Zügel locker lassen

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Der Bus ruckelte gemächlich über die holperige Straße und in der Zwischenzeit wurden viele der anderen Urlauber bei ihren Hotels abgesetzt. Zum Schluss blieben nur noch Maya, Anni und eine fremde Frau mit kurzen, lockigen Haaren übrig.
Wie seltsam, dachte Maya. Ist die Frau etwa alleine im Urlaub? Anni und sie warfen sich fragende Blicke zu. Die Frau schien es zu bemerken, denn sie sprach die beiden an.
„Hallo ihr zwei, ich bin Gabriele. In welchem Hotel seid ihr?“ Ihre Stimme klang heiter und sie schaute den beiden offen ins Gesicht.
„Wir sind im Dawar El Omda. Ich heiße übrigens Anni und das ist Maya.“ Anni deutete erst auf sich, dann zu ihrer Linken.
„Prima, ich bin im gleichen Hotel. Seid ihr auch zum ersten Mal hier? Wenn ihr Lust habt, können wir heute Abend noch gemeinsam den Ort erkunden.“ Gabriele zwinkerte ihnen zu. Maya zuckte mit den Schultern. „Klar, warum nicht“, antwortete sie verwundert. Sie warf Anni einen skeptischen Blick zu, doch diese nickte bloß.
Die Drei vereinbarten, sich nach wenigen Minuten in der Lobby wieder zu treffen. Auf ihrem Zimmer angekommen, vertrödelten Maya und Anni jedoch viel Zeit. Auf dem Balkon stehend genossen sie eine lauwarme Brise und warfen einen Blick auf die lagunenartige Poollandschaft und das in der Ferne am Horizont glitzernde Meer. Die große Eingangshalle betraten sie leider viel zu spät. Gabriele war nirgends zu sehen, also machten sie es sich in einer orientalisch eingerichteten Nische bequem, warteten noch eine Weile vergeblich und zogen dann alleine los.
El Gouna war ein kleiner Ferienort mit einem ganz besonderen Charme. Direkt am Roten Meer gelegen, war es besonders bei Tauchern, Schnorchlern und Kite-Surfern sehr beliebt. Die vielen Wasseradern, die sich durch den Ort schlängelten und mit dem Meer verbunden waren, erinnerten die Mädchen an Venedig. Es gab überall kleine Bars, in denen Touristen wie Einheimische Wasserpfeife rauchten, und kleine Läden mit Souvenirs und einheimischen Spezialitäten. Maya und Anni schlenderten gemütlich durch die Straßen, bis zum Yachthafen und wieder zurück. Müde von der langen Reise gingen sie früh zu Bett.

Am folgenden Morgen begegneten sie Gabriele im Speisesaal. Die junge Frau war schon vor ihnen auf den Beinen und lud sie ein, bei ihr am Tisch zu sitzen.
„Na ihr beiden, eine aufregende Nacht gehabt?“ Wieder ihr Strahlen.
Anni antwortete: „Ach nö, nachdem du scheinbar schon weg warst, waren wir nur ein bisschen bummeln.“
„Ja, als ihr nicht am Treffpunkt wart, bin ich einfach schon mal losgezogen. War echt eine tolle Nacht!“ Gabriele zwinkerte ihnen frech zu. Maya und Anni beluden ihre Teller am Buffet, setzten sich und begannen gierig zu essen.
„Was hast du denn erlebt?“, wollte Anni wissen.
„Och, ich habe jemanden kennen gelernt, den Walid. Wir haben die ganze Nacht getanzt und dann gemeinsam den Sonnenaufgang am Strand genossen.“ Gabriele sah sehr zufrieden aus. Erst jetzt bemerkten die Mädchen, dass sie ein wenig zerzaust aussah und ihre Augen, obwohl leuchtend und lebendig, Müdigkeit ausstrahlten.
„Echt? Hattest du keine Angst, dass etwas passieren könnte?“, fragte Maya. „Ja genau“, nickte Anni.
