Käse

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Heinrich VII

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Okay, ich muss gestehen: Auch ich bin dieser unfreiwilligen Mode vor einiger Zeit auf den Leim gegangen, die inzwischen um sich greift, als wäre sie eine ansteckende Krankheit. Am Anfang, muss ich sagen, war das gar nicht so schlecht. Morgens richtig ausschlafen, nachts die Spätfilme im Fernsehen. Nicht darum scheren müssen, welcher Tag heute ist, weil man Massen an Zeit hat. Aber dann stellte sich immer mehr das ein, was ich inzwischen Das Loch nenne. Und es wird täglich größer, zunehmend leerer und auch immer dunkler. Ich sitze jetzt schon am Küchenfenster und beobachte das Treiben auf der Straße. So wie diese Rentner, die nichts Besseres zu tun haben. Gut, man sieht so einiges: Gegenüber ist ein Friseurladen. Daneben ein Copy-Shop und eine Reinigung. Eine Billard-Kneipe schließt sich an, die mittags schon offen hat. Einen Zeitungskiosk gibt es natürlich auch. Politessen laufen herum und tun ihre, für die Stadt, lukrative Arbeit. Paketdienste und die Post tauchen mit ihren markanten Autos auf und stellen Sendungen zu. Nicht zu vergessen, die Leute vom Bundesgrenzschutz, die gerade wieder eine Runde Hubschrauber über´s Haus fliegen, um nach Terroristen Ausschau zu halten. Am Heck blinkt rotes Licht. Sie kreisen eine Weile und fliegen zurück - anscheinend sind momentan keine Bin Ladens unterwegs.
Ich bewundere all diese Leute. Sie können sich nützlich machen, kommen am Abend rechtschaffen müde nach Hause und haben den Staat bereichert, anstatt ihn Geld zu kosten. Dabei schreibe ich regelmäßig Bewerbungen mit Lebenslauf und Lichtbild und sende sie ab. Aber die Antwortschreiben, wenn überhaupt welche kommen, haben meist den gleichen oder einen ähnlichen Wortlaut: Sehr geehrter Herr Seifried, vielen Dank für Ihre Bewerbung. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns anders entschieden haben. Sie dürfen das nicht persönlich nehmen, sehr geehrter Herr … und so weiter. Fragt man telefonisch nach, weil sie einem gar nicht geantwortet haben, hört man: “Es sind so viele Bewerbungen eingegangen, dass wir nicht jede beantworten können.“ Der Zynismus in diesen Schreiben kommt immer an letzter Stelle: Wünschen wir Ihnen dennoch viel Erfolg auf Ihrem weiteren Lebensweg.

Die Sache geht noch eine ganze Weile so weiter. Ich schreibe meine Bewerbungen, fische mir die Absagen aus dem Briefkasten, sitze in der übrigen Zeit am Küchenfenster und sehe den Leuten beim Arbeiten zu. Allzu viel kann man in so einer Lage nicht anfangen. Spaziergänge in die nahe Umgebung. Gelegentlich schwarz mit der S-Bahn in die Stadtmitte, wo es ein Billig-Kino gibt. Nicht weit davon gibt es auch eine Kneipe in der hin und wieder Livemusik gespielt wird. Dort erlassen sie mir den Eintritt, weil sie mich kennen und wissen, dass ich kein Geld habe. Da kann ich, bei zwei kleinen Bier, den ganzen Abend rumhängen und Musik hören. Alles in allem unternimmt man Dinge, die wenig oder gar nichts kosten. Wer Zeit hat, hat gewöhnlich kein Geld. Und wer Geld hat, hat meist keine Zeit.

