Das Christkind

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Eowyn

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Schnee fiel in weißen, im sterbenden Licht glitzernden, Schneeflocken vom Himmel herab. Rick nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche und starrte auf das Grab zu seinen Füßen.
Es war für ihn zu einem gewissen Ritual geworden, jedes Jahr zum gleichen Tag an das Grab zu kommen und sich zu betrinken um die Erinnerungen auszulöschen und den Schmerz zu betäuben.
Vom Schnee gedämpfte Schritte drangen an sein Ohr und es dauerte einen Moment, bevor er durch das leichte Schneetreiben – oder war es der Nebel in seinem Kopf, der ihm die Sicht verschleierte? – eine Gestalt erkennen konnte die, mit hochgezogenen Schultern und den Händen in den Manteltaschen, auf ihn zukam.
„Fröhliche Weihnachten“, sprach der Mann ihn mit freundlicher Stimme an und hob die Hand zum Gruß.
„Ich scheiß' auf Weihnachten.“, murmelte er, ohne dem Fremden weiter Beachtung zu schenken.
Er merkte wie ihm die Worte nur langsam über die Zunge, die schwer vom Alkohol war, kamen.
„Und zu dem Schluss kommst du - weil?“, fragte der Andere verwundert, der neben ihm stehen geblieben war. „Keine Freunde, Verwandte oder so, die auf dich warten, um mit dir zu feiern?“
„Weder wartet jemand auf mich, noch gibt es was zum Feiern.“
„Aha.“ Etwas ratlos streckte ihm der Fremde nach kurzem Zögern die Hand entgegen. „Ich bin übrigens Cris. Und du bist?“
„Nicht an einem Gespräch interessiert.“, gab er zurück und betrachtete stirnrunzelnd die ihm dargebotene Hand.
Schweigend standen sie eine Zeit lang nebeneinander und starrten auf das Grab hinab, bis Cris erneut zu sprechen begann. „Sich auf einem Friedhof zu betrinken dürfte jedenfalls die traurigste Variante sein, Heiligabend zu verbringen.“
„Und hab ich dich nach deiner Meinung gefragt? Weihnachten so zu verbringen ist immer noch besser, als mir den ganzen Weihnachtsstress anzutun, nur um einen geheuchelt friedlichen Abend im Kreise der, ansonsten an einem desinteressierten, Verwandtschaft zu verbringen.“, fuhr Rick ihn verärgert an.
„Ist das der Grund, weshalb du an Weihnachten die Anwesenheit der Toten den Lebenden vorziehst?“
„Das ganze Fest ist ein reines Produkt der Medien. Die Weihnachtsgans, die extrem kitschigen Weihnachtsbäume, die überfüllt geschmückten Wohnzimmer und dann diese übertriebene vorweihnachtliche Stimmung, die die Medien zu verbreiten versuchen. Die fangen ja schon im August mit der Bewerbung ihrer Ware an. Und natürlich wird vorgeschrieben, welche Geschenke man unbedingt kaufen muss, damit das Weihnachtsfest auch ja gelingt.“
„Zum Teil hast du ja Recht. Aber es ist nicht bei jedem, wie du es beschreibst. Meine Söhne sind erst vier und sechs Jahre alt. Sie glauben noch an den Weihnachtszauber. An das Christkind. Sie haben das Träumen noch nicht verlernt und ich finde das ist das Schönste. Das Leuchten der Kinderaugen in erwartungsvoller Vorfreude. Das hat seinen ganz eigenen Zauber.“
„Aber es entspricht nun einmal nicht der Realität. Die sieht deutlich anders aus und hat nichts für Träumereien übrig. Fakt ist, das Christkind ist tot.“
„Aha.“, meinte Cris, etwas unsicher, was er darauf erwidern sollte. „Wenn du das den Kindern erzählst, ist es kein Wunder, wenn die nicht mehr an das Christkind glauben. Wie kommst du denn auf so was?“
„Ich hab sie sterben sehen.“, fuhr Rick ihn aufgebracht an.
Cris bedachte den jungen Mann mit einem nachdenklichen Blick. „Was ist passiert?“
Rick spürte wie seine Wut allmählich abebbte. Er war müde. War es leid einem Mann, dem er gerade erst begegnet war, Rechenschaft ablegen zu müssen. Was für einen Grund sollte es geben, dass er gerade einem Fremden sein Herz ausschüttete? Aber vielleicht war gerade das der springende Punkt. Vielleicht brauchte es einen Fremden, um darüber sprechen zu können.
„Schön, du willst also meine Geschichte hören, ja? Erwarte aber kein Happy End. Der Illusion hatte ich mich bereits vergeblich hingegeben.“ Rick rieb die kalten Hände aneinander und überlegte kurz. „Meine Eltern sind gestorben, bevor ich überhaupt alt genug war, ihre Namen auszusprechen. Aufgewachsen bin ich dann in einem Waisenhaus. Ich habe eine ganze Menge Mist gebaut, als ich noch jünger war: Prügeleien, Ladendiebstähle, Autos geknackt. Bin aber immer mit einem blauen Auge davon gekommen.
Dann hab ich mich eines Tages mit einem Typ von der eher übleren Sorte eingelassen, Connor war sein Name. Ihm schuldete ich wegen eines fehlgeschlagenen Auftrags einen ganzen Haufen Kohle, den ich weder hatte, noch auftreiben konnte, egal wie oft er mich dazu aufforderte.
Es war kurz vor Weihnachten, ist jetzt drei Jahre her, als Connor mich wieder mal abgefangen hat. Diesmal schien er meine Ausreden jedoch nicht schlucken zu wollen. Er hat ziemlich deutlich gesagt, was passieren würde, wenn ich nicht zahle. Deadline war Heiligabend. Wir wussten beide, dass ich im Grunde schon so gut wie tot war.
Nebenbei hatte ich allerdings auch noch Sozialstunden auf der Kinderstation im Krankenhaus abzuleisten. Somit war keine Zeit, das Geld zu beschaffen. Aber dort traf ich dann sie zum Ersten Mal.“


