das weinen vergessen

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Anonym

Gast
Das Weinen vergessen

Sind das Tränen auf ihrem Gesicht?
Sie hebt ihre Hände und tastete. Ja, sie weint. Wie lange hatte sie nicht geweint. Ganz leise laufen die Tränen. Wie gut das tut.
Halbnackt sitzt sie auf dem alten Teppich im Wohnzimmer. Die Uhr tickt viel zu laut. Die junge Frau sieht auf den Trümmerhaufen, der eben noch ein Regal gewesen war. Scherben und Holz, alles, was davon blieb. Papier und Bücher unter sich vergraben, wie ein Mahnmal. Sie robbt hinüber, ihre Brust ist wie zugeschnürt, das Atmen tut weh. Das Hochzeitsphoto ist unbeschadet im Rahmen geblieben. Grad 18 war sie auf dem Bild, hielt ihr Baby fest im Arm und himmelte ihren frisch angetrauten Mann an. Damals war alles so leicht.

War es das? Ihre Ausbildung zur Friseurin wurde abgebrochen durch den Betrieb wegen der Schwangerschaft, also verließ sie sich ganz auf ihren Freund. Gleich als sie volljährig geworden war, wurde geheiratet und Michael mit wenigen Monaten getauft. Martin war im zweiten Gesellenjahr als Maurer alles war offen. Bald war ein zweites Kind unterwegs, dass sie zusammen aufwachsen konnten. So schenkte sie keine zwei Jahre später noch einem kleinen Jungen das Leben. Thomas war ein Schreibaby. Tags wie nachts brüllte er aus Leibeskräften. Zu der Zeit fing der werte Papa an, nach der Arbeit später heim zu kommen.
Nein, wenn sie ehrlich war, hatte das schon kurz nach der Hochzeit angefangen. Erst war es immer Montags, die Wochenbesprechung mit den Kollegen bei einem Bier in der Firma, später dann der Wochenausklang Freitags in der Kneipe am Bahnhof. Und natürlich Samstags der Dartverein. Mit Eintritt der zweiten, diesmal ja auch geplanten Schwangerschaft, wurde er wieder ruhiger, doch schon zur Halbzeit nahm er diese Aktivitäten wieder auf, ging sogar jeden Abend in die Kneipe auf zwei oder drei Bier.
Und als Thomas dann da war, wurden es auch fünf oder sechs Gläser, mit einem Kurzen dazu.

Es war Weihnachten 1996, als er das erst mal fies wurde. Michael hatte hohes Fieber und auch Thomas, ein paar Monate alt, war nicht gesund. Martin war auf schlecht Wetter zuhause und nörgelte an allem herum. Er war nicht der Typ Mann, der rumsitzen konnte, mit seinen 180cm und knappen 85 Kilo, muskulös. Doch er war auch nicht bereit, seiner Frau die Kinder abzunehmen. Mit Weiberkram gab er sich nicht ab. Mit 20 Jahren und zwei kleinen kranken Kindern und wieder schwanger, fühlte sie sich einfach überfordert. Es kam zum Streit. Martin nahm seine Jacke und ging in die Eckkneipe am Ende der Straße. Es war weit nach Mitternacht, als er schwankend wieder kam. Erschöpft hatte sie sich schlafen gelegt, als sie die Kinder im Bett hatte, den Abwasch einfach Abwasch sein lassen. Bis er sie aus dem Schlaf riss. Er nahm einfach ihren Arm und schliff sie in die Küche. Nackt und frierend wusch sie ab, wischte den Boden und schrubbte das Bad.
Es wurde nie ein Wort verloren, auch nicht, als sie das Baby verlor.

Die Tränen laufen nun heftiger. Damals hatte sie viel geweint. Bis er ihr sagte, sie solle mit der Flennerei aufhören. Mit Nachdruck, weil er sonst andere Saiten aufziehen müsste. Immerhin sollen seine Söhne nicht verweichlicht werden. Und überhaupt, ein drittes Kind wäre doch schon ganz gut.
Im Sommer war sie wieder mit Baby im Bauch unterwegs. Martin saß nun jeden Abend nach Feierabend bis spät abends in der Kneipe. Die Kinder bekamen ihren Vater kaum noch zu sehen. Thomas hatte eine Entwicklungsstörung. Er konnte seine Arme und Beine nicht altersgemäß kontrollieren. Das war Grund genug, Sonntags zum Frühschoppen zu Achim zu gehen, seinem Kollegen. Sie fühlte sich allein erziehend.

