Lieber Wilhelm,
Das Gedicht möchte eine Parabel auf die unvereinbaren Liebesbedürfnisse von Mann und Frau sein.
Der Aufbau ist ganz klassisch:
Einleitung, Konflikt/Krise, Lösung und Schluß.
Die ersten Zeilen benennen die Unzulänglichkeit, noch nicht die Katastrophe.
Ein Lieben lang ist zu kurz, zu wenig für "die" Liebe. Es gibt zu wenig Buchstaben und Hände, um diese Liebe auszudrücken, zu beweisen, zu er-halten, etc. Selbst Wünsche reichen nicht aus...
Das "Wenn" markiert den Bruch, hin zum Konflikt.
(Einschub: "schönes" Wortspiel Wachmann - Traumfrau! Aber man muss es mögen mögen...
)
Diesen Bruch erfährt der Leser (so er will), zunächst als eine Verständnisschwierigkeit: "mit dem Herzen ganz Wachmann, streichelst du" - oder "du, ganz Wachmann (zwar), streichelst mit dem Herzen"? Letzteres enthielte ja noch Empfindung für die Frau, ersteres ließe eher Gefühlskälte, Sachlichkeit, Wachsamkeit, Überlegenheit etc. assoziieren.
Dann folgt aber, mit einer (raffiniert gewollten)Irreführung verbunden, die Ernüchterung. Heißt es: "Du streichelst die Frau, bis sie kommt"? Oder doch eher: "Du streichelst, bis die Wahrheit kommt und uns nackt und bloß friert..." ?
So erfahren die Liebenden, nein, so erfährt die liebende Traum-Frau den Widerspruch zwischen ihrem auf Dauer gerichteten Traum von der Liebe und dem als "ein Lieben" mißverstandenen Akt des Streichelns (der noch nicht einmal etwas mit Zärtlichkeit zu tun haben muß), der sich nach seinem Kulminationspunkt erledigt. Dieser "Konflikt" wird aufgelöst in der Schlußerkenntnis, dass (unerfüllte) Träume wenigstens das Gemüt erwärmen.
Das entspricht dem Muster der griechischen Tragödie - und der menschlichen, um die es hier gehen mag...
Träume, lieber Wilhelm sind Wahrheiten und haben immer "dein eigenes Gesicht".
Recht herzlichen Gruß,
und vielen vielen Dank, fürs Lesen und mich Wissenlassen,
herzlich,
Venus