3 Jahre zuvor…

Etwas atemlos erreichte Rick den fünften Stock, stieß die Tür zur Station auf und wurde fast von einer Duftwolke erschlagen, als ihm der Geruch von Vanille, Zimt und Lebkuchengewürz entgegenwehte. Er trat in den schummrig erleuchteten Gang und ließ die Türe hinter sich ins Schloss fallen, während er seinen Blick über die Umgebung schweifen ließ. Bunte Bilder von Nikoläusen und Tannenbäumen, die von krakeliger Kinderhand gemalt waren, zierten die Wände und bunte Engel aus Seidenpapier waren an die Fensterscheiben geklebt. Auf den Tischen, die an den Seiten des Flures aufgestellt waren, lagen Tannenzapfen und brennende Kerzen standen neben Porzellan-Schneemännern auf den Fensterbrettern und Tischen. Ein großer Tannenbaum, mit blauen und silbernen Weihnachtskugeln geschmückt, war in der Mitte der Station aufgestellt worden. Selbstgebastelter Christbaumschmuck aus bemaltem Salzteig und bunte Origami-Figuren zierten seine Zweige. Neben dem Baum waren einige gemütliche Sessel und Sofas aufgestellt, auf denen knapp zwei Dutzend Kinder in Schlafanzügen saßen, teils eingemummelt in warme Decken, in deren Augen ein erwartungsvoller Ausdruck lag. Rick konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal so viele Kinder auf einmal gesehen zu haben, die derart still und geduldig auf etwas warteten.
Das Geräusch der Tür in seinem Rücken, die abermals geöffnet wurde, weckte seine Aufmerksamkeit. Herein kam eine junge Frau die in ein weißes, bodenlanges Kleid gewandet war. Lange, goldblonde Locken fielen über ihre Schultern herab und ein paar leuchtend grüne Augen blickten ihn aus einem makellosen, elfenbeinfarbenen Gesicht heraus neugierig an. Rick stand wie angewurzelt da und war für einen Moment derart geblendet von ihrem Erscheinen, dass er keinerlei Worte über seine Lippen brachte. Sie sieht aus wie ein Engel, dachte er, während er ihr starr nachblickte, als sie mit leichtfüßigen Schritten auf die Kinder zuging.
„Christkind.“ Benommen schüttelte er den Kopf und sah sie verwirrt an. „Ich bin das Christkind.“, wiederholte sie noch einmal an ihn gewandt und zwinkerte ihm lächelnd zu.
„Oh.“, murmelte er verwirrt. Hatte er das mit dem Engel gerade laut ausgesprochen? Er hatte geglaubt, es allein in seinen Gedanken formuliert zu haben. Er spürte wie er leicht errötete.
Die folgenden Stunden vergingen wie im Traum. Nachdem sie die Kinder begrüßt und Geschenke an sie verteilt hatte, wurde er ohne viel Federlesens zwischen die Kinder auf einen Sitzsack verfrachtet um eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen.
Im Rückblick fragte er sich wie er es geschafft hatte, auch nur ein einziges Wort herauszubringen, während sie die ganze Zeit hinter ihm stand, nur wenige Zentimeter von ihm getrennt. Hätte man ihn gefragt, er hätte nie im Leben geglaubt, dass er einen Freitagnachmittag damit verbringen würde, Kindern Geschichten vorzulesen. Doch das Lächeln das die junge Frau ihm immer wieder aufmunternd zuwarf, war Lohn genug. Er fühlte, wie sein Herz immer leichter zu werden schien und als er einige Stunden später schließlich das hell erleuchtete, warme Gebäude verließ und auf die dunkle Straße hinaustrat, kam ihm der Nachmittag im Rückblick wie ein unglaublicher Traum vor. Unglaublich, aber auch unvorstellbar schön. Er war erst ein paar Meter gegangen, als ihn jemand mit schnellen Schritten einholte und die junge Frau von der Kinderstation sich zu ihm gesellte.