Im September setzten 12 Wochen zu früh die Wehen ein. Eine kleine Melanie wurde geboren, hatte aber keine Chance zum Leben. Mit ihrem Tod begann Martin, auch zuhause zu trinken. Jeden Abend, wenn er angetrunken heim kam, trank er noch 2 oder halbe Liter Bier. Oft wollte er dann noch Sex von ihr, und ließ keine Widerworte gelten. Als er im Mai eine Abmahnung bekam aufgrund einer Alkoholfahne, erfuhr sie, dass wieder Leben in ihr heranwuchs. Und es kam, wie es kommen musste: Im August wurde er gekündigt wegen Alkohol am Arbeitsplatz.
Er schlief jeden Morgen lange, die Kinder hatten ruhig zu sein. Sobald er Mittags aufstand, hatte das Essen auf dem Tisch zu stehen und zum Abendessen war er bereits betrunken.

Innerhalb nur weniger Wochen stieg sein Konsum beachtlich an. Als im Dezember 1998 das Baby kam, trank Martin bereits eine Flasche Weinbrand, und diverse Bier täglich.
Nein, er hatte sie nie im Krankenhaus besucht, wozu auch. Carsten war ja wieder nur ein Junge. Sie hatte ja wieder kein Mädchen mitgebracht. Als sie mit einem Taxi aus dem Krankenhaus kam, fand sie schmutzige Kinder vor, eine verwahrloste Wohnung und einen betrunkenen Mann, der gleich weiter üben wollte, für eine Tochter. Sie verweigerte sich. Es war das erste Mal, dass er wirklich zuschlug. Von da an ließ sie ihn lieber gewähren. Mittlerweile war es auch egal, ob Essen auf dem Tisch stand, Martin aß nur noch das nötigste. Hauptsache, es war wenigstens Bier da. Das Auto war mittlerweile verkauft, denn er hatte seinen Führerschein verloren. Der Psychologe hatte ihm ein ausgeprägtes Alkoholproblem bestätigt. Doch der Maurer hatte ihn nur ausgelacht.

Sie erinnert sich genau an Ostern 1999. An dem Tag hatte er sie die Treppe hinunter gestoßen, weil sie ihn eindringlich gebeten hatte, nicht wieder zu trinken. Dabei hatte sie sich den Arm gebrochen. Die Wohnung war auch gekündigt worden. Als der Gips ab war, war sie wieder schwanger. Sie hoffte inständig, es würde ein Mädchen werden, dann würde er mit dem Trinken aufhören. Alles würde wieder gut werden.
Schließlich landete sie mit einem Alkoholiker und drei kleinen Jungs in einer 3 Zimmer Wohnung. Bald würden es 4 Kinder sein, die sich ein 16qm großes Zimmer teilen würden. Bis es soweit war, steigerte der Mann wieder seinen Konsum. Nur ein Jahr nach Carsten wurde Stefan geboren. Es war das letzte Mal, dass sie weinte.

Es waren nur wenige Tage, die sie wieder Zuhause war nach der Entbindung, als er sie aus dem Haus prügelte. Sie flüchtete zu seiner Mutter. Dort hörte sie, sie sei selber schuld, was müsse sie auch immer das letzte Wort haben. Er schwor ihr, nie wieder zu trinken, und sie kam zurück.
Tatsächlich goss er allen Schnaps in den Ausguss, ging zum Arzt. Eine Woche schwitze und stank er, klagte über Krämpfe und Schmerzen, heulte, fluchte und schrie, ehe der Entzug hinüber war. Nach sechs Wochen beschloss er, er sei nicht krank, Bräuchte keine Therapie. Ein Säufer hätte das doch nie geschafft! Also konnte er sich ruhig mal ein Bier genehmigen. Oder zwei. Als das auch gut ging, erlaubte er sich im Mai, zum Hochzeitstag Sekt, eine ganze Flasche. Um ihr zu zeigen, wie gut er mit Alkohol umgehen konnte. Drei Tage später trank er einen Cola-Cognac bei Bekannten. Weitere drei tage später trank er eine halbe Flasche zu Hause. Und weitere drei Tage später schlug er ihr ein blaues Auge, weil kein Schnaps mehr da war.

