09. und 10.Februar 2013

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Wittelsbach

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Tagebuch 09. und 10.Februar 2013
Endlich habe ich die ersten zehn Tagebücher meines Lebens abgetippt. Soviel Aufwand nur für mich?
Am besten lese ich daraus anderen Menschen vor. Damit sie über meine kleinen Abenteuer schmunzeln können, und was noch wichtiger ist, damit sie nicht alle meine Fehler wiederholen.
Am besten lese ich in meiner Stammkneipe.
Was natürlich auch das Risiko beinhaltet, die letzten Freunde los zu werden.
Meine Stammkneipe ist mehr oder weniger die Dampfbierbrauerei in Essen-Borbeck. Lecker Dampfbier. Lecker Hamburger, genannt der Borbecker. Gemütlich aber laut.
Weil, wie der Name schon sagt, sie ist in einer ehemaligen Brauerei mit hohen Wänden untergebracht.
Da macht eine Lesung nicht wirklich Spaß, wenn jedes eigene Wort viermal zurückkommt. Untermalt vom Klappern des Bestecks und den üblichen Trinksprüchen.

Dann besser eine Lesung in der Stadtbibliothek. Geht aber erst, wenn tatsächlich ein Buch vorliegt. Neffe Carl, der zurzeit wegen Uni-Nähe bei uns wohnt, gab mir den Tipp mit YOUTUBE. Da könnte man lesen ohne Hallräume, ohne Hamburger, ohne Bierkrüge und ohne Buch-Zwang.
YOUTUBE hielt ich bis dahin für eine illegale Plattform für illegale Menschen, um illegale Filme aus dem WEB herunter zu laden.
Der Neffe zeigte mir aber ein paar Videos auf YOUTUBE über den Hermann Löns-Wanderweg und den ersten Wolf im Harz. Mit dem Film über einen Biber, der mitten im Münchner Englischen Garten einen Baum nach dem anderen umlegte, hatte er mich.
Das fand ich doch seriös genug.

Eine Kamera (nennt man neuerdings Camcorder) hatte ich vom letzten Urlaub und einen Computer hat man ja immer in irgendeiner Ecke stehen.
Neffe Carl meinte, ich müsste vorab entweder mein Wohnzimmer aufräumen oder ein blaues Bettlaken besorgen oder gleich in den Schlosspark gehen. Denn für das Filmen brauchen wir ja einen Hintergrund.

Aufräumen hätte das Projekt um Monate verzögert, zum Schlosspark hätten wir alles schleppen müssen (ich den Camcorder und er den Kasten Bier, um die Lippen regelmäßig zu befeuchten), also dann lieber das Bettlaken. Die Gattin kann auch direkt auf der Matratze pennen, die wühlt sich sowieso jede Nacht tief in ihr Bett ein.
Nein, - das Laken musste einfarbig sein, Blümchenmuster käme nicht in Frage, meinte der neunmalkluge Neffe. Die blaue Farbe würde die Kamera nämlich wegzaubern und dann könnte man im Rechner ein Foto vom Gardasee hinter meinen Rücken montieren.
Oder vom Eiffelturm, um dem ganzen einen intellektuellen Anstrich zu geben.
Oder den Vatikan, um auch Katholiken zum Lesen zu bekehren.
Oder auch einfach ein Stück Heide für die ganzen Hermann Löns-Fans, schlug Carl vor.
Erst meinte ich noch, dann könnten wir auch gleich in den Schloßpark gehen, aber nach einem Blick auf die nächste Schneematschwolke am Himmel ziehe ich jetzt los zum Limbecker Platz, um einen blauen Stoff zu kaufen.
Mal sehen wie weit wir morgen damit kommen.

