Großvater

4,00 Stern(e) 5 Bewertungen
Jeder, der ihn kannte, war sicher, dass mein Großvater hundert Jahre alt werden würde. Ich kannte ihn mein Leben lang als Fast-Hundertjährigen, es schien nur eine Frage der Zeit. Aber er starb mit 97, als der Fast-Hundertjährige, als den ich ihn fünfzehn Jahre lang gekannt hatte.
Mich lernte mein Großvater kennen, als ich acht war und er 82 und der Grundlagenvertrag Geschichte machte. Zuvor kannte ich von ihm nur das Gesicht mit der Hornbrille und den stachligen Augenbrauen vom Foto auf dem Schreibtisch meines Vaters. Neben ihm eine Frau mit streng gescheiteltem Haar, der ein gestärkter Kragen in den faltigen Hals schnitt. Das war meine Großmutter, die lange vor meiner Geburt gestorben war.

Dann kannten wir von Großvater die Pakete. Jeden Monat kam eins. Und verlässlich enthielt es jeden Monat ein Pfund Kaffee, ein Kilo Zucker, ein Kilo Mehl, Reis, ein Paket Waschpulver, ein Stück Lux-Seife, eine Dose Kondensmilch, Nudeln, drei Zwirnrollen in variierenden Farben und zwei Tafeln Schokolade: Vollmilch und Nuss. Außerplanmäßig schickte er – entsprechend den sich verändernden Versorgungsengpässen - auch Karotten, Apfelsinen, Bananen, Äpfel, Windeln oder Kinderbettwäsche, zu Ostern Bälle und Springseile, zu Weihnachten eine Puppe für mich und eine Laubsäge für Tilman. Jedes Stück war einzeln in dünnes graues Papier eingewickelt und großzügig mit breitem Tesa-Streifen verklebt. Über allem schwebte der unnachahmliche Duft „Westpaket“. Obenauf lag ein Blatt Papier in feiner Sütterlin-Schrift mit der sich monatlich wiederholenden Inhaltsangabe. Darauf legte Großvater wert, denn er traute den Grenzbeamten der DDR zu, dass sie sich als Entschädigung für ihre Mühe bei der Fahndung nach staatsfeindlichen Schriften ein Stück Lux-Seife oder eine Milka unter den Nagel reißen würden. Meine Mutter verzog die Mundwinkel, wenn sie Mehl und Zucker in den Küchenschrank räumte, der Krieg ist ja nun schon ne Weile vorbei, sagte sie, was mich eine Zeitlang glauben ließ, Mehl sei eine Speise, die man nur im Krieg zu sich nähme.

Als Großvater mit 82 zum ersten Mal nach dem Mauerbau in die DDR kam, reiste er in einem Auto, das er „mein Goggomobil“ nannte. Tilman und ich standen staunend vor dem kleinen runden Gefährt und schauten interessiert zu, wie Großvater bedächtig die Selbstmördertür öffnete und umständlich heraus kroch. Ein weißhaariger kleiner Mann mit geraden Schultern, der keine Zeit verlor. Komm Bub, sagte er in den Kofferraum, hilf mir mal was anfassen. Danach kam er in jedem Jahr für zehn Tage, bis er mit 92 Jahren befand, die Reise von Stuttgart ins Thüringische werde beschwerlich für das Goggomobil. Von da an kam er mit der Bahn, über die er schimpfte.

Wenn Großvater kam, musste ich ein Kleid oder einen Rock anziehen, was ich hasste, aber Vater sagte, der Opa sieht das gern. Meine Haare wurden in einer lächerlichen Flechtfrisur um meinen Kopf gewunden, bei der es überall ziepte, wenn ich den Kopf bewegte. Mein Vater, der hochgeachtete Pfarrer unseres Ortes, wurde, wenn Großvater kam, wieder zum Kind. Er nannte Großvater Papa und ließ ihn das Tischgebet sprechen. Großvater segnete gern und viel, morgens den Tag, vor dem Schlafengehen die Nacht, das Essen, die Arbeit, die Kranken, die Abwesenden, die Entscheidungen der Politiker. Ich sah verwundert, dass mein Vater widerspruchslos den Kopf neigte.