An einem der folgenden Tage, liegt ein anderer Brief als die üblichen im Kasten. Amtliches grau mit offizieller Beschriftung. Der erste Eindruck täuscht nicht, ein Brief vom Arbeitsamt. Agentur für Arbeit, wie das jetzt heißt, als würde sich dadurch etwas ändern. Auf der Treppe nach oben bereits, reiße ich ihn auf und entnehme das Schreiben. Vielleicht wieder so eine Einladung vom Arbeitsvermittler. Damit er ein bisschen an mir herum kritteln und anschließend vermerken kann, dass er ein Beratungsgespräch geführt hat. Oder ich muss wieder zu einer dieser Schulungen, wo man mit Hurra-Geschrei „höchst wirksame“ Bewerbungen schreiben lernt und sie dann massenhaft abschickt. Als würde die Wirtschaft davon gesünder werden und als läge es nur daran, dass wir uns bisher nicht richtig beworben haben. „TSCHAKKA, DU SCHAFFST ES!“ Vier Wochen lang geht das so, dann ist der Kurs zu ende und alles ist wieder beim Alten.
Ich bin von den Socken, als ich das überfliege: Sehr geehrter Herr Seifried, es freut uns, dass wir Ihnen eine Stelle anbieten können. Melden Sie sich bitte umgehend in der Fabrik Tillmer & Söhne und bewerben Sie sich als Produktionshelfer. Ansprechpartner ist Herr ..., Telefon … Wir weisen Sie darauf hin, dass sie die Pflicht haben, nach Paragraph …, unverzüglich einen Termin zu vereinbaren und sich vorzustellen. Informieren Sie uns bitte umgehend über das Ergebnis. Mit freundlichem Gruß: Ihre Agentur für Arbeit.
Ist das zu fassen? Ich konnte es kaum glauben? Weihnachten und Ostern sind auf einen Tag gefallen. Ich handle sofort und rufe bei besagter Firma an.
Eine Sekretärin gibt mir einen Termin für den nächsten Morgen, 9 Uhr 30: „Und seien Sie bitte pünktlich!“
„Das werde ich, versprochen.“ Ich hätte ihr fast einen Kuss in die Hörmuschel gehaucht.
Als nächstes ziehe ich mir die Schuhe an und laufe rüber zum S-Bahnhof, um die Abfahrtszeiten in Erfahrung zu bringen. Die Fabrik ist im übernächsten Ort, vier Stationen. Als alles notiert ist, laufe ich wieder nach Hause und mache mir einen Tee. Dabei muss ich mich schwer beherrschen, um nicht vor Freude an die Decke zu springen.

Am nächsten Morgen schabe ich mir die Stoppeln aus dem Gesicht, putze mir die Zähne und ziehe mir eine frische Unterhose an. Bevor ich mich ankleide stehe ich einen Moment vor dem Spiegel des Schlafzimmerschrankes und betrachte mich: Dünn, aber starke Oberarme. Spaßeshalber spanne ich den Bizeps an. Das ist noch aus der Zeit als ich Spediteur war - da wurde richtig gearbeitet.
Als nächstes sitze ich in der Bahn, die um 8 Uhr 50 abfährt. Um 9 Uhr 15 bereits, bin ich in der Nähe der Fabrik und laufe die letzten Meter in Richtung Heinold Straße 175 zu Fuß. Als ich mich in Höhe der Nummer 119 befinde, steigt mir ein penetranter Geruch in die Nase und weckt Vorahnungen. Kurze Zeit später stehe ich vor dem Gebäude: Käsefabrik Tillmer & Söhne. Das ist also der Haken bei der Sache. Stinkt ja richtig schön; das haben sie mir nicht gesagt. Wenn ich da eine Weile arbeite, werde ich vermutlich auch so riechen. Aber Job ist Job. Wenn man gerade das 49. Lebensjahr vollendet hat und wegen Arbeitsmangel bei seiner vorherigen Firma gekündigt wurde, hat man keine Wahl. Es sei denn, man will arbeitslos bleiben. „Aber Jens“, sage ich jedes mal zu mir selbst, „das willst du doch nicht.“
Ich eile die Stufen hoch und komme zu einem Schild mit der Aufschrift: Anmelden, bitte im zweiten Stock, Zimmer 13. Okay! Ich haste noch zwei Treppen höher, im zweiten Stock dann durch den Flur bis zur Tür mit der Nummer 13. Als sich meine Atmung etwas beruhigt hat, streiche ich mit beiden Händen meine Haare nach hinten und klopfe: „Herein!“
Nachdem ich eingetreten bin, meinen Namen gesagt und mein Begehren vorgetragen habe, nimmt der Mann das Schreiben vom Arbeitsamt entgegen. Er fordert mich auf Platz zu nehmen. Dann setzt er sich eine Brille auf, nimmt das Blatt vor die Nase und liest. Als er fertig gelesen hat, muss er erst mal lachen. „Die sind wohl nicht auf dem neuesten Stand beim Amt.“
Er gibt mir das Blatt postwendend zurück. „Die Stelle ist bereits vor Wochen besetzt worden.“
„Wie bitte?“ Ich fühle mich plötzlich wie Ikarus, dessen aufstrebender Mut ihn viel zu hoch und zu nah an die Sonne hat kommen lassen. Ich merke wie mir die Flügel schmelzen und ich nach unten stürze. Ich war versucht zu fragen, warum mir die Sekretärin das nicht gleich am Telefon gesagt hat. Aber vermutlich wusste sie es nicht oder hat etwas verwechselt oder ist nur halbtags beschäftigt oder so was.

