13. Februar

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Wipfel

Mitglied
Ganz leise
Kaum zu hören

Kurz bevor Asphalt
Von Brücken tropfen wird
Hängt über Dächern
Schwarze Maskerade

Sirenen heulen
Dann die Kinder
Und ahnen nicht
Ahnen nicht
Was es bedeutet
Wenn ein Christbaum fällt

Der Alte
Das eine Bein
Dem Vaterland geschuldet
Sitzt am Terrassenufer
Zurückgelassen
Hebt den Kopf und lauscht
Schaut auf die Uhr
Nickt vor sich hin und bleibt

Die Nachtluft
Nicht mit Schnee betäubt
Den Frühling ahnend
Erstarrt mit ihm
Bevor sie sich zum Sturm erhebt

Leise
Nur entfernt zu hören
Brummen hunderte Motoren
Der Todgeweihten
Ein letztes Lied
 

Wipfel

Mitglied
Vielleicht einen Hinweis (die meisten werden es wissen), der 13. Februar 1945 war Faschingsdienstag, die Nacht, in der Dresden bombardiert wurde.
 
B

bluefin

Gast
gar nicht mal schlecht, @wipfel. für jemanden, der sich an veranlasster betroffenheitsdichterei nicht stört, sicher zum nachdenken anregend. bluefin gehört nicht zu diesen und hat immer schwierigkeiten, sich aus dem stillstand heraus in bewegung setzen zu lassen.

ich mag keine gekünschelten texte für gut oder für schlecht befinden, die schreckliche anlässe wie die bombardierung dresdens zum willkommenen anlass nehmen, sondern reg mich immer nur darüber auf, dass man's tut und hofft, damit punkte zu machen.

der weibliche dativ in der vorletzten zeile stört trotzdem. bis man draufkommt, dass damit die stadt gemeint sein soll ("dresden" wäre ja sächlich), hat man verärgert weggeklickt.

nichts für ungut und liebe grüße aus münchen

bluefin
 

Wipfel

Mitglied
Merci für die Worte, bluefin. Zarathrustra hier aus dem Forume sagte einmal:
ja es ist Betroffenheitslyrik.

(alle Lyrik spricht von Betroffenheit).

Und alle Verse mit Betroffenheit sind schwierig, besonders dann - wenn sie schlicht sein sollen.
Du magst demnach den großen Betroffenheitslyriker aus DD nicht? Ich aber.

LG aus KA von Wipfel

PS: Was ist eigentlich die Aussage von "Nichts für ungut!"? Alles gegen gut? Da doppelte Negation sich ja ins Gegenteil verkehrt. Oder nicht?
 
H

Heidrun D.

Gast
Mir gefällt dein Gedicht ganz wunderbar:

Kurz bevor Asphalt
Von Brücken tropfen wird
Hängt über Dächern
Schwarze Maskerade
Allein für diese Strophe gebührt die Lob und Preis ... ach, ach, der tropfende Asphalt ...

Liebe Grüße
Heidrun
 
B

bluefin

Gast
original heißts eigentlich "nix für unguat". das dumpfe süddeutsch arbeitet gern mit doppelten bis dreifachen verneinungen, um mit möglichst geringem wortschatz über die runden zu kommen. "nix für unguat" heißt wörtlich und ergänzend übersetzt "bitte nichts für böse halten", frei etwa: "ich meine es nicht böse" und dürfte seinen ursprung im barocken, südlichen katholizismus haben, der sogar den landsknechten vor der blutigen schlacht die absolution erteilt (s. auch unter "miltärseelsorge").

im gegenständlichen falle wird's aber nur gebraucht, um zum ausdruck zu bringen, dass man's nicht todernst gemeint hat.

wer, lieber @wipfel, ist der von dir angeführte betroffenheitslyriker? herbert wehner? petra kelly? claudia roth? bob dylan?...*grübel*...

liebe grüße aus münchen

blueifn
 

Wipfel

Mitglied
Ach @bluefin, für Deine Antwort könnte ich Dich durch die Luft wirbeln, ich zähme mich ja schon!

...und der selbsternannte Betroffenheitslyriker aus DD (Herbert Wehner...sehr schön! Lach mich kaputt) ist Olaf Schubert. Der mit dem deutschlandschönsten Pullunder.