„Und was hätte bitte schön passieren sollen?“, lachte Gabriele.
„Keine Ahnung. Was hättest du denn gemacht, wenn seine Freunde vorbei gekommen wären und die dich gemeinsam vergewaltigt hätten?“, entgegnete Maya schnippisch.
Gabriele gluckste. „Ach, so ein Quatsch, da waren doch überall andere Menschen. Ich hole mir noch Margarine. Braucht ihr noch etwas?“
Als sie ein außer Hörweite war, fiel Maya auf Anni ein: „Wie leichtsinnig ist die denn? Und dann lacht die mich auch noch aus!“
Anni schaute ihre Freundin unsicher an. „Ich würde so etwas auch nie machen, aber Gabriele scheint genau zu wissen, was sie tut. Und ich finde auch nicht, dass sie dich ausgelacht hat.“
Gabriele kam zurück, setzte sich, schaute die beiden an und seufzte. Sie schaute auf ihren Teller, seufzte erneut, machte noch eine dramatische Pause und sagte dann: „Ganz ehrlich, ich will euch beiden ja nicht zu nahe treten, aber ihr wirkt total verklemmt.“ Maya und Anni öffneten zeitgleich den Mund um etwas zu entgegnen, doch Gabriele schnitt ihnen das Wort ab. „Ich will euch nicht beleidigen und es liegt mir auch fern, euch vorzuschlagen, wie ihr euer Liebesleben zu führen habt. Aber ich gebe euch den dringenden Rat, euch mehr auf Menschen einzulassen.“
Maya lief rot an. Wütend sprudelten die Worte aus ihr hervor. „Was redest du da? Wieso glaubst du eigentlich uns vorschreiben zu können, was wir tun und lassen sollen?“ Dass eine Fremde ihr sagte, sie solle offener werden, empfand sie als Beleidigung. Außerdem fühlte sie sich ungerecht behandelt, schließlich kannte Gabriele sie doch gar nicht. „Und ganz nebenbei finde ich dein extrem extrovertiertes Verhalten auch nicht richtig. Ist ja toll, dass du so locker drauf bist und so, aber vielleicht solltest du zu deinem eigenen Schutz mal einen Gang runter schalten!“
Gabriele lächelte müde. „Klar, wenn ihr zwei dafür einen Gang rauf schaltet! Ich meine ja nicht, dass ihr euch sexuell mehr auf andere Menschen einlassen sollt, das müsst ihr schon selbst entscheiden. Ich meine vielmehr, dass ihr wie viele Deutsche, viel zu skeptisch gegenüber Fremden und anderen Kulturen seid. Ihr seid von Anfang an misstrauisch, anstatt die Menschen erst einmal kennen zu lernen.“ Sie wurde ernst und sprach eindringlich weiter: „Habt mehr Vertrauen, vor allem in die Menschen hier, denn sie sind alle total gastfreundlich. Dann werdet ihr feststellen, dass ihr viel mehr Spaß haben werdet.“ Kein Lächeln, kein Zwinkern. Die Mädchen waren sprachlos und fühlten sich, als hätten sie soeben eine Stunde beim Therapeuten hinter sich.
Mayas Puls raste noch immer. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und eilte wortlos aus dem Speisesaal. Anni warf Gabriele ein zerknirschtes Lächeln zu und folgte Maya. Den Rest des Tages mieden sie das Thema Gabriele wie der Teufel das Weihwasser.

Nach einem ausgiebigen Tag am Strand machten sich die jungen Frauen am Abend schick, um erneut durch den Ort zu bummeln. Im Ortskern, „Downtown“ genannt, angekommen entdeckte Anni ein Geschäft, in dem bunte Steine verkauft wurden. Sie bastelte gerne und wollte sich gerade das Schaufenster ansehen, als ein Mann aus dem Laden trat und die beiden ansprach.
