Geisterverjagen in Vaselitzi

4,50 Stern(e) 2 Bewertungen

helenaki

Mitglied
Geisterverjagen in Vaselitzi

Ostern. Das Ziegenfleisch schmorte im Topf. Wir saßen am gedeckten Tisch in
der Küche und warteten. Zwanzig Minuten brauchten die reiskornförmigen
Nudeln
noch, um in der Soße aus Kräutern und Wein garzuziehen, und der Zeiger der
Küchenuhr kroch seine Runden wie eine altersschwache Schnecke. Der Duft
stieg
uns seit einer halben Stunde in die Nase und ließ unsere Mägen knurren.
„Erzähl mir eine Geschichte“, bettelte ich, „dann geht die Zeit schneller
vorbei.“
„Aber hier passiert doch nichts“, sagte Nikos.
„Das stimmt nicht. Du hast mir von einem Freund erzählt, der nackt mit dem
Trecker ins Meer gefahren ist, und von einem alten Mann, der früher mit
seinem
Esel ‚in der Stadt‘ spazieren ging und nun, nach dem Tod des Esels, mit
einem Tintenfisch an der Mole entlangschlenkert.“
„Ach, der Barba Gianni, der ist gestorben - ins Meer gefallen. Er hatte
einen Herzinfarkt.“
„Armer Barba Gianni. Ihm kann wenigstens keiner nachsagen, er sei an einer
Überdosis Viagra gestorben - so wie der alte Fischhändler und der
Bürgermeister aus Dings...mir fällt gerade der Name nicht ein.“
„Den, den seine Freunde tot aus dem Bett seiner Geliebten gezogen haben und
woanders hingeschafft?“
„Genau, die Familienehre musste ja gewahrt bleiben - das hat mir Dieter
erzählt. Du musst als Einheimischer doch noch bessere Geschichten kennen als
er.“
Er liess sein Schlüsselbund in Gedanken versunken um den Zeigefinger
klackern, dann blitzten seine Augen auf. „Oh, mir fällt eine ein,“ er
grinste,
„kannst du dich an Wassos aus Vaselitzi erinnern? Der, der manchmal Eier auf
dem
Markt verkauft?“
„Ist das der, der oft den coolen Typen spielt? Mit Cowboystiefeln und
Ray-Ban Sonnenbrille?“
„Ja, genau der. Der hat sich ein Ding geleistet, da wird man in zehn Jahren
noch drüber reden.“
„Was denn? Erzähl!“
„Also“, er machte eine Pause und kicherte in sich hinein, „das ist ein
Vlachos, der Wassos Dionysos.“ Er schnippte die Schlüssel auf den Tisch.
„Häh? Ich dachte, Dionysos sei euer Gott für Fruchtbarkeit und Wein?“
Er lachte. „Oh, daran habe ich im Moment nicht gedacht - das auch noch!“
Ich musste mitlachen, auch ohne etwas zu verstehen. „Und was ist nun ein
Vlachos?“
„Na, ein Hirte aus den Bergen, der sich in der Stadt nicht auskennt.“
„Das heißt ein bißchen blöd?“ Ich tippte mit dem Finger an die Stirn und sah
ihn fragend an.
„Nee,“ er zögerte, „das muss nicht unbedingt sein.“ Er schnupperte in
Richtung Topf und der Duft schien ihn zu inspirieren: „Die Bauern aus
Vaselitzi
können zum Beispiel sehr gute Wurst machen, die mit Orangenschale und
Schaffleisch.“
„Hm, das hört sich lecker an, aber wir wollten uns doch vom Essen ablenken.“
„Ach ja, also die aus Vaselitzi, die sind ...
„Jaja, und Koroni ist eine Großstadt!“ Ich winkte ab.
„Aber du hast mich doch auch schon gefragt, ob die da oben alle so komisch
sprechen!“
„Ja, das stimmt. Aber nun erzähl die Geschichte.“