LG aus KA von Wipfel,

der endlich weiß, was barocker Katholizismus so alles auslösen kann. Oder auch nicht...
 
B

bluefin

Gast
endlich ein lühriker mit humor!

@wipfel, ich danke dir. du siehst mich ganz eng an deiner seite. hoffentlich fürchtest du dich nicht vor den ungeheuern der tiefsee...

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

Wipfel

Mitglied
An die Ungeheuer der Tiefsee

Von einem der auszog
Das Fürchten zu lernen:

Ich entdeckte
Dass die See
Ungeheuer tief war

Und Raum bot
Für Leben

Erst im Brackwasser
Lernte ich
Was es bedeutet

Furcht
 

Perry

Mitglied
Hallo Wipfel,
ich habe nichts gegen Betroffenheitslyrik, aber du solltest kein Rätsel daraus machen.
Vorschlag: Dresden, 13. Februar 1945.
Für den Anfang würde ich dir noch ein "Erst" ganz leise spendieren.
Formal könnstest du noch etwas Verdichten, denn Wiederholungen tragen hier nicht zur Spannungssteigerung bei.
Z.B.: "Ganz leise / kaum zu hören"
oder "ahnen nicht / Ahnen nicht."
Bildlich mag mir der tropfende Asphalt nicht so munden, denn ich denke, dass bei der Bombardierung die Sprengkraft im Vordergrund steht und Hitzeentwicklung, die den Asphalt von Brücken tropfen lässt, eher ein seltenes Phänomen ist.
Insgesamt hat mich dein Werk aber durchaus angesprochen, vor allem die schwarze Maskarade und der Christbaum.
LG
Manfred
 
B

bluefin

Gast
sorry, @perry, da bin ich ganz anderer meinung. @wipfels nachgesandter holzhammerschlag war ganz und gar unnötig.

und egal, ob dresden oder hamburg oder eine andere stadt: der hauptteil der betroffenen krepierte nicht direkt an der explosionskraft der bomben, sondern elend im sich entwickelnden feuersturm durch verbrennung oder ersticken. viele der leichen waren auf ein drittel ihrer größe geschrumpft (http://upload.wikimedia.org/wikiped...78-0001,_Dresden,_Tote_nach_Bombenangriff.jpg).

ohne @wipfel weh tun zu wollen - ich finde nach wie vor nicht, dass sich derartiges für belletristische sprachspiele eignete. wäre man wirklich direkt betroffen, wär's keine spielerei.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

nisavi

Mitglied
hallo wipfel,

hier, in dem ort, in dem ich lebe, hat man dresden brennen sehen am horizont. zumindest erzählen das die alten.

aus meiner familie sind drei menschen in dieser nacht umgekommen. vater, mutter und der kleine sohn. die drei töchter der familie waren ausgerechnet in der brandnacht bei freunden außerhalb der stadt gewesen. als sie zurückkamen, stand an der stelle, wo das elternhaus gestanden hatte, kein haus mehr. die drei mädchen wurden in deutschland verteilt und kamen zu fremden familien. traumatische erfahrungen.
als die frauenkirche geweiht wurde, kamen zwei der töchter, inzwischen betagte damen, an den ort des schreckens zurück. ich glaube, die nacht ist ihnen noch immer ganz gegenwärtig. den brandgeruch und die ruinen konnten sie ihr leben lang nicht vergessen. wie all die anderen, die den feuersturm erlebten.

nur: diese generation stirbt langsam aber sicher aus. die erinnerungen an das schreckliche werden blasser und blasser.

insofern finde ich gut, dass du dich dem thema zuwendest. ich meine auch nicht, dass du den namen der stadt im titel nennen musst, denn das schicksal von dresden teil(t)en viele große städte. köln zum beispiel, so weit ich weiß.

sprachlich gehst du behutsam mit der thematik um, das gefällt mir. du findest treffende bilder. allerdings finde ich die AHNEN-stelle verwirrend und grammatisch unübersichtlich.
ob man ein bein dem vaterland SCHULDEN kann, weiß ich nicht. ich lese das "geschuldet" als "geopfert".