In seinem Gepäck führte Großvater stets einen handlichen Werkzeugkasten. Sobald er bei uns angekommen war, ein Glas Milch getrunken und ein Gebet gesprochen hatte, zog er sich den verwaschenen Arbeitskittel meines Vaters über und ging auf die Suche. Er strich den Zaun des Vorgartens grün und versah die Tür des Plumpsklos im Garten mit einem neuen Schloss, damit man beim Sitzen nicht mehr die Tür von innen festhalten musste. Er nagelte Dachpappe auf die Hundehütte und zog die Schrauben der lahmenden Küchenschranktüren fest. Meiner Mutter waren diese Aktivitäten peinlich, muss denn der Opa aus dem Westen kommen, um hier Schrauben festzuziehen, grummelte sie und verschwand aus der Küche, bis Großvater mit seinem Werkzeugkasten ins nächste Zimmer weiter zog, um dort nach lockeren Stuhlbeinen zu fahnden.

Wenn Großvater nicht handwerkelte, band er sich eine Schürze meiner Mutter um den Bauch und hantierte in der Küche. Das Haus duftete dann nach Hefezopf und anderen schwäbischen Spezialitäten, denn vor dem Ersten Weltkrieg hatte er Bäcker gelernt. Bei all diesen Tätigkeiten nahm mein Großvater gern meinen Bruder oder mich oder uns beide mit. Wir reichten ihm Nägel und Schrauben und Eier und Hefe und mühten uns, nicht allzu ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Großvater war sehr fromm und er erzählte jede Geschichte aus seinem Leben als christlich-erbauliches Lehrstück oder wundersame, selbst für zehnjährige Ohren absolut unglaubliche Märchen. Wir giggelten verstohlen hinter seinem Rücken, aber mehr wagten wir nie, auch mit fast neunzig konnte Großvater noch sehr schmerzhaft ungläubige Ohren langziehen.

Seine favorisierte Geschichte war die von dem Engel. Zwei Mal wurde Großvater an der Westfront schwer verletzt. Beim ersten Mal, als 18jähriger, wurde er dafür mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse belohnt. Beim zweiten Mal mit einer unvergesslichen Begegnung, die sein ganzes Leben prägte. Er war 20 Jahre alt, als an der Marne die Kugel eines Hotchkiss M 1909 in seine Brust einschlug. Großvater kam ins Lazarett. Und jede Nacht, er wandte sich zu uns um und hielt den Schraubenzieher in die Höhe, jede Nacht, wenn es dunkel wurde, kam an mein Bett ein Engel und streichelte über meinen Verband, hier, er strich sich über die linke Brust, genau über die Wundstelle streichelte er, bis es Morgen wurde. Er drehte sich wieder der Schranktür zu, sonst hätte ich das nicht überlebt. Tilman und ich sahen einander an, wir zogen die Augenbrauen hoch, Wunder und Engel waren unseren protestantischen Gemütern sehr fremd.

Vordem muss Großvater eher eine verlorene Seele gewesen sein. Als Bäckergeselle wanderte er von Konstanz bis Karlsruhe und Würzburg, verbrachte die Sonntage beim Kartenspielen mit fröhlichen Trinkgesellen des Turnvereins im Wirtshaus statt in der Kirche und vernachlässigte die in der Familie gängige tägliche Bibellektüre und stille Einkehr. Den Versuchen seiner drei älteren Brüder Wilhelm, Rudolf und Johannes, ihn zur Umkehr zu bewegen, hatte er bisher hartnäckig widerstanden. „Aber“, sagte Großvater und seine Augen glitzerten, „vor Gott kann man nicht nach Konschtanz davonlaufen.“
Als er genesen und in Frankreich ein Kapitulationsabkommen unterzeichnet war, kapitulierte auch Großvater. Er trat der Liebenzeller Mission bei und beschloss, sein Leben ganz dem Herrn zu schenken. Von nun an wanderte er mit der Zeltmission durch die von Hunger, Grippe, Inflation und Nachkriegselend gebeutelten süddeutschen Städte. Bald zeigte sich seine Begabung als Prediger. Er erzählte in Ulm von seiner Engelsbegegnung, wetterte in Pforzheim gegen Alkohol und gegen Kartenspiele und half in Schaffhausen seinem älteren Bruder bei der Eröffnung des ersten alkoholfreien Gasthauses. Großvater verschmähte es, zum Arzt zu gehen und bis an sein Lebensende hat er nie einen Kinosaal betreten, seinen Unterhalt bestritt er von dem kargen Gehalt, dass die Mission dem Prediger aus Spendenmitteln zahlte.
Großvater war dreißig Jahre alt, als er dem zweiten großen Wunder seines Lebens begegnete: Alwine. Er war nicht mehr bei der Zeltmission, sondern Prediger für den Kreis Böblingen. Mit dem Fahrrad befuhr er den großen Gemeindekreis, hielt Bibelstunden, Mädchenkreise, Männerkreise, Frauenkreise, Gebetskreise, Jugendfreizeiten, besuchte kranke und ermahnte nachlässige Gemeindemitglieder. Es sei an der Zeit, ermahnten ihn seine Brüder, zu heiraten, für einen alleinstehenden Mann in seinem Alter zieme es sich nicht, einen Mädchenkreis zu leiten.

