Klippenkletterer
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Kapitel 1: Die leere Stadt
Alexis betrachtete ihre langen, schlanken Finger. Nachdenklich ballte sie ihre Hand zur Faust und entspannte sie wieder. Da war Kraft, verborgene Kraft, die kaum einer erahnen konnte hinter dem Äußeren, so fragil wie Glas.
Kraft. Kraft genug?
Sie zwang sich die Hand runter zu nehmen. Es musste genug sein. Es würde genug sein.
Für uns beide.
Sie berührte ihren Bauch und spürte Bewegung. Kein Lächeln veränderte ihr Gesicht. Sie spürte kalte Gedanken in ihrem Kopf und keine Sonnenwärme würde ihr erfrorenes Inneres erreichen. Auch wenn sie sich danach sehnte.
Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Zweifel rauben mir bloß die letzte Kraft.
Ja. Sie musste weiter.
Alexis kannte diesen Wald. Sie war nun schon eine Woche lang durch ihn unterwegs und hatte keine Angst. Sie war eine Elbe, sie brauchte sich nicht vor der Natur zu fürchten. Es waren die Menschen, die keinen Respekt vor ihrer Umgebung kannten und alles um sich herum verändern mussten, ihren eigenen egoistischen Wünschen anpassen.
Bald würde sie nach Eylan kommen, der nächstgelegenen Großstadt der Menschen. Sie hätte all diese Städte am liebsten gemieden, aber sie war auf der Suche. Und unglücklicherweise sogar nach einem Menschen. Daher musste sie sich wohl oder übel zusammenreißen.
Wenn es in diesen Menschensiedlungen nur nicht immer so stinken würde!
Es war ihr ein Wunder, wie die anderen Elben das aushielten, diejenigen, die dauerhaft in den Städten wohnten. Vielleicht gewöhnte man sich ja daran. Andererseits hatten sie nicht wirklich eine Wahl.
Das Gewicht der Waffe lastete ungewohnt in ihrer Hand. Allein das schmierige Gefühl der kalten Oberfläche ekelte sie an, aber sie widerstand tapfer dem Drang, den Revolver so weit wegzuschleudern, wie es möglich war. Sie brauchte dieses Spielzeug der Menschen. Die Stadt ließ ihr keine große Wahl. Außerdem konnte sie sie dort vielleicht sogar verkaufen. Nicht, dass sie Geld nötig hätte… aber bei Menschen ging man lieber sicher.
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Man sah die Stadt schon von weitem. Seit kurzem war es bei den Menschen so etwas wie Mode, unglaublich hohe Gebäude zu errichten. Anscheinend gab es sogar so etwas wie einen Wettstreit darum. Alexis wusste nicht, wer zur Zeit vorne lag, aber Eylan schien sich die größte Mühe zu geben, zu den Siegern zu gehören.
Drei schlanke Türme ragten über der Stadt auf. Sie bestanden aus irgendeinem Metall, das die funkelnden Lichtstrahlen gnadenlos brach und zurücksandte. Alexis wandte ihre Augen schnell davon ab. Für sie waren diese… Gebilde so etwas wie eine Perversion der Natur. Sie waren nur leere Flächen, die den Anblick des Himmels beschmutzten.
Und darin wohnen tatsächlich Menschen.
Der Wald lichtete sich nicht langsam, er hörte stattdessen abrupt auf; von einem Augenblick auf den nächsten stand Alexis nicht mehr unter der schützenden Laubschicht, sondern unter freiem Himmel. Die Bläue erstreckte sich über ihr… und vor ihr wucherte die Stadt.
Und sie wucherte tatsächlich. Alexis war vor einigen Jahren schon einmal in Eylan gewesen, aber hätte sie nicht gewusst, dass dies vor ihr dieselbe Stadt war, hätte sie sie niemals wieder erkannt. In dem verhältnismäßig kleinen Zeitraum hatte es die Stadt geschafft, sich noch mehr auszubreiten. Wie ein lebendiges Wesen hatte sie Ausläufer in die Wälder und Wiesen in der Umgebung geschickt, um die ganze Landschaft langsam in Beschlag zu nehmen. Wo man auch hinsah, überall ragten die plumpen Menschenbehausungen aus dem Boden.