„Das Christkind, richtig?“ Im gleichen Moment, in dem er die Worte ausgesprochen hatte, wäre er am liebsten mit dem Kopf gegen einen Betonpfeiler gerannt.
Sie sah ihn amüsiert an. „Naja, du kannst mich auch einfach Cathy nennen.“ Er nahm ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie. „Rick. Freut mich.“ Wieder dieses Lächeln.
„Freut mich ebenfalls, Rick. Ich fand es übrigens sehr lieb, was du dort drinnen gemacht hast. Es gibt nicht viele Kerle in deinem Alter, die das freiwillig machen würden und das spricht eindeutig für deinen selbstlosen Charakter.“ Er spürte, wie er bei ihren Worten leicht errötete und wollte bereits den Irrtum aufdecken, sie kam ihm jedoch zuvor. „Ich habe noch zwei Stunden Zeit, bis ich im Altenheim sein muss um dort den Weihnachtsmarkt zu eröffnen. Hättest du nicht Lust, noch etwas mit mir essen zu gehen?“ Ihre Worte überraschten ihn, doch noch mehr überrascht war er, dass er tatsächlich einen zusammenhängenden Satz erwidern konnte.


„Wir haben jeden weiteren Abend bis Weihnachten gemeinsam verbracht. Mal bin ich mitgegangen, wenn sie als Christkind irgendwo aufgetreten ist, mal sind wir einfach gemeinsam durch den Park spaziert. Ich hab ihr schließlich doch noch erzählt, was der wahre Grund für meine Arbeit auf der Kinderstation war und anstatt mich deswegen zu verurteilen, nahm sie es ohne Wertung zur Kenntnis. Sie war der erste Mensch, der in mir nicht nur einen Kriminellen sah, sondern mich auch wertschätzte und mich so akzeptierte wie ich war. Ich habe niemals zuvor so etwas empfunden, wie ich es in ihrer Gegenwart tat. Sie war für mich ein leuchtender Stern am Himmel und zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, was es bedeutete, einen anderen Menschen zu lieben.
An Heiligabend schließlich trafen wir uns auch. Sie war gerade von ihrer Weihnachtsansprache gekommen und trug noch das weiße Gewand. Sie sah wunderschön aus. Als es dunkel wurde, begleitete ich sie noch ein Stück nach Hause. An einer Kreuzung trennten wir uns schließlich, da sie in die eine, ich in die andere Richtung gehen musste. Bevor ich wusste wie mir geschah, beugte sie sich vor und küsste mich. Ich war so glücklich in dem Moment. Das war das schönste Weihnachtsgeschenk das sie mir machen konnte. Als sie sich dann schließlich doch zum Gehen umwandte, bemerkte ich Connors Wagen, der direkt vor uns an der Kreuzung stand und uns scheinbar schon eine Weile beobachtet hatte, während er auf grün wartete. Wir sahen einander an und ich wusste, mein Leben war vorüber.
In dem Moment, in dem die Ampel auf Grün sprang, drückte er das Gaspedal durch und feuerte durch das, auf der Beifahrerseite geöffnete Fenster, seine Pistole ab. Die Kugel, die mich hätte treffen sollen, erwischte jedoch Cathy. Ich konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie zu Boden stürzte. Ihr weißes Kleid färbte sich innerhalb von wenigen Augenblicken in ein dunkles Rot, während ihr Gesicht jegliche Farbe verlor. Doch anstatt mich zu hassen, für das, was doch so offensichtlich meine Schuld gewesen war, versuchte sie mich zu beruhigen.
Und als das Geräusch sich nähernder Sirenen laut wurde, sprach sie ein letztes Mal zu mir, bevor sie für immer verstummte: 'Mein Geschenk an dich ist mein Herz. Ich liebe dich.'“


