Weder Tag noch Stunde

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gareth

Mitglied
Es war an einem warmen Frühlingsabend,
da saß ich nachts an meines Kindes Bett,
und leis vom Tage haben wir gesprochen

Da trat ganz leis der Tod an unsre Seite
und setzte still sich hin und hörte zu,
was wir uns da wohl zu erzählen hätten

Und stumm und reglos ist er dann geblieben,
solang vom Gestern und vom Heut wir sprachen,
bis unsre Rede um die Zukunft ging

Da stand er auf, in seiner ganzen Größe,
gebot, nur sichtbar in des Andern Augen,
uns Einhalt, Schweigen, mit erhobner Hand

Kein Wort ging uns von da mehr von den Lippen
und schweigend nahmen wir uns in die Arme,
erfüllten unter Tränen sein Gebot

Seit diesem Tage tragen wir mit uns,
was wir nach seinem Abschied vorgefunden:
unwendbar, zart und blind, ein Stundenglas

Es trägt die Aufschrift: Weder Tag noch Stunde.
Und manchmal nur, im Augenblick der Stille,
wenn Jung und Alt sich in die Augen sehen,

Schließt insgeheim sich manche Hand darum,
fühlt stumm nach jenem stetig leisen Rinnen,
in Demut Vater, Mutter, Tochter, Sohn,
der Sterblichkeit bewusst, für den Moment.
 

Leise Wege

Mitglied
Wunderschön!
Ganz kleine Anmerkungen hab ich nur:
in der ersten Strophe sitzt du gleichzeitig abends, sowie nachts am Bett... vielleicht wäre da "Es war nach... besser?
in zwei aufeinander folgenden Zeilen das -leis-, und öfter das "und", besonders am Beginn der Zeilen - oder ist es hier Stilmittel?
Aber insgesamt einfach woww!
Lg Moni
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber gareth,

diese feine leise Musik, die aus Deinem Gedicht klingt, weil jedes Wort an der richtigen Stelle steht.

Ich würde es nicht in Gesang vertont hören wollen, ich höre es in meinem Innern als ein Streichquartett.

Die Unausweichlichkeit des Hinübergehens in eine andere Welt wird so biegsam und schmiegsam angenommen und man bemerkt nicht, wieviel innere Arbeit dahinter steht, um in sich selbst ein solches Resultat hervorzubringen.

Die Steigerung in der zweiten Strophe von "leis" zu "ganz leis" ist für mich überzeugend.

Ich hätte Lust, es auswendig zu lernen, einfach wegen dieser Melodie,die es in sich trägt.

Ganz herzlich grüßt Dich
Vera-Lena
 

gareth

Mitglied
Liebe Vera-Lena und Leise Wege,

danke für eure Rückmeldung.

Jetzt habe ich mir so lange Zeit gelassen mit dem Veröffentlichen dieses Textes (der erste Entwurf stammt vom August 2005, das Stundenglas vom März 2005) und trotzdem noch etwas übersehen. Das -abends- und -nachts- in einem Vers habe ich offenbar von Anfang an bei jedem Überarbeiten und Ändern überlesen. Der Vorgang ist vielleicht vergleichbar mit dem Ticken einer Uhr, das man nach einer Weile nicht mehr wahrnimmt. Danke für den Hinweis Leise Wege. Ich werde für nachts -lang- setzen.

Was das -und- angeht, so mag ich es sehr als Stilmittel. Es gibt ein altes Gedicht von Wilhelm Busch, dessen Anfang mir schon als Kind besonders gut gefallen hat: Das Häschen, das so anfängt: Das Häschen saß im Kohl und fraß und war ihm wohl.. Das mag illustrieren, wie ich über -und- denke :eek:)

Für Deinen ermutigenden Kommentar bin ich Dir natürlich besonders dankbar, Vera-Lena. Dem Gedicht liegt eine wahre Begebenheit zu Grunde. Es war in solchen abendlichen Gesprächen vor langer Zeit, dass, ganz unabhängig voneinander, meine Kinder eines Tages plötzlich verstanden, dass ihre Eltern nicht für immer leben werden. Es gibt offenbar einen solchen ersten Moment in unserem Leben. Ich habe das in den Situationen nicht gleich begriffen aber kurz danach verstanden. Erst sind sie verstummt und konnten mir gar nicht mehr auf meine Nachfragen antworten und später bin ich verstummt weil mir plötzlich die Bedeutung und Schwere dieser Erkenntnis für sie bewusst geworden ist und ich bin auch nicht ohne Tränen davon gekommen damals.
Dem wollte ich nach all den Jahren eine Form geben.