27 Mädchen im Mädchenkreise, Großvater hob wieder bedeutungsvoll seine Hand, in der er diesmal einen Schneebesen hielt, 27 Mädchen, wie sollte ich wissen, welche von ihnen der Herr für mich bestimmt hatte? Das fand ich auch interessant. 27 Mädchen, natürlich, durch den Krieg und so gab es wenig Männer, aber ob die alle auf Großvater standen? Großvater ging sie gern alle noch einmal mit uns durch und ließ uns dabei die Teigschüssel auslecken: Sollte er Emma nehmen, die so herzerwärmend lachen konnte. Aber Emma, die hätte ich aus Mitleid geheiratet. Warum das, Opa? fragte Til und schleckte gierig. Emma, erzählte Großvater, hatte zu Hause kein schönes Leben, ihr Vater interessierte sich für nichts als die neuen amerikanischen Tänze, Stepp und Swing und Charleston, und Emma musste sie mit ihrem Vater üben. Sie hätte heraus gemusst aus diesem gottlosen Dasein, das ihr aufgezwungen wurde. Aber so sucht man eine Frau nicht aus. Dann war da Irmela, sanft und blond und Hauswirtschaftsschülerin, Sophie, die kesse Fragen stellte und vor der Großvater ein wenig Furcht hatte, Anna mit der schönen Sopranstimme, Nelly, die Bruder und Vater im Krieg verloren hatte, Marie, Angelika, eine weitere Angelika, Elisabeth… Großvater heiratete nicht aus Mitleid. Er heiratete Alwine, Bürogehilfin, klug und willensstark und mit einer Mitgift ausgestattet, die einen Prediger mit schmalem Geldbeutel ruhiger schlafen ließ. Eine Mitgift dieses Ausmaßes durfte er als Missionsprediger eigentlich nicht besitzen, also blieb sie in Alwines Familie und man erinnerte sich ihrer nur, wenn die Not groß war.
Für Alwine bedeutete die Ehe mit dem Prediger der Liebenzeller Mission ein sozialer Abstieg. Sie, die Tochter eines Ingenieurs, die als Kind von ihrem Vater mit dem neuesten mechanischem Spielzeug beschenkt worden war, musste nun jeglichem modernen Tand abzuschwören. Kein Theater, kein Kino, kein Tanzabend mehr, kein Buch, das nicht von Gott und Engeln und Wundern erzählte, keine Lieder, die nicht im Missionsgesangbuch standen… Wurde der Prediger versetzt, musste sie widerspruchslos ihrem Mann folgen. „Und bald,“ so sagte Großvater dann immer, „werde ich meiner lieben Alwine folgen.“