Sie schleudert das Hochzeitsbild an die Wand und schreit. Tage voller Demütigungen folgten damals. Drohungen, sie und die Kinder tot zuprügeln, sollte sie abhauen wollen. Telefon gab es längst nicht mehr, und die Nachbarn hörten weg. Freunde hatten längst allen Kontakt abgebrochen. Sie verließ die Wohnung nur noch um den Müll rauszutragen. Seine Mutter hatte längst alle Einkäufe und Besorgungen übernommen. Ihr Gesicht war nur noch verschwollen und manchmal wünschte sie, er würde endlich einmal richtig zu schlagen. Doch sie hatte sich geschworen, fasste er eines der Kinder an ... würde er nicht mehr froh werden. Sie sah alt aus, ihr 25 Jahre schienen lange zurück zu liegen.
Immer wieder nahm sie sich vor zu gehen, doch sie hatte Angst. Als sie Anfang 2001 im Krankenhaus lag mit einer gebrochenen Rippe bestand sie drauf, beim Gardinen aufhängen gefallen zu sein. Nur ein halbes Jahr später war sie wieder da, mit gebrochener Nase und geplatzter Lippe. Das rechte Ohr wurde wieder angenäht. Die Ärztin sprach eindringlich mit ihr, doch innerlich hatte sie längst zugemacht.

Wieder schwor er aufzuhören, mit dem Prügeln und dem Saufen. Wieder versuchte er es ohne Therapie. Zwei oder dreimal ging er zu den Anonymen Alkoholikern, doch mit deren 12 Schritten und einer Höheren Macht kam er nicht klar. Sowas bräuchte er nicht. Mittlerweile trank er zwei Flaschen billigern Fusel, der Weinbrand sein sollte. Und natürlich seine drei oder vier Liter Bier.

Anfang November kam die Polizei, wegen Ruhestörung. Die Kinder waren bei Oma, denn sie wollten sich in Ruhe aussprechen. Es kam zum Streit, er brüllte, es flogen Tassen, er prügelte auf sie ein, trat sie mit Füssen als sie längst unten lag. Als sie auf den Hausflur flüchtete, kamen die Nachbarn, die pikiert wegsahen. Er war wie ihm Wahn und trat und schlug. Sie hielt nur noch die Hände vors Gesicht und bat, es möge vorbei sein. Irgendwann hatte er von ihr abgelassen. Sie wusste nicht, wie lange sie dort lag, nur in Unterwäsche, als die Polizei kam. Sie brachten sie ins Krankenhaus. Kein Bruch, nur Prellungen, eine Gehirnerschütterung. Die Polizei erstattete Anzeige, eine einstweilige Verfügung wurde erteilt.

Heute war er vor der Tür gestanden, betrunken, mit einer Flasche in der Hand. Sie wollte ihn nicht hinein lassen, er trat die Tür ein. Die Kinder schrien. Er schloss sie ins Zimmer ein. Sie versuchte ihn davon abzuhalten, und flog an die Wand. Es knackte in ihrer Brust, sie bekam keine Luft mehr. Er griff erneut nach ihr und schleuderte sie ins Regal. Sie sank benommen zusammen. Wieder und wieder trat er auf sie ein. Seine Arbeitsstiefel brannten auf ihrer noch nicht verheilten Haut. Er riss sie hoch und sah ihr in die Augen. Völlig irr war sein Blick, als er seine Finger um ihren Hals legte und drückte. Es wurde hell vor ihren Augen, doch er ließ von ihr ab. Wie einen Sack warf er sie zu Boden. Sie rang nach Luft und kam irgendwie in die Küche. Martin hatte den Gürtel aus der Hose gezogen und schloss das Kinderzimmer auf. Sie brüllte, die Kinder sollten laufen, als sie hörte, wie das Leder auf nackte Kinderbeine klatschte und schrille Schreie ertönten.

Wie in Trance nahm sie das große Kochmesser aus der Schublade. Sie rief nach ihm, er solle zu ihr kommen, wenn er kein feiges Schwein sei. Und er kam. Wie ein Berserker stürzte er auf sie zu. Woher sie die Kraft nahm, wusste sie nicht. Sie hob das Messer und stach zu. Einmal? Zweimal? Bis er da lag, blutend. Sie brach über ihm zusammen.

Dann war sie in die Stube gerobbt. Sie wusste nicht, wo die großen Kinder waren. Die Kleinen lagen im Bett und weinten.

Irgendwo in dem Haufen musste das Handy sein, dass sie vor ein paar Tagen gekauft hatte. Sie wählt.

„Ja, Polizei? Ich hab meinen Mann umgebracht ...“
 

noel

Mitglied
Eigentlich wollte ich nichts schreiben

Wie in Trance nahm sie das große Kochmesser aus der Schublade. Sie rief nach ihm, er solle zu ihr kommen, wenn er kein feiges Schwein sei. Und er kam. Wie ein Berserker stürzte er auf sie zu. Woher sie die Kraft nahm, wusste sie nicht. Sie hob das Messer und stach zu. Einmal? Zweimal? Bis er da lag, blutend. Sie brach über ihm zusammen.