„Hm,“ er überlegte, „ich muss ein paar Monate vorher anfangen, mit einem
Boot voller Kurden. Es war auf dem Weg nach Italien, als es in der Bucht
hinter
Saga auf einen Felsen aufgelaufen ist. Die Kurden haben es auf den Strand
gezogen, um es zu reparieren. Da das länger dauerte, mussten ein paar von
ihnen
frisches Wasser und Lebensmittel besorgen. Sie sind von Faneromeni den Berg
hinaufgeklettert und in Vaselitzi gelandet.“
„Ach was, die die sind extra dorthin gegangen, weil Koroni so teuer ist wie
Athen,“ warf ich ein.
„Damit könntest du Recht haben.“ Er grinste. „Und Wassos, der hat ihnen ein
paar Eier und Gemüse verkauft. Und weil ein gestrandetes Boot ein großes
Ereignis in einem verschlafenen Dorf wie Vaselitzi ist, ist er zum Strand
hinuntergegangen um sich das nicht entgehen zu lassen. Hat auch ein bisschen
Ouzo
mitgenommen. Später in der Nacht waren alle betrunken, und er ist irgendwie
auf
das Schiff geraten. Da hat er eine große Signalrakete gefunden und
mitgenommen. Aber er wusste nicht, dass es eine war, er dachte, das sei eine
Rauchbombe.“
„Bomben, Raketen? Was hatten die Kurden denn damit vor?“
„Das sind keine Waffen, das sind Signale. Die setzt man ein, wenn man in
Seenot gerät. Rauchbomben am Tag, Signalraketen nachts. So eine Signalrakete
musst du dir vorstellen wie eine Drei-Liter-Konservendose. Aber sie hat eine
Lunte und einen Deckel. Den Deckel muss man abnehmen, wenn man die Lunte
anzündet, und dann zischt das Ding los, explodiert in der Höhe, und eine
Lichtkugel
sinkt an einem Fallschirm herab.“
„Aha! Und was wollte Wassos als Landratte und Bauer damit?“
„Das wusste er zu dem Zeitpunkt auch noch nicht, er war betrunken und fand
das Ding interessant. Sein Cousin ist genau so einer, der ist nach einer
Disconacht mit dem großen Traktor vom Nachbarn ins Dorf gefahren. Ohne
Führerschein. Zakka -kruka hat er links und rechts die Häuser gerammt, bis
der Traktor
nur noch Schrott war. Zum Glück war niemand auf der Straße.“
„Also sowas! Was machen die Männer hier bloß mit ihren Treckern? Ich werde
sofort in eine Seitengasse springen, wenn ich nachts einen Trecker höre...
aber wie ging es mit der Bombe weiter?“
„Wassos hat sie erst einmal in seinem Haus versteckt. Voriges Jahr Ostern
ist ihm dann eingefallen, dass er damit den Rekord im Geisterverjagen
brechen
kann. Das würde noch spektakulärer werden, als ein Jahr zuvor, als zwei
Kinder
Dynamit den Berg hinuntergeworfen haben.“
„Das wird ja immer schlimmer! Wie kommen denn Kinder an Dynamit?“
„Naja, es gibt immer noch genug dumme Fischer, die versuchen damit einen
dicken Fang zu machen.“
„Wie, die Jungs waren aus Koroni? Ich dachte, hier gibts keine Dummköpfe!“
„Die Jungs waren fünfzehn und sechzehn und haben das Dynamit in Koroni g e k
l a u t.“ Plötzlich nahm er meine Hand. “Weisst du noch, wie du im vierten
Haus die ‚komisch aussehende Räucherschlange‘ unter der Matratze gefunden
hast?“
„Ja, wie schrecklich!“ Ich erinnerte mich noch zu gut. “Und ich harmlose
‚Vlacha‘ aus Deutschland hätte uns beinahe zusammen mit einer unbedeutenden
Anzahl Mücken ins Jenseits befördert!“ Mich schauderte. „Welch ein Glück,
dass
ich dir meinen Fund gezeigt habe, bevor ich ihn anzünden wollte.“
„Siehst du, und so sind die Jungs vielleicht auch auf das Dynamit gestoßen,
das der Onkel unterm Bett versteckt hatte.“
„Ich geh´ nicht mehr aus dem Haus bis Ostermontag! An Sylvester hört man
hier keinen Pups, aber Ostern werfen Kinder mit Dynamit“, ich schüttelte den