Ich fahre zurück nach Hause, mache mir ein Bier auf und setze mich ans Küchenfenster, um mir die Leute unten auf der Straße anzusehen. Mein Blick fällt auf das große Schaufenster des Friseurladens gegenüber: Conny´ s Haarwerkstatt steht in großen Lettern auf dem Schaufenster. Ein Mann geht rein und kommt nach einer Weile wieder raus. Seine Locken sind ab - er trägt jetzt Bürste. Ich muss grinsen und denke: Ja, diese Friseure gehen heute Abend zufrieden nach Hause zu ihren Lieben. Sie haben etwas geleistet und können sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft fühlen. Und ich? Habe mir wieder eine Absage eingefangen, Käse, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich hole das letzte angebrochene Bier aus dem von Lebensmitteln leer gefegten Kühlschrank, schnappe mir eine aufgerissene Tüte mit alten, geschmacklosen Chips, die auf dem Tisch liegt und setze mich vor den Fernseher. Im Zweiten gibt es eine Diskussion über Arbeitslosigkeit in Deutschland. Leute aus Politik und Wirtschaft diskutieren in einer Runde. Eine betroffene Arbeitslose ist auch dabei. Kleinlaut schildert sie ihre Erfahrungen mit Amt und Leben. Sie hat ein Kind und die Stütze reicht weder hinten noch vorne. Außer quälenden Vorschriften und schikanösen Auflagen, schildert sie, habe man ansonsten keine adäquaten Arbeits-Vorschläge, geschweige denn tatsächlich einen Job. Ich fühle mit ihr und bin froh, dass ich wenigstens nicht verheiratet bin und Kinder habe. Die gut versorgten Leute aus Politik und Wirtschaft antworten, dass man sich nur weiter bemühen müsse und Bewerbungen schreiben: „Nicht aufgeben, irgendwann klappt es schon.“
An der Stelle werde ich dann doch spontan und werfe die leere Bierflasche an die Wand. Sie prallt ab, klatscht auf den harten Boden und hinter lässt ein Scherbenmeer. „Einfach nur weiter bewerben“, murmle ich wie ein Mantra vor mich hin, „einfach nur weiter bewerben.“

Später kommt mir die Idee: Klar – wenn es mit Käse nicht geht, klappt es vielleicht mit Wurst. Ich bewerbe mich in einer Wurstfabrik. Dieser Gedanke gibt mir neuen Auftrieb und Hoffnung. Wobei anzumerken wäre, dass im Kühlschrank noch diverse Kümmerlinge und andere scharfe Tröpfchen gebunkert waren, die inzwischen als leere Fläschchen vor mir auf dem Tisch stehen -
 
Zuletzt bearbeitet:

Matula

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Lebhaft und lebensnah ... man wünscht sich, dass Herr Seifried die Heimreise unterbricht, um in der Arbeitsagentur einen Tobsuchtsanfall hinzulegen !

Schöne Grüße,
Matula
 

Lord Nelson

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Sehr anschaulich und glaubwürdig. Fehlt nur noch die rüde Reaktion der "Agentur für Arbeit", falls nicht umgehend eine Rückmeldung über dieses ärgerliche Bewerbungsgespräch erfolgt.
 

Sandra Z.

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Diese Achterbahn der Gefühle kann ich sehr gut nachvollziehen, war selbst auch schon in dieser Situation. Man versucht einfach, das Beste draus zu machen, aber das gelingt nicht jedem.... sehr gut beschrieben!
 

petrasmiles

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Sehr gut geschrieben, keine Klischees, sondern das pralle Leben!
Wer Zeit hat, hat gewöhnlich kein Geld. Und wer Geld hat, hat meist keine Zeit.
Das ist eine wichtige Aussage, aber am wichtigsten die, welchen Wert dieses Selbstbild eines 'vollwertigen Mitglieds der Gemeinschaft' für einen hat und welche Kraft es kostet, nicht an sich selbst zu zweifeln, und 'die Schuld' bei den anderen zu suchen. Es ist ja meist keine Frage von Schuld.
Trotz der Schnäpse aber ein hoffnungsvolles Ende.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Wer nicht?
Das ist doch eher die Ausnahme. Auf jeden Fall lernt man einen Teil von sich kennen, der anderen verborgen bleibt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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