Die erste Lesung
Den Stoff habe ich bekommen, und gleich gestern quer über das Bücherregal und Schrankwand gespannt. Gattin zeigte keine Begeisterung, sie meinte, ich würde nur unnötig Staub aufwirbeln. Wo kein Staub ist, kann auch nichts aufgewirbelt werden, habe ich klug geantwortet und damit auf ihre hausfraulichen Fähigkeiten hingewiesen. Da hat sie nichts mehr gesagt, mir aber auch nicht geholfen. Neffe Carl kam übrigens auch nicht, wie erhofft, zu Hilfe. Naja, es ist Karneval, da haben die jungen Leute anderes im Sinn.
Als ich endlich die schwere, von der Tante selbst geknetete Vase auf den zweiten Zipfel gewuchtet hatte, kam Tochter Tamara nach Hause. Ich habe sie oben von der Leiter gar nicht erkannt, denn sie hatte eine amerikanische Polizeimütze auf.
Dazu eine entsprechende Uniform mit Handschellen an der Seite.
Ich dachte tatsächlich eine Sekunde lang, da wäre jemand wegen mir gekommen.
Tamara hatte aber auch keine Zeit, die Kamera zu bedienen, denn sie hatte Angst, die Hosennaht ihres Kostüms würde mitten im Karnevalsgeschehen aufreißen. Keine schöne Aussicht, in der Tat, denn es soll Montag sehr kalt werden. Also saß sie dann auf dem Sofa und versuchte sich am Nähgarn der Gattin. Diese war nach ein paar sehr komplizierten Ratschlägen in die Küche gegangen.
Meinetwegen, die Tochter konnte im Zimmer bleiben. Wenn sie sich nicht zu oft in den Finger stach. Denn irgendwelche Schreie und Geschimpfe aus dem Hintergrund passten nicht zu meiner Lesung.
Ich las den Text übrigens von einem Notebook ab. Da kam schon das nächste Problem auf mich zu. Machte ich den Text so groß, dass ich ihn bequem ablesen konnte, passten nur zwei Sätze auf den Bildschirm. Tochter fragte, warum ich gleich vornüber kippen würde, warum ich nicht die Brille aufsetzte.
Gattin meinte vom Flur herüber, mit Brille würde ich zwar zehn Jahre älter, dafür aber intelligenter aussehen.
Der erste Teil ihres Kommentars deckt sich auch mit meiner Meinung. Also bleiben die Buchstaben groß und ich muss ständig die Pfeiltasten tippen.

Dann aber geschah ein kleines Malheur. Ich hatte der Kamera den SD-Chip entnommen und ihn in den Kartenschlitz am Rechner gesteckt. Um mir das erste Kapitel am großen Monitor anzugucken. Dummerweise habe ich in begreiflicher Aufregung den falschen Schlitz erwischt und so ist der kleine Chip irgendwo in den Rechner hinein gefallen. Es hat sehr hohl geklungen.
Keine Ahnung, wie ich ihn aus den Tiefen der Rechenzentrale wieder hervor holen soll.
Da kann man nur hoffen, dass Neffe Carl bald vorbei schaut. Und hoffen wir des Weiteren, dass er meinen guten alten Rechner nicht komplett zerlegen muss.
Gattin meinte, ich solle dieses wahnsinnige Projekt aufgeben, es gibt vernünftigere Beschäftigungen.
Tochter Tamara meinte, sie würde sich ganz bestimmt nicht für meine vorpubertären Erinnerungen an meine erste Liebe vor fünfzig Jahren interessieren. Das wäre dann ja noch im Kindergarten, sagte ich.
Dann schrie die Tochter wie erwartet wirklich laut auf.
Sie hatte die hintere Arschnaht mit den Reißverschluss vorne vernäht. Und gab mir die Schuld, weil ich sie mit meinem Kasperletheater abgelenkt hatte.
Und die Gattin rief: Abendessen!
 

ENachtigall

Mitglied
Willkommen in der Leselupe, Wittelsbach, und viel Spaß bei uns MöchteGernDichtern und DenkeGernSchreibern!

Dein Einstiegswerk habe ich amüsiert gelesen und finde die Schlussstelle mit der verkehrt zusammen genähten Hose genial!

Lieben Gruß,

Elke
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Ein Schmunzler der Sonderklasse

Ein Willkommen im begrünten Prosa- und Lyrikdschungel auch von mir.

Eine wirklich amüsante Story – passt bestens ins Tagebuch, wäre aber auch bei Humor und Satire herzlich willkommen gewesen. Bei deinem satirischen Schreibtalent wirst du aber bestimmt noch mal in dieses Forum schauen und dich dann nicht scheuen, dort einen ähnlich großartigen Plot einzustellen.

Es grüßt der immer noch grinsende Ironbiber
 



 
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