Zwölf Jahre lang lebten die beiden miteinander, mein Vater wurde geboren, meine Onkel, das erste Töchterchen Hanna, und als die kleine Erika kam, wurde mein Großvater wieder Soldat. Von den Nazis hatte Großvater nie viel gehalten, sie waren ihm zu laut und sie spotteten über Gott. Dass die Deutschen, ihre Treue, ihre Sauberkeit, ihre Vaterlandsliebe etwas Besonderes waren, darin stimmte er mit ihnen überein, auch darin, dass die Juden eine Frage waren. Als aber mein Vater am Tag nach dem 9. November 38 nach Hause kam, in der Faust eine Handvoll Buntstifte, die er zwischen den Scherben des Schaufenster vom Schreibwarenladen Herz aufgelesen hatte, da ohrfeigte ihn mein Großvater und trug ihm auf, das Gestohlene unverzüglich und mit persönlicher Entschuldigung dem Besitzer zurückzubringen.
Ich habe nie die mir respektlos erscheinende Frage nach Großvaters Erlebnissen in seinem Zweiten Krieg gewagt. Er selbst sprach nie darüber, niemals, auch nicht mit meinem Vater, den ich später danach gefragt habe. Wir wissen, dass er drei Jahre in Polen war, was er dort getan hat, das wissen wir nicht. Von Engeln erzählte er nichts, und es scheint verwegen zu hoffen, er könne selbst für manchen zu einem solchen geworden sein. 1942 kam Großvater zum Grenzzollschutz in Friedrichshafen. Von seinem dreijährigen Dienst dort ist nichts weiter überliefert als die Legende, dass Großvater während der Luftalarme im Keller saß und zwischen ängstlichen und entnervten Menschen laut und anhaltend betete. Als Großvater zu seiner Familie zurückkehren durfte, hatte er sechs Jahre versäumt. Sechs Jahre mit Alwine und sechs Jahre, in denen seine Söhne zu Luftwaffenhelfern, seine Töchter zu eigenwilligen Mädchen herangewachsen waren.

Großvater nahm seinen Predigerdienst wieder auf. Die Mission schickte die Familie nach Dagersheim, einen winzigen Ort mit Blick auf die Schwäbische Alb, zu der ein großer Landkreis gehörte. Wieder fuhr Großvater mit dem Rad durch ein vom Krieg und Hunger erschöpftes Land. Aber er war nicht mehr der hoffnungsvolle Zwanzigjährige, er war neunundvierzig Jahre alt und allein Gott schien groß genug, um das grandiose Unverständnis für das, was er gesehen, erlebt und vielleicht getan hatte, zu teilen. Großvater war zwei Weltkriegen entronnen, dem nun einsetzenden Kleinkrieg zu Hause war er nicht gewachsen. Er hatte schon immer seine Kinder geprügelt, keineswegs nur die Jungs, und nichts hatte ihm Anlass gegeben, das zu hinterfragen. Dass seine eigenen Kinder nach allem, was er durchgemacht hatte, begannen, an ihm zu zweifeln, machte ihn hart. Er reagierte, wie sein Land reagiert hatte, als es begriff, das es verlieren würde: Er schlug immer schlimmer um sich. Mein Vater, der Älteste, der seine Klassenkameraden an der Flakkanone hatte verbrennen sehen, verschwand, sobald er aus der Kriegsgefangenschaft zurück kam, und vergrub sich ins Studium. Meine Onkel mussten bleiben. Sie wehrten sich gegen den plötzlich wieder aufgetauchten Hausherrn und seine harten Knöchel, die auf der Tischplatte ebenso wie auf ihren Schädeldecken schmerzten. Am schlimmsten war es mit Hanna, seinem kleinen Mädchen. Mein Großvater hat wohl nie eine Ahnung gehabt, wie man mit Frauen umgeht, und die Widerspenstigkeit dieses ihm fremd gewordenen Teenagers ließ seinen ganzen Jähzorn jung werden. Hanna flüchtete, so früh sie konnte. Mit vierzehn Jahren ging sie zu Verwandten nach Zürich und wurde Hauswirtschaftschülerin. Vor ihrer Abfahrt ließ sie sich am Stuttgarter Bahnhof im Friseursalon Häberle die Haare abschneiden, den ganzen langen Zopf von Selbstkasteiung und altbackener Demut. Großvater erlaubte nicht, dass sie wieder ins Dorf zurück kam, selbst dann nicht, als er mit Alwine und den anderen Kindern das 25jährige Hochzeitsjubiläum feierte. Die Schande einer Tochter mit gottloser Berliner Haarmode konnte er, so schrieb er, nach allem, was sie erlitten hätten, weder Alwine noch sich selbst antun.
Acht Jahre nach dem Krieg entstand das letzte gemeinsame Familienfoto. Mein Großvater und meine Großmutter in der Mitte, umringt von drei jungen Männern, mein Vater, die beiden Onkel, die sich alle sehr ähnlich sehen, und von den jungen Mädchen Hanna und Erika, die unterschiedlicher nicht sein können. Hanna anmutig, mit trotzig hochgerecktem Kinn, Erika demütig, wie fast alle Frauen auf fast allen dieser Familienfotos. Dann ging die Familie auseinander. Mein Vater als Pfarrer in die DDR. Er sah seine Mutter nie wieder. Erst als sie acht Jahre nach dem Mauerbau starb, durfte er nach Dagersheim fahren und sie beerdigen. Hanna bestieg in Hamburg einen Dampfer und verließ ihn drei Wochen später in Montreal. Erika und der zweitälteste gingen in die Schweiz, nur ein Sohn blieb in der Nähe.
Großvater war nun mit Alwine allein. Niemand hat mir viel darüber erzählen können, wie diese Jahre waren. Alwine bekam Parkinson, fast täglich ging es ihr schlechter. Großvater erinnerte sich der vor dem Krieg erlernten Fähigkeiten, er begann wieder zu backen, erlernte das Kochen, verrichtete Näharbeiten und pflegte Alwine, bald rund um die Uhr. Für sie erwarb er das Goggomobil, er selbst bewegte sich weiterhin fast nur auf dem Fahrrad fort.
Er packte Päckchen für den Sohn in der DDR und den in der Schweiz und gratulierte Hanna in Kanada zähneknirschend zu der, wie ihm schien, unüberlegten Heirat mit einem hergelaufenen Hilfsarbeiter. Er schrieb lange Briefe an Missionare in China und Papua-Neuguinea, er führte seelsorgerische Gespräche und kümmert sich um seine Jungmännner-, Frauen und Gebetskreise.
Als er 78 Jahre alt war und Alwine schon einige Jahre tot, verkaufte Großvater die paar Morgen Land, die seine Frau mit in die Ehe gebracht hatte. In einem Böblinger Reisebüro erstand er ein Flugticket nach Toronto und flog vier Monate später zu Hanna an den Ontario-See. Er umarmte die schon fast erwachsenen Enkel und bei einem Spaziergang an den Niagarafällen, die so laut waren, dass Gottes Stimme unüberhörbar wurde, bat er Hanna um Verzeihung. Dann fuhr er mit ihr hinauf auf den X Tower in Toronto, sah die Möwen über dem See schaukeln und flog versöhnt mit Hanna und mit sich zurück. Fast unmerklich war er alt geworden, zu dem Fast-Hundertjährigen, als den ich ihn kennenlernte, der sich nur zum Essen, zum Beten und zur täglichen Bibellektüre setzte.