„Masaa el khear!“ Und als er keine Antwort erhielt: „ You are from germany?“ Anni nickte. Maya sagte nichts. „Please come in. Ich zeigen euch Steine, viele schöne Steine.“ Er lächelte und breitete seine Hände zu einer einladenden Geste aus. „Nein danke“, sagte Anni schnell. „Only looking.“ Der Mann lächelte weiterhin, doch die Mädchen flüchteten regelrecht.
Sie betraten ein Internet-Cafe und riefen ihre Mails ab. „Schade eigentlich“, flüsterte Anni. „Was denn?“, fragte Maya. „Naja, ich wäre schon gerne in den Laden gegangen.“ „Hmm.“ „Hast du mal über Gabrieles Worte nachgedacht?“ Maya war auf der Hut: „Was meinst du?“ „Naja“, murmelte Anni, „ein wenig hat sie schon recht, meinst du nicht auch?“
Maya schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Im Ernst jetzt? Findest du etwa auch, wir sind verklemmte, kleine Spaßbremsen?“ „So hat sie das doch gar nicht gesagt.“ Anni versuchte, ihre Freundin zu beruhigen. „Ich finde, du reagierst viel zu übertrieben. Gabriele hat es doch nur gut gemeint und wollte, dass wir unsere Zügel mal ein wenig lockerer lassen. Als der Mann uns gerade angesprochen hat, haben wir instinktiv das Weite gesucht. Aber warum eigentlich?“
Maya schaute ihre Freundin verwundert an. Hatte sie etwa Recht? Hatte Gabriele Recht? Sie schwieg und auch Anni wusste nichts mehr weiter zu sagen. Als sie ein paar Minuten später das Cafe verließen, war es Maya, die das Schweigen beendete. „Na komm, dann gehen wir halt in diesen ollen Laden und lassen uns von fremden Kerlen vollquatschen. Mal sehen, was die uns alles andrehen wollen.“
Trotz Mayas schnippischem Kommentar ging Anni freudig voran. Sie betraten den Laden und Maya musste sich eingestehen, dass das Lächeln des Verkäufers echt wirkte und nicht wie das eines umsatzgeilen Verkäufers aussah, wie sie es von zu Hause kannte. Er ließ die beiden in Ruhe schauen und trat erst hinter seiner Theke hervor, als Anni ihn fragend ansah. Er kam zu ihnen hinüber, doch bevor er Annis Frage beantwortete, bot er ihnen eine Tasse Tee an. Maya klappte sogleich den Mund auf, um abzulehnen, doch Anni kam ihr zuvor. „Ja, sehr gerne.“
Der Mann verschwand hinter einem Vorhang und sie hörten ihn im Nebenraum mit Geschirr hantieren. „Na hoffentlich mischt der uns jetzt keine Drogen oder K.O.-Tropfen in den Tee“, flüsterte Maya und blickte misstrauisch auf den Vorhang. Insgeheim war sie neugierig, denn so etwas hatte sie in Deutschland noch nicht erlebt. Doch zugeben, dass ihr die Geste gefiel, wollte sie noch nicht. Als der Mann zurück kam, ein Tablett in beiden Händen haltend, sahen sie, dass die Tassen leer waren. Drei Tassen und eine handbemalte Teekanne balancierte er auf dem Tablett und stellte dieses behutsam auf der Theke ab. Erst jetzt goss er ihnen Tee ein. Und da die Mädchen sahen, dass er selbst genüsslich trank, griffen auch sie nach ihren Tassen. Der Tee schmeckte würzig aromatisch und süß zugleich.
„Gefallen euch Steine?“ Der Verkäufer sprach sehr verständlich deutsch.
„Ja, vor allem die bernsteinfarbenen Steine da hinten. Davon möchte ich ein paar kaufen“, antwortete Anni.
„Haha, hoffentlich wird dein Koffer dann nicht zu schwer.“ Mayas Laune besserte sich allmählich.