Die meisten waren immer noch recht niedrig, nicht höher als bis zum zweiten Stock, aber trotzdem stieß der Anblick Alexis ab. Die Häuser waren allesamt rechteckig, mit höchstens einem Fenster an einer Seite, alle in der gleichen monotonen gelben Farbe, wie durch dicke Staubschichten bedeckt. Wo Eylan an sich als gigantischer Organismus erschien, mangelte es den einzelnen Gebäuden entscheidend an Persönlichkeit und Individualität. Sie zeigten der Welt gleichgültige, tote Fassaden und starrten durch dicke Fensterscheiben hasserfüllt nach draußen.
Kaum zu glauben, dass Menschen darin Tag für Tag verbrachten, das ganze Leben lang eingepfercht zwischen vier Wänden und einem Dach.
Alexis bemerkte, dass sie voller Widerwillen am Waldrand stehen geblieben war. Sie stieß die Zähne zusammen und zog sich ruckartig die Kapuze über den Kopf. Nein, sie würde sich nicht von ihrer zimperlichen elbischen Natur aufhalten lassen! Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.
Der schmale Waldpfad vereinigte sich mit einer der Hauptstraßen und schon bald war unter Alexis’ Füßen nicht Erde und Gras, sondern harter, unvertrauter Pflasterstein. Durch die weichen Sohlen ihrer Sandalen hindurch spürte sie jede Ausbuchtung. Der schwere Mantel, den sie sich übergeworfen hatte, rieb unangenehm an ihrer Haut und verstärkte noch die Hitze dieses jungen Frühlingstages. Alexis schwitzte bald und wünschte sich nichts sehnlicher, als das belastende Kleidungsstück abstreifen zu können, um wieder den Wind an ihrer Haut zu spüren. Aber sie wusste, dass das ein Fehler wäre, den zu bereuen ihr nicht die Zeit bleiben würde.
Menschen strömten neben ihr in die Stadt hinein; Bauern vom Land, die ihre wenigen Waren auf dem Markt anbieten wollten, neugierige Reisende, heimkehrende Reisende, einige Händler und Leute der Stadtwache, die von ihrem Rundgang zurückkamen. Alexis spürte misstrauische Blicke über ihre verhüllte Gestalt gleiten und senkte den Kopf, so dass der Schatten der Kapuze ihr Gesicht verbarg. Nur einige verirrte helle Strähnen blieben an dem rauen Stoff des Mantels hängen.
Ihre Hand umklammerte krampfhaft den Griff des Revolvers. Sie hatte nicht vor sich gefangen nehmen zu lassen. Unter keinen Umständen. Allein der Gedanke an die fensterlosen, stickigen, engen, unterirdischen Räume, die die Menschen Gefängniszellen nannten, ließ sie erschaudern. Lieber ein schneller Tod von eigener Hand.
Dann hätte es allerdings keinen Sinn gehabt, bis hierher zu überleben…
Sie kam nicht in die Verlegenheit, diesen Konflikt lösen zu müssen. Irgendwo weiter vorne ertönte Klirren und zornige Stimme riefen Beschimpfungen und Flüche. Die Wachen wandten ihre Aufmerksamkeit dem aktuellen Geschehen zu.
Als Alexis im Strom der Menge daran vorbeiging, erkannte sie, was passiert war: zwei Händler stritten sich lautstark mitten auf der Straße und ignorierten den dabei aufstauenden Verkehr. Die Wachleute griffen ein und versuchten die beiden Männer zu beruhigen, was allerdings nur von mäßigem Erfolg gekrönt war. Anscheinend war der Streit darüber entbrannt, welcher der beiden Händlerkarren Vorfahrt hatte. Und stur, wie es Menschen nun mal waren, weigerten sich beide ihren Anspruch aufzugeben, trotz der scharfen Worte der Wächter. Die Situation konnte jeden Moment eskalieren. Alexis sah genau, dass die Wachmänner bereits nach ihren Waffen fassten.
Da entschied einer der Händler, seine Wut auf andere Weise abzureagieren. Er drehte sich abrupt um und schlug seinem Diener mit voller Wucht ins Gesicht.
Der gezielte Hieb traf das Opfer völlig unvorbereitet und riss es zu Boden. Alexis konnte den Aufprall fast in ihrem eigenen Körper fühlen, die knochenbrechende Gewalt. Sie fühlte ihren eigenen Herzschlag stocken, Anspannung ergriff blitzartig von ihr Besitz. Trotz des Menschenandrangs, der sie weiterzuzerren bestrebt war, rührte sie sich nicht von der Stelle.
