1/3 und 2

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Ich saß hinter dem Vorhang. Mit einem Flügelhorn. Auf der Bühne sollte nachher Albert Vogt singen. Mit einer Gitarre. Er hielt heute ein Konzert, auf dem er vor tausenden Menschen seine Chansons sang. Das letzte Lied, das er sang, sollte von zwei instrumentalen Tönen beendet werden. Einem d' und einem h'. Und ich hatte die Ehre, diese Töne auf meinem Flügelhorn zu spielen. D' und h'. Ich spielte seit 17 Jahren Flügelhorn, das war für mich ein Kinderspiel. Dennoch war ich aufgeregt. Das Horn stand neben mir, ich schlug die Beine übereinander und wollte erst einmal in Ruhe zuhören. Vor meinem Einsatz kamen schließlich erst 28 andere Lieder. Albert Vogt war mein Lieblingssänger, seit ich denken konnte. Ihn zu treffen, war immer mein Traum. Doch für ihn zu spielen? Das hätte ich mir nicht mal erdenken können. Ich hörte, dass das Publikum sich schon langsam hinsetzte und vor sich hin tuschelte. Noch war ich einigermaßen entspannt. Meine Beine zappelten lediglich ein bisschen. "1/3 und 2", flüsterte ich mehrfach vor mich hin. Das waren die Griffe, die ich auf dem Flügelhorn für die Töne d' und h' greifen musste. Ganz simpel, ganz simpel... Mein Flüstern legte sich, als Albert Vogt an mir vorbeiging, mich mit einem Nicken grüßte und auf die Bühne trat. Ich grüßte nicht zurück. Ich war wie versteinert. Als ich ihn so sah, bekam ich plötzlich Angst, einen Fehler zu machen. "1/3 und 2", flüsterte ich weiter vor mich hin, um mich zu beruhigen. Das Publikum applaudierte laut, als er auf der Bühne erschien. Nun begann er zu singen. Er sang ein Lied nach dem anderen. Die Noten verschwammen in meinen Ohren. Er sang etliche Chansons. Von Liebe, von Hass, von Gutem, von Bösen, von Lustigem, von Betrübenden. Ich wurde immer nervöser. "1/3 und 2", flüsterte ich die ganze Zeit vor mich hin. Mein Kopf dröhnte vor Stress und mein Atem wurde schwerer. Nun begann sein letztes Lied. Ein Abendlied namens "Gute Nacht, meine Lieben" Auf den Inhalt konnte ich nicht mehr achten. Ich war fokussiert auf meinen Einsatz. Ich dachte mir: "Jetzt ist es so weit. Ganz einfach. 1/3 und 2." Ich atmete tief durch. "Nein, Moment! 1/2 und 3. Genau 1/2 und 3. Nein! 2/3 und 1! So!" Ich atmete ein weiteres mal tief durch. "1/2 und 3. Nein!" Jetzt begann ich nervöser zu werden. "1 und... Und 3 und..." Ich ballte meine Hände zur Faust. "1/2 und... Und 4 und... Schwachsinn, es gibt gar keine 4! 1/3 und 1. Nein!" In diesem Moment ertönte Applaus. Das Flügelhorn stand unangerührt neben mir.
 
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