Einen Moment lang standen sie schweigend nebeneinander. Zwei Männer, die den fallenden Schneeflocken bei ihrem Tanz im Wind zusahen.
Schließlich ergriff Cris als Erster das Wort. „Es tut mir Leid. Ich glaube ich kann verstehen, wie schwer es dir gefallen sein muss, darüber zu sprechen und was Cathy dir bedeutet hat. Aber gerade diese Geschichte beweist, dass Weihnachten ein Fest der Liebe ist. Vor allem für dich. Es kommt darauf an, was du daraus machst und nicht, wie die Medien das Fest propagieren.“
Zweifelnd blickte Rick ihn an.
„Jedenfalls hätte sie nicht gewollt, dass du Weihnachten ihretwegen verabscheust. Weihnachten bedeutet im Grunde nichts weiter als Nächstenliebe, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Auch wenn einige das Fest missbrauchen, um daraus Profit zu erwirtschaften, im Grunde seines Herzens weiß es jeder: Es geht um die Liebe.“
Darauf erwiderte Rick nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Doch Cris schien keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr fort. „Weißt du eigentlich noch die Geschichte, die du den Kindern damals vorgelesen hast? In der Klinik, meine ich.“
Verwirrt zuckte Rick mit den Schultern. „Schätze wohl schon.“
Auf Cris Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Gut, dann darfst du sie heute Abend meinen Kindern erzählen.“
Rick starrte ihn perplex an. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Doch, ist es sehr wohl.“
„Keine Chance! Ich… ich… Also…“ Verzweifelt suchte er nach einer Ausrede. Schließlich hob er triumphierend die Hände. „Ich hab ja nicht einmal Geschenke.“
Das Lächeln des Anderen wurde noch breiter. „Das größte Geschenk wäre es, wenn du den heutigen Abend mit uns verbringst. Die Weihnachtsgans reicht auch für einen mehr. Und an unserem Tisch ist auch genug Platz. Du bist somit herzlich eingeladen.“ Er sah Rick aufmerksam an, der seinen Blick zweifelnd erwiderte. „Zwingen kann ich dich natürlich nicht. Nur eine Möglichkeit aufzeigen.“
Einen Augenblick lang wollte Rick noch nach weiteren Ausflüchten suchen, dann jedoch besann er sich eines Besseren. Niemand zwang ihn dazu, alleine zu sein. Und Cris hatte Recht. Cathy wäre die Letzte die sich wünschen würde, dass er Weihnachten allein verbrachte. Gerade sie, für die Weihnachten etwas Besonderes war.
Mit der rechten Hand schob Rick den Schnee von der oberen Grabsteinkante und strich über den eingravierten Namen darunter. „Cathrine Emilia Jordan, geboren 07. April 1996, gestorben 24. Dezember 2011“ war dort in den dunklen Stein eingraviert.
„Fröhliche Weihnachten, Cathy.“, murmelte er. Tränen traten ihm in den Augen, die er verzweifelt fort zu blinzeln versuchte. Dann wandte er sich ab, folgte Cris, der schon einige Schritte vorausgegangen war und im stärker werdenden Schneetreiben zu einer undefinierbaren, schwarzen Gestalt wurde.
In der Ferne erscholl das Dröhnen der Kirchenglocken.
 



 
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