Liebe Grüße
gareth
 

gareth

Mitglied
Es war an einem warmen Frühlingsabend,
da saß ich lang an meines Kindes Bett,
und leis vom Tage haben wir gesprochen

Da trat ganz leis der Tod an unsre Seite
und setzte still sich hin und hörte zu,
was wir uns da wohl zu erzählen hätten

Und stumm und reglos ist er dann geblieben,
solang vom Gestern und vom Heut wir sprachen,
bis unsre Rede um die Zukunft ging

Da stand er auf, in seiner ganzen Größe,
gebot, nur sichtbar in des Andern Augen,
uns Einhalt, Schweigen, mit erhobner Hand

Kein Wort ging uns von da mehr von den Lippen
und schweigend nahmen wir uns in die Arme,
erfüllten unter Tränen sein Gebot

Seit diesem Tage tragen wir mit uns,
was wir nach seinem Abschied vorgefunden:
unwendbar, zart und blind, ein Stundenglas

Es trägt die Aufschrift: Weder Tag noch Stunde.
Und manchmal nur, im Augenblick der Stille,
wenn Jung und Alt sich in die Augen sehen,

Schließt insgeheim sich manche Hand darum,
fühlt stumm nach jenem stetig leisen Rinnen,
in Demut Vater, Mutter, Tochter, Sohn,
der Sterblichkeit bewusst, für den Moment.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
moin gareth

ich denke, du solltest die dritte zeile überdenken.
da beißt sich das 'leis' mit dem der vierten zeile,
und überhaupt, scheint mir die zeile fremd, nicht rund.

vielleicht etwas in der art:

Flüsternd vom Tage sprachen wir


Alles Liebe

Otto
 
B

Beba

Gast
Hallo Gareth,

ich habe deinen Text beim Lesen eigentlich genau so verstanden, wie du ihn im Kommentar erklärt hast. Ja, es ist gewiss ein ganz besonderer Moment, wenn ein menschliches Wesen zum ersten Mal die Endlichkeit versteht.

Ein sehr, sehr gefühlvolles Gedicht!
Bernd
 

gareth

Mitglied
Danke, dass Du Dich

mit dem Text beschäftigt hast, Otto Lenk.
Ich hab mich nach Deinem Kommentar doch noch einmal ziemlich genau mit der 3. Zeile beschäftigt und ich denke, ich werde die Zeile aber auf jeden Fall unverändert lassen.

Dafür werde ich aber in der 4. Zeile das -leis- ersetzen, auch wenn mich Vera-Lena erst einmal beruhigt hatte, die Wiederholung betreffend.

Dem ganzen Gedicht liegt ein ziemlich strenges Silbenmuster (es sind immer Zeilen von 10 oder 11 Silben, die variiert werden) zu Grunde. Schon deshalb würde Flüsternd vom Tage sprachen wir nicht möglich sein.

Aber vielleicht sind die Hauptkonflikte ja jetzt schon beseitigt.

Grüße
gareth
 

gareth

Mitglied
Es war an einem warmen Frühlingsabend,
da saß ich lang an meines Kindes Bett,
und leis vom Tage haben wir gesprochen

Da trat ganz sacht der Tod an unsre Seite
und setzte still sich hin und hörte zu,
was wir uns da wohl zu erzählen hätten

Und stumm und reglos ist er dann geblieben,
solang vom Gestern und vom Heut wir sprachen,
bis unsre Rede um die Zukunft ging

Da stand er auf, in seiner ganzen Größe,
gebot, nur sichtbar in des Andern Augen,
uns Einhalt, Schweigen, mit erhobner Hand

Kein Wort ging uns von da mehr von den Lippen
und schweigend nahmen wir uns in die Arme,
erfüllten unter Tränen sein Gebot

Seit diesem Tage tragen wir mit uns,
was wir nach seinem Abschied vorgefunden:
unwendbar, zart und blind, ein Stundenglas

Es trägt die Aufschrift: Weder Tag noch Stunde.
Und manchmal nur, im Augenblick der Stille,
wenn Jung und Alt sich in die Augen sehen,

Schließt insgeheim sich manche Hand darum,
fühlt stumm nach jenem stetig leisen Rinnen,
in Demut Vater, Mutter, Tochter, Sohn,
der Sterblichkeit bewusst, für den Moment.
 
