die bereits genannten Schwächen. Nun wurde ihm allerdings der Todesstoß versetzt. Diese direkte Ansprache an den Leser wirft mich völlig aus der Fiktion. Ich meine: Kann man machen, haben andere auch schon gemacht, dann muss der Erzähler allerdings von Beginn an als Plaudertasche eingeführt werden und den Leser vom ersten Satz an mit ins Boot nehmen.

Sorry Bursch, aber wenn ich eine Note geben müsste: mehr als eine 3 (der Text muss stark überarbeitet werden) wären hier nicht drin.

LG Vagant
 

Bursch

Mitglied
Hallo Cafard,
herzlichen Dank für deinen spontanen Eindruck.

Hallo Vagant,
danke für die ausführliche und genaue Stilanalyse. Vieles beherzigenswert. U.a. die Kritik am Satz, schlechte alte Angewohnheit von mir, lege ich zugunsten der Lesbarkeit umgehend ab.
Anderes werde ich nicht ablegen. ZB das radikale Durchbrechen der Erzählillusion, wenn mir danach ist. Soviel dichterische Freiheit muss schon sein.

Findet Bursch
 



 
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