Es war seltsam, Großvater das erste Mal zu besuchen. Bisher hatten wir ihn erwartet, am Bahnhof oder vor dem Haus, er war aus der großen, uns verschlossenen Welt gekommen und dorthin wieder zurückgekehrt. Nun stand er am Bahnsteig und erwartete mich, mit seinen geraden Schultern in dem für den kleinen Mann schwer erscheinenden Lodenmantel. Zum ersten Mal sah ich, wo Großvater seit fast dreißig Jahren gelebt hatte. Er wohnte in einer kleinen Wohnung im Gemeinschaftshaus der Mission, ständig klingelte es, alte und junge Leute kamen. Einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag machte sich Großvater mit dem Fahrrad auf und „machte Besuche“, wie er sagte. Wenn er zurückkam, erzählte er von der schwerkranken Frau Hägele im Nachbardorf, von dem vereinsamten Asylbewerber Rashid aus dem Iran, von Herrn Wagner, dessen Sohn seit drei Jahren im Gefängnis saß.
Ich fuhr oft von Tübingen aus, wo ich studierte, zu ihm, aber lange hielt ich es bei Großvater nie aus. Ich machte einfach zu viel falsch, zu vieles, was ich aus meinem neuen Leben erzählte, provozierte ihn zu Predigten: dass ich mit fremden jungen Leuten in einem Haus wohnte, dass ich einen Freund hatte, dass ich keine Röcke mehr trug, wenn ich zu ihm kam, dass ich gern tanzen ging und mein Geld ins Kino trug, dass ich über Kohl spottete und Spuren von Lippenstift an mir zu erkennen waren. Wenn ich wieder fuhr, segnete er mich. Dann stieg er auf sein Fahrrad, ich geh noch einen Besuch machen, sagte er, und, denk daran, das Leben ist Geschenk Gottes genug. Alles andere ist ein Extra.
 