H

Heidrun D.

Gast
Jetzt ist der Text perfekt! :)

Mich hat das zweimalige "leis" auch gestört, aber ich war mich sicher, dass du das nachbessern würdest.

Liebe Grüße
Heidrun
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber gareth,

jeder sieht die Dinge anders und ich möchte Dich jetzt auch nicht in eine Verzweiflung stürzen, was denn nun das Bessere sei.

Die 4 "a" hintereinander machen für mein Empfinden den Klang in der vierten Zeile kaputt. Da hätte ich lieber das doppelte "leis" in Kauf genommen.

Ich habe schon das Synonym-Lekikon durchgeackert, aber es findet sich auch keine dritte Möglichkeit, leider.

Die Zeile kann auch nicht stark umgestellt werden, sonst kommt der Inhalt nicht mehr zum Vorschein. Das "Da" muss bleiben, der "Tod" muss an der Stelle bleiben, wo das Wort jetzt steht. Die Möglichkeiten sind denkbar eingeschränkt.

Ich möchte hier auch noch einmal die beiden "leis" verteidigen, wie ich sie sehe. Der Tod kam auf genau dieselbe Weise, wie sich Erwachsener und Kind miteinander unterhielten und war eben gerade deshalb zunächst für die Beiden fast nicht wahrnehmbar.

In besoderen Fällen braucht man auch besondere Mittel; und hier halte ich die Wiederholung für angebracht.

Ohne Dich jetzt zu irgendetwas bewegen zu wollen, lieber gareth, wollte ich Dir meine Sicht in dieser Angelegenheit noch einmal mitteilen.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

Perry

Mitglied
Hallo gareth,
ich greife diesen Faden gerne noch einmal auf und widme mich dem Ende des Textes.
Ich finde diesen besonderen Moment zwischen Kind und Vater auch sehr gut getroffen. Zum Schluss ziehst du die Blende für mein Empfinden aber unnötig auf, denn es macht aus diesem Einzigartigen ein Vervielfältigbares. Jedes Kind und jeder Elternteil wird diese Tatsache anders empfinden, deshalb halte ich hier eine Verallgemeinerung für eher störend.
Formal verstehe ich ebenfalls nicht warum du mit einem Vierzeiler abschließt.
LG
Manfred
 

gareth

Mitglied
Hallo Perry,

vielleicht das Formale zuerst: ich glaube, ich hab das schon öfter gemacht, einem Impuls zu folgen und denjenigen Teil eines Gedichtes, der in irgendeiner Weise vom Rest abwich, formal zu verändern und so erkennbar zu machen und ein wenig herauszustellen. So streng sind ja die traditionellen Formen nicht verankert und wenn sie es wären, müssten immer wieder genau solche Öffnungen erzwungen werden.

Die Entscheidung, das rein persönliche Erleben am Ende auf uns alle zu übertragen, ist erst langsam, während der Jahre des langsamen Erarbeitens und fortwährenden Änderns, gereift und dann durch die vier Zeilen etwas abgesetzt.

So sehr die erste Erkenntnis des Sterblichseins ein vollkommen individuelles und persönliches Geschehen ist, so sehr ist das Bild des undurchsichtigen, nicht wendbaren Stundenglases, für uns alle gültig. Wir alle wissen nicht, wieviel Sand unser Stundenglas enthält und auch nicht, wieviel davon bereits durch die Enge gerieselt ist. Ebensowenig können wir Einfluss darauf nehmen, auch wenn wir das immer wieder einmal glauben.

Ich habe das Gedicht auch als ein Memento mori geschrieben.

Grüße
gareth
 

Perry

Mitglied
Hallo Gareth,
dieses Ansinnen sei dir unbenommen.
Für mich verliert der Text dadurch aber seine Intimität. Psychoanalytisches kann ich zuhauf in Fachbüchern lesen.
LG
Manfred
 



 
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