Kopf. „Ich kriege Angst, wenn ich mir das vorstelle.“ Jetzt schüttelte es
mich
ganz.
„Aber man muss doch die bösen Geister verjagen und den Teufel austreiben!“
Er griente. „Ich habe als Junge auch verschiedene - äh - Rezepte
ausprobiert,
aber nachdem ich mir einmal die Haare und die Augenbrauen versengt habe...
„Hör auf, erzähl mir nicht sowas!“ Ich klopfte mit dem Knöchel an den
Holztisch - so griechisch war ich schon, wenn jemand von Unglück sprach.
„Ihr
Griechen denkt nie daran, dass euch etwas passieren könnte! Ihr beschäftigt
mehr
Schutzengel als euch zustehen. Das fällt sogar uns Touristen auf, auch
denen,
die dümmer sind als die Kinder aus Vaselitzi!“ Ich seufzte. „Wie war das nun
mit dem Wassos?“
„Ach ja, der Wassos, der ging Ostern zur Kirche. Die ‚Rauchbombe‘ hatte er
in einer Plastiktüte dabei. Er stellte sich unten auf den Platz und zündete
die Lunte an. Er wollte das Ding hoch halten - wie die kleinen Rauchfackeln,
die die Fischer auf ihren Booten haben. Er wollte ja, dass ihn alle damit
sehen. Als er aber diese Riesenbombe in den Händen hielt, da bekam er Angst.
Vielleicht hörte er etwas Beunruhigendes darin. Jedenfalls warf er das Ding
so
weit er konnte den Platz hinunter. Dann hechtete er hinter ein paar
Brennesselbüsche. Da gab es auch schon einen ohrenbetäubenden Knall. Das
Metalltor des
Kirchplatzes flog in die Luft und krachte auf ein paar Autos hinab. Die
dicken
runden Glasbausteine der Kirchenfront bröselten in den Innenraum. Dann
schepperte die Druckwelle durch das Dorf und liess die Fenster von Häusern
und
Autos zerspringen. Es war ein unglaubliches Getöse, denn die Berge warfen
das
Echo zurück. Das haben wir in Koroni gehört, wir dachten, es sei schon
wieder
ein Militärflugzeug zwischen den Inseln abgestürzt.
Einen Augenblick herrschte Ruhe. Kein Vogel war zu hören. Und dann bellten
und jaulten die Hunde los, die Hühner gackerten, die Vögel kreischten, die
Esel schrieen und die Menschen in Vaselitzi - in und vor der Kirche -
schrieen
auch. Die von innen drängelten und stießen sich aus der Kirchentür hinaus,
und
die draußen stoben auseinander. Eltern rissen ihre Kinder mit sich und
rannten zum anderen Ende des Kirchplatzes. Die Alten wurden von den Jüngeren
gezogen und gestützt oder stolperten hinterher.
In diesem Aufruhr bemerkte niemand, dass Wassos verletzt in den Brennesseln
lag. Zum Glück hatte er mit seiner Bombe nicht dort gestanden, wo sich die
Menschen aufhielten, sondern ein gutes Stück entfernt. Nach einer Stunde
stand
er auf und taumelte vom Kirchhof. Er blutete aus Ohren und Nase, seine gute
Jacke und sein Hemd hingen nur noch in Fetzen an ihm, und seine Brust war
gespickt mit Metallsplittern. So wankte er die Hauptstraße entlang, bis
jemand
ihn auflas und zum Arzt brachte.“
„Und wie geht´s ihm jetzt, hat er´s überlebt?“ Ich deutete auf Nikos leeres
Glas und goß ihm Wasser hinein als er nickte. So lange hatte ich ihn noch
nie
an einem Stück reden hören.
„Er lebt, aber er war lange krank. Auf einem Ohr hört er nichts mehr, und
seine Brust ist vernarbt. Er hatte nicht gewusst, dass er eine Signalrakete
in
den Händen hielt, und dass man den Deckel abnehmen muss. Die Energie, die
die
Leuchtkugel in den Himmel schleudern sollte, hat den Deckel wie eine
Kanonenkugel abgefeuert. Er hat großes Glück gehabt, dass keine größeren
Metallteile
in seine Richtung geflogen sind. Und es wurde auch im Dorf niemand von dem
herumfliegenden Glas verlertzt. Das war ein Wunder sagen die Leute. Christus
hatte Mitleid an seinem größten Feiertag.“