in der letzten strophe stimmen die bezüge nicht. ich glaube, dem leser ist nciht klar, dass du dich auf die stadt beziehst, nachdem vorher von ihren bewohnern die rede war. "den todgeweihten" wäre für mich logischer.

lg
n.
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
„Vielleicht einen Hinweis (die meisten werden es wissen), der 13. Februar 1945 war Faschingsdienstag, die Nacht, in der Dresden bombardiert wurde.“

Hallo Wipfel,

nein, die meisten werden es nicht wissen und bedürfen dieses Hinweises: du solltest ihn im Titel aufnehmen*, damit dein Text entsprechend gelesen wird. *einfach eine On oder Mail an einen Foren-Redakteur senden.

Zum Inhalt ein paar Überarbeitungsvorschläge:

Ganz leise
Kaum zu hören

[strike]Kurz [/strike]bevor Asphalt
Von Brücken tropfen wird
Hängt über Dächern
Schwarze Maskerade

Sirenen heulen
Dann die Kinder
Und ahnen nicht
Ahnen nicht
Was es bedeutet
[strike]Wenn ein Christbaum fällt[/strike]

Der Alte
Das eine Bein
Dem Vaterland geschuldet
Sitzt am Terrassenufer
[strike]Zurückgelassen[/strike]
Hebt den Kopf und lauscht
Schaut auf die Uhr
Nickt vor sich hin und bleibt

Die Nachtluft
Nicht mit Schnee betäubt
Den Frühling ahnend
[strike]Erstarrt mit ihm[/strike]
Bevor sie sich zum Sturm erhebt

[strike]Leise
Nur entfernt zu hören[/strike]
Brummen hunderte[red]r[/red] Motoren (Absatz)
Der Todgeweihten
Ein letztes Lied


Grüße von Zeder
 

Herbstblatt

Mitglied
13. Februar 1945

Hallo,

ein berührendes Gedicht, das die Gegebenheiten trifft. Gut, ich bin Dresdnerin und von daher empfindsam dafür...

Es ist nichts überflüssig in diesem Werk! Vieles wurde schon gesagt: Asphalt, der tropft und läuft in den mörderischen Temperaturen des Feuersturmes, die Erstarrung der Nachtluft, denn es war sehr kalt in dieser Nacht, die Kinder, die Fasching feiern wollen. Das Terrassenufer als Hinweis auf Dresden. Insofern ist auch der "Christbaum" ein wichtiger Teil, der dem Rotstift glücklicherweise nicht zum Opfer fiel. "Christbaum" nannte man die Leuchtkugeln, die den Bomben aus Gründen der Sicht voraus geschickt wurden, sie markierten den zu bebombenden Bereich und hießen in der Bevölkerung auf Grund ihrer Form genauso. Deshalb unverzichtbar!

Es gibt auch andere Städte, die einen solchen Feuersturm erleben mussten. Schön sind diese Erinnerungen mit Sicherheit nicht, wohl aber wichtig! Und das hat m.M. nach nichts mit der negativ zitierten Betroffenheitslyrik zu tun!

Deshalb: ein Danke von mir für dieses Werk!

LG Herbstblatt
 

Wipfel

Mitglied
da hast du aber tief gekramt, liebes Herabstblatt. Lieben Dank fürs Lesen und deine treffeneden Anmerkungen dazu.

Bestimmt ein halbes Jahr hatte ich das Gedicht nicht gelesen - und es war mir heute ein eigenes, schönes Vergnügen. Manchmal verändern sich die Worte in mir, der Standpunkt, die Sicht auf's Ganze. Doch dieses Gedicht würde ich nochmals so schreiben...

Ich selbst hatte das Glück(?), einige Ur-Dresdner kennenzulernen, die den Angriff überstanden hatten und DD wieder mit aufgebaut haben. DD'ner leben anders.

Liebe Grüße nach DD von wipfel
 
S

samuel

Gast
Sehr schön!

Nur die letzten beiden Zeilen würde ich miteinander vertauschen.

LG, samuel
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Ralf - merci für dein Kommentar!

@Samuel: Nö, die zwei letzten Zeilen tauschen würde bedeuten, den Rhythmus zu zerstören. Lies laut, und du merkst es...

Grüße von Wipfel
 



 
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