Zeitgeburtstag

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Hagen

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Zeitgeburtstag

Als ich klein war, habe ich meine Eltern gefragt, warum man Sylvester feiert. Das Jahr weiß doch nichts von sich, es merkt gar nichts davon, dass wir es feiern.
Da hat Tante Liebtraud das Antworten übernommen und gesagt: „Doch, auch die Zeit feiert Geburtstag, und das ist der Neujahrstag, jedes mal wieder.“
Da habe ich nachgedacht und weiter gefragt: „Aber dann muss wohl Sylvester der Sterbetag des vorigen Jahrs sein, und so was ist traurig. Aber wir feiern es doch. Ist das nicht gemein?“
„Nein“, antwortete Tante Liebtraud, „die Jahre sind ja keine einzelnen Wesen, sie gehören alle zusammen als eines, sie sind ja die Zeit. Und die Zeit hat immer zu Neujahr Geburtstag.
Bei der Zeit ist es nur so – anders als bei den Kindern, dass die ihre Geburtstagsgeschenke schon am Vorabend bekommt; und das ist das Feuerwerk!“
Ja, das konnte ich nun verstehen. Dazu sagte Tante Liebtraud noch weiter: „Zu Sylvester das Bleigießen, das Gebilde hervorbringt, aus denen wir zu deuten versuchen, was die Zeit in ihrem neuen Jahr für jeden von uns besonders bereithält, das ist der Dank der Zeit für das schöne Feuerwerk, da verrät sie uns ein bisschen von dem, was sie in ihrem neuen Jahr vorhat.“
„Dann“, so fragte ich, „weiß die Zeit wohl im Voraus, was geschieht?“
„Ja, ja“, versicherte mir Tante Liebtraud, „bloß verrät sie nicht viel davon!“
Für eine Weile war ich ruhig.
Aber dann wollte ich doch wissen: „Stirbt die Zeit nie?“
Tante Liebtraud wandte sich mir wieder zu und sagte: „Nein, denn wir brauchen sie ja, denn wenn es die Zeit nicht mehr geben würde, könnte es ja auch sonst nichts mehr geben!“
Und ich fragte: „Aber wenn die alte Zeit zu Sylvester sterben würde, und aber gleich beim Knall der ersten Feuerwerksrakete die neue geboren würde – das müsste doch gehen?“
Tante Liebtraud schien für einen Moment ratlos zu sein, bis mein Vater sagte: „Ja. Eines Tages wird eine neue Zeit geboren!“
Und mir fiel ein: „Aber können wir für diese ganz neue Zeit dann auch Bleigießen machen?“
Und Tante Liebtraud versprach: „Ja. Und aus dem Blei wird dann aber Gold!“
‚Die neue Zeit‘, dachte ich mir, ‚muss also viel besser werden!‘
Und ich wartete auf ihren Geburtstag.
Ich warte noch immer; denn einmal kommt die neue, bessere Zeit, und damit ein neues, besseres Leben für uns alle, das weiß ich ja.
Als ich ein Kind war, wurde es mir versprochen.
Später habe ich auch noch manchmal daran gedacht, dass eine neue Zeit kommen müsste, in der aus grauem Blei strahlendes Gold wird.
Und heute glaube ich: Diese neue Zeit und das neue bessere Leben für uns alle kommt nicht von allein.
Wir müssen alles selber schaffen!
 



 
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