„Meine Güte, was für eine Geschichte! Und du sagst, hier ist nichts los.“
„Aber das war doch in Vaselitzi!“ Er trank einen Schluck Wasser. „In Koroni
wissen die Jungs natürlich besser bescheid mit Rauchbomben, Dynamit und
Signalraketen.“ Er zwinkerte mir zu.

Die nächsten zwanzig Minuten klapperten Töpfe und Deckel, Messer und Gabeln,
dann schwebten Hmms und Ohs durch die Küche und begeisterte Sätzchen wie
„gerade genug Thymian “ oder „siehst du, Zimt muss sein“.
 

Vera-Lena

Mitglied
nicht so üblich

Liebe helenaki,

das ist kein so übliches Unterfangen, eine Geschichte fast komplett in wörtlicher Rede mitzuteilen, denke ich. Aber ich finde es ist Dir gut gelungen. Es wirkt sehr lebendig. Auch die kleinen Kniffe, dass man einander ins Wort fällt, sich zuerst falsch versteht, dann wieder abgelenkt wird, weil man ja eigentlich Hunger hat, macht diesen Dialog wahrscheinlich. Geschickt auch, wie Du zuerst Andeutungen einstreust, bis die eigentliche Story dann doch anstelle der noch nicht fertig gekochten Mahlzeit auf den Tisch kommt.
Mit anderen Worten: Ich habe "nichts zu meckern".
Liebe Grüsse Vera-Lena
 

helenaki

Mitglied
Danke Vera-Lena,

du bist meine erste Leserin, und das freut mich. Ich versuche langsam durch das System hier durchzusteigen.
Die Geschichte ist eine aus einer ganzen Reihe und ich befürchtete, das man merkt, dass sie aus einem Zusammenhang genommen ist. Ich hoffe, dass ich das mit der Formatierung noch verbessern kann *g*.

helenaki
 
F

Franktireur

Gast
Ähem

Du täuschst Dich - ich habs auch gelesen
und bewertet, wie Vera-Lena hatte ich nix zu
meckern, aber es gibt auch nix dazu zu sagen.
Der Text ist gut.
 

helenaki

Mitglied
Hallo Franktireur,

ich freue mich, daß auch du meinen Text so bewertest. Ich hoffe, das ist nicht der "Neueinsteiger-nicht-verschrecken-Bonus".
Habe ich mit dir ganz am Anfang gechattet? Ich kann mir so schlecht Namen merken.
Ich weiss noch nicht, wie man hier Leute wiederfindet, die man nicht auf der augenblicklichen Anwesenheitsliste in "My LL" sieht.

Fragen über Fragen *lach*
 

Vera-Lena

Mitglied
Suchfunftion

Liebe helenaki,

Du drückst rechts oben auf jeder LL-Seite auf "Leselupenwerk suchen". Dann gibst Du Namen oder Werk oder beides ein, und dann findest Du Jeden.

Liebe Grüsse Vera-Lena
 
F

Franktireur

Gast


wir haben nicht gechattet...
bei mir gibts keinen anfängerbonus,
bei mir gibts nie einen bonus.
ich bewerte gut, was ich gut finde
und schlecht, was ich schlecht finde.
Wenn ich was schlecht finde, begründe
ich das, wenn ich was gut finde eher
seltener.
Wenns was zu einem text zu sagen gibt,
sage ich es.
Doch, wie gesagt, Dein Text ist gut,
er ist rund, geschlossen in sich,
wunderbar eingerahmt vom Essen/Essensvorbereitung,
sehr plastisch beschriebene Szenerie.
Upps...;) jetzt hab ich doch noch was
zum Text gesagt...
 

helenaki

Mitglied
Re: nö

Hallo Franktireur,

schön, daß du mir geantwortet hast, ich bin im Urlaub gewesen und habe es garnicht gesehen; ausserdem habe ich noch Schwierigkeiten mit der Kommunikation hier, stehe auf Kriegsfuß mit Computern und meiner ist "unwillig" im Moment, so
dass ich von woanders schreiben muss.
Für mich war es das erste Mal, dass ich einen Text zur Diskussion stellte und daher freut es mich, wenn er gut beurteilt wird.



Ursprünglich veröffentlicht von Franktireur
wir haben nicht gechattet...
bei mir gibts keinen anfängerbonus,
bei mir gibts nie einen bonus.
ich bewerte gut, was ich gut finde
und schlecht, was ich schlecht finde.
Wenn ich was schlecht finde, begründe
ich das, wenn ich was gut finde eher
seltener.
Wenns was zu einem text zu sagen gibt,
sage ich es.
Doch, wie gesagt, Dein Text ist gut,
er ist rund, geschlossen in sich,
wunderbar eingerahmt vom Essen/Essensvorbereitung,
sehr plastisch beschriebene Szenerie.
Upps...;) jetzt hab ich doch noch was
zum Text gesagt...
 



 
Oben Unten