„Stimmt“, lachte Anni.
„Dieses Geschäft hat gehört meinem Vater, aber er seien gestorben vor einigen Jahren. Jetzt ich führen das Geschäft alleine und ernähren davon meine Familie.“
Maya nippte nachdenklich an ihrer Tasse. Anni nickte verständnisvoll und sah den Mann aufmerksam an, der hastig weitersprach. „Ich haben drei Töchter, aber sie noch zu jung, um im Laden zu helfen, daher meine Frau den ganzen Tag zu Hause und aufpassen. Die Älteste werden gehen in ein paar Wochen in Schule hier.“ Er trank einen ausgiebigen Schluck und Anni fragte: „Etwa auf die International School?“ „Ja, genau. Dafür ich sparen schon lange, denn Schulgebühr und Kosten für Bücher seien sehr hoch. Aber ich seien sehr stolz auf meiner Tochter, sie sehr schlau und sehr hübsch.“
Das Gespräch wurde unterbrochen, als andere Touristen das Geschäft betraten und den Verkäufer hilfesuchend anblickten. Er bedachte die Mädchen, die ihren Tee bereits ausgetrunken hatten, noch einmal mit einem warmen Lächeln und wendete sich dann den anderen Käufern zu.
Maya, die von der Offenheit des Mannes beeindruckt war, sagte: „Wollen wir ihm ein Trinkgeld geben, wenn du die Steine bezahlst?“
Anni zögerte, unsicher. „Ich weiß nicht recht, ob er es annehmen würde. Aber versuchen können wir es ja.“
Sie legte die Steine, die sich kaufen wollte, auf die Theke und die beiden warteten geduldig, bis sie wieder an der Reihe waren. Als Anni ihr Geld aus der Tasche holte, legte sie noch etwas mehr dazu und sagte mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen: „Der Rest ist für Sie, damit Sie Ihrer Tochter viele Bücher kaufen können.“
Der Verkäufer war überrascht und Maya stellte fest, dass er sogar ein wenig erschrocken aussah. Sie wollte den Mund aufmachen, wusste jedoch nicht was sie sagen sollte. Er sprach: „Das sehr nett von euch, wirklich sehr nett. Aber ich können Geld nicht annehmen. Bitte haben Verständnis.“ Diesmal wirkte sein Lächeln vorsichtig, fast schüchtern.
„Selbstverständlich.“ Anni steckte das überschüssige Geld wieder ein. „Wir sind Ihnen sehr dankbar für den Tee, Ihre Beratung und die nette Unterhaltung. Es war sehr schön bei Ihnen im Laden.“ Und auch Maya pflichtete bei: „Ja, Ihr Geschäft ist wirklich toll und es war schön, Sie kennenzulernen.“
Jetzt strahlte der Mann wieder. „Ich würden mich freuen, wenn ihr noch einmal vorbei kommen, bevor fahren nach Hause.“ Und die beiden Frauen strahlten zurück.

Sie gingen zurück ins Hotel, um die schweren Steine nicht den ganzen Abend mit sich herum tragen zu müssen. „Das war wirklich interessant. Hast du gemerkt, wie erschrocken er reagiert hat, als wir ihm Trinkgeld geben wollten?“, fragte Maya. „Ja, das war schon bemerkenswert. Viele andere hätten sofort zugeschlagen“, sagte Anni und wollte es sich gerade auf dem Bett gemütlich machen.
„Hey, aufstehen!“, rief Maya. „Wir zwei Hübschen gehen jetzt tanzen und zwar die ganze Nacht bis zum Sonnenaufgang!“
„Was ist denn in dich gefahren?“, lachte Anni.
„Nichts, ich war bloß der Ansicht, wir sollten unsere Zügel mal etwas lockerer lassen. Jedenfalls hat mir das kürzlich jemand gesagt.“ Fröhlich und ausgelassen verließen die beiden ihr Zimmer.
 



 
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