Hallo Christiane,
ich hielt zu Anfang Deinen Großvater für einen Supertyp, mit dem Kuchenbacken und dem Päckchenschicken, bis zu der Stelle, an der Du darüber schreibst, dass er jahrelang seine Kinder schwer verprügelt hat.
Bei sowas werde ich automatisch hellhörig, denn ich selbst bin jahrelang von meiner alleinerziehenden Mutter, einer Lehrerin, geprügelt worden. Wie kann es sein, dass jemand wie Dein Großvater, der sich vor Heiligkeit fast ins Bein beißt, so etwas macht? Was ging wirklich in ihm vor?

Die Schilderungen erinnern mich an den Film von Ingmar Bergmann "Fanny und Alexander". Auch hier zeigt der Stiefvater, ein Pfarrer, sadistische Verhaltensweisen gegenüber den Kindern. Wie geht sowas überein mit der christlichen Ethik, die ja Mildtätigkeit und Verzeihen beinhaltet, dieser beiden Männer? Ich habe solchen Heiligen nie getraut. Dein Großvater muss ein schwer gespaltener Mann gewesen sein.
Gruß Friedrichshainerin
 
In jüngerer Zeit hier selten einen Text mit so viel Substanz gelesen. So viele Details über jene lange zurückliegenden Zeiten ... Diese Brüche in ihnen und wie mit ihnen umgegangen wurde, höchst wissenswert. Auch der Stil war durchgehend nach meinem Geschmack.

Was die körperlichen Züchtigungen angeht, so würde ich sie eher unter zeittypisch als unter individuell persönlich bezeichnend einordnen.

Gruß an Christiane
Arno Abendschön
 
Vielen Dank für euer aufmerksames Lesen meines doch eher langen Textes!

Was den Großvater in seiner Gespaltenheit angeht, @Friedrichshainerin - da gebe ich dir absolut recht. Nur zur Info: Auch wenn der Text natürlich an meine Familie angelehnt ist, ist der Großvater aber doch erfunden und das auch genau in dieser Gespaltenheit, die aber sehr menschlich ist und oft genug - besonders in meiner Kindheit - zu beobachten war. Wie du auch selbst schreibst: Pädagogin / prügelnde Mutter – was könnte als größerer Widerspruch erscheinen! Danke für diesen persönlichen Kommentar.

Dass fromme Menschen irgendwie die besseren sind, würden sicher einige unter ihnen selbst gern so sehen, es ist aber ein Trugschluss. Unter den Frommen gibt es genauso viele Schläger, Lügner, Diebe, Vergewaltiger, Säufer, Extremisten usw. wie in allen anderen Bevölkerungsgruppen. :) Aber vielleicht fallen sie stärker auf, weil der Anspruch an sie ein anderer ist...

Mein Anliegen war gar nicht vordergründig, von diesem (scheinbaren) Widerspruch zu erzählen, sondern ein anderer. Aber den verrate ich natürlich nicht. ;-)
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Christiane,

da möchte ich mich Arno anschließen, ein wirklich guter Text, der insbesondere deshalb herausragt, weil er nicht 'wertet', sondern einfach erzählt. So muss man sich der Vergangenheit nähern, bevor man wertet, verstehen, was war. Und so erschließen sich auch die Veränderungen. Wenn man wissen will, wo man steht, muss man wissen, wo man herkommt.

Liebe Grüße
Petra
 

Tonmaler

Mitglied
Tilman und ich standen staunend vor dem kleinen runden Gefährt und schauten interessiert zu, wie Großvater bedächtig die Selbstmördertür öffnete und umständlich heraus kroch
:)

Bin beeindruckt von deiner Figurzeichnung, fast eine Charakterstudie. Top geschrieben. Habe mich lang gefragt, wieviel davon erfunden ist, was hingegen authentisch. Ich teile deine Auffassung, dass zwischen dem, was Leute zu glauben meinen und ihrem Verhalten oft ein Loch klafft.
Braucht man sich nur die Missbrauchsgeschichten der Kirche anzuschauen.

Um das Wesentliche zu sagen, das ist wundervoll geschrieben, wenn's nicht so spät wär, würde ich jetzt weitere Texte von dir lesen ;)

Gruß
 

Bo-ehd

Mitglied
Schön geschriebene "Familienchronik", die in dieser Form hier selten zu lesen ist. Dass der Großvater fiktiv ist, hebt den ganzen Text noch einmal auf ein ganz anderes Level. Wie du diesen Charakter zeichnest, zeugt von einer besonderen Qualität.
Gruß Bo-ehd
 



 
Oben Unten