Dann war sie in die Stube gerobbt. Sie wusste nicht, wo die großen Kinder waren. Die Kleinen lagen im Bett und weinten.

Irgendwo in dem Haufen musste das Handy sein, dass sie vor ein paar Tagen gekauft hatte. Sie wählt.
Aber jetzt doch ein paar Kleinigkeiten: "ein paar Tagen gekauft hatte. Sie wählt" Ist hier WÄHLT bewusst gewählt?
Oder sollte es doch `wählte´ heißen? Ist ein so plötzlicher Bruch in den Zeiten.

"Dann war sie in die Stube gerobbt. Sie wusste nicht, wo die großen Kinder waren. Die Kleinen lagen im Bett und weinten." Sie wusste nicht wo die .. waren... Die Kleinen lagen...
Ich weiss nicht, aber wenn ich in die Stube gerobbt komme, neben mir stehe, fühle und doch nicht, wahrnehme und doch nicht, wenn die Realität sich phantastisch zu verzerren beginnt... kann ich dann wissen, dass sie im Bett liegen.

Sie hörte die Kleinen weinen, erstickt, als würden sie sich aneinander, an ihre Kissen klammern.

So was könnte ich mir vorstellen, aber nicht diesen Satz.

Entschuldige die Mäkeleien an einem solch sensiblen Thema, aber ich denke, dass man es in diesem Forum postet, um MEinungen zu lesen.

Liebe Grüße Noel
 

noel

Mitglied
Habe noch Mal ...

den Text gelesen und festgestellt, dass es drei Stellen gibt, an denen Du die Zeiten wechselst... also wohl doch Absicht.

"Die Tränen laufen nun heftiger"

"Sie schleudert das Hochzeitsbild an die Wand und schreit."

"Irgendwo in dem Haufen musste das Handy sein, dass sie vor ein paar Tagen gekauft hatte. Sie wählt. "

Oder ???

AUf jeden Fall hat der TExt etwas in mir ausgelöst und deshalb habe ich ihn auch positiv bewertet, weil er mich hilflos macht, weil er zeigt, was aus Angst und Hilflosigkeit entstehen kann... und weil ich sie beim Lesen des Textes selber erfühle.

LieGrü Noel
 

Anonym

Gast
es beginnt in der gegenwart, sie blickt zurück, und das sie wählt, ist ja wieder die gegenwart, also absicht.

und da die kleinen ca ein und zwei jahre alt sind, kann sie wissen, wo sie sind. würd ich sagen. evtl. standen sie und rüttelten an den gitterstäben, für gewöhnlich schlafen so kleine kinder noch in gitterbetten.

in so einer situation denkt man wirr. ich weiss das. als mein ex mich zusammenschlug und der kleine es mitansehen musste, dachte ich auch nur, wo ist der kleine, dass er ihn ja nicht anfasst. egal wie sehr er auf mich eintrat.
 

noel

Mitglied
Habe doch noch ein zweiten Kommentar zu der Gegenwartsform abgegeben.
Laut meiner Zählung sind es drei Teilstücke???
Und das man es erfühlt wo sie sind... ja. Aber vielleicht würde ich dann den Ton, die Verzweiflung ausdrücken mit denen ich die Klänge der Gitterstäbe wahrnehme.

Ich finde den Text auch gelungen und ich weiss es ist ein sensibles Thema.
Aber ich möchte darum biutten genau deshalb NICHT falsch verstanden zu werden.

Noel
 

Biggi

Mitglied
Weinen vergessen

Diese Geschichte , wie sie täglich unsagbar oft überall auf der Welt geschieht hat mich sehr berührt.
Die Abschnitte habe ich nicht gezählt, aber verstanden was DU mit jedem einzelnem Wort aussagen wolltest.
Die Qual einer Seele gespürt, und die unendliche Traurigkeit nachempfunden .
Und die Frage , ob es hätte soweit kommen müssen.
Geschrieben hast Du es aus meiner Sicht , sehr gut. Aber auch ich bin nur ein Laie. Und so viel mehr steht hinter so vielen Deiner Worte.
Ich gehe davon aus ,das es einen realen Hintergrund hat ,und wünsche - hoffe für die geschundenen Seelen das sie ihren Frieden mit der Welt, aber auch neue Erkentnisse für sich und ihr Leben finden , oder gefunden haben.
 



 
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