Ich kann nichts tun, sagte sie sich nachdrücklich. Ich kann nichts tun!
Der Händler setzte an, den wehrlos daliegenden Mann zu treten.
Nein!
Einer der Wachleute ergriff den Händler an der Schulter und sagte etwas, was wegen der Entfernung unverständlich blieb. Es sah nach einer milden Zurechtweisung aus. Währenddessen dirigierte einer seiner Kollegen den zweiten Streithahn auf eine andere Spur, so dass beide Karren weiterfahren konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Noch einige Worte wurden zwischen den Beteiligten gewechselt, dann zogen die Wachleute auch schon ab.
Alexis beobachtete regungslos, wie der Händler seinen Diener anblaffte, weil er immer noch nicht aufgestanden war. Mühsam richtete sich der geschlagene Mann auf. Stumpfes blondes Haar glitt beiseite und enthüllte ein ausgezehrtes, blasses Gesicht, das bereits anzuschwellen begann. Ein elbisches Gesicht.
Alexis wandte sich abrupt um und tauchte in der Menschenmenge unter.
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„Iskander?“ Der Junge legte den Kopf schräg und musterte Alexis prüfend. „Warum sucht ihr den alten Spinner?“
Sie presste verärgert ihre Lippen aufeinander. „Das geht dich gar nichts an“, entgegnete sie knapp und ihre Stimme klang scharf vor unterdrücktem Zorn. „Weißt du nun, wo er wohnt oder nicht?“
„Vielleicht.“ Ein unverschämtes Grinsen verzog seine Lippen. „Aber ich sage es euch nicht.“ Er machte eine betonte Pause. „Es sei denn, ihr hättet ein paar überflüssige Scheinchen in euren Taschen…“
Alexis war übel. Noch ein Kind und schon so von Gier und Eigennutz zerfressen – war es ein Wunder, dass die Städte der Menschen schon aus einer Meile Entfernung stanken?
Sie haben alle den Tod verdient.
Sie schreckte zusammen, als sie sich des Gedankens bewusst wurde. Unwillkürlich legte sich ihre linke Hand auf ihren angeschwollenen Bauch.
Der Junge bemerkte die Geste. Und er bemerkte noch etwas anderes – wie der raufaserige Ärmel zurück glitt und einen schlanken, weißen Arm enthüllte. Alexis zog den Mantel schnell wieder zu, aber es war zu spät. In den dunklen Augen des Menschenkinds zeigte sich Überraschung und jähes Verstehen.
„Ihr… du bist eine Elbe!“, rief er aus und wich einen Schritt zurück. Gleichzeitig musterte er sie erneut, diesmal mit einem so offensichtlich berechnenden Blick, dass ihre Übelkeit höher stieg.
Ein Kind noch!...
Und noch während dieser verzweifelte, ungläubige Ausruf in ihrem Kopf verhallte, hatte ihre rechte Hand bereits die Manteltasche verlassen und konfrontierte den Jungen mit dem schwarzen Lauf des silbernen Revolvers. Ihr Finger schmiegte sich an den Abzug.
„Keinen Laut mehr, hast du verstanden?“, fragte sie eiskalt. Er nickte einmal. Keine Angst durchzog sein Gesicht, nur leise Verwunderung. Warum hatte eine Elbe eine Waffe?
Ich sollte abdrücken. Nur um ihn davon zu überzeugen, dass ich mit so etwas umgehen kann.
Stattdessen wiederholte sie ihre Worte von vorhin. „Also: wo wohnt Iskander? Ich stelle dir diese Frage nur noch dieses mal.“
Er sah sie an und sah ein wunderschönes Antlitz, nicht ausgemergelt von schwerer Arbeit und lebenslanger Gefangenschaft wie die der anderen Elben. Die wahre Schönheit eines freien Volks, die den Menschen fremd war.
Er schluckte schwer. Verunsicherung verdrängte die Habgier. „Iskander… lebt nicht hier. Nicht in Eylan.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Nicht in Eylan?“
„Nein. Er ist letztes Jahr für ein paar Tage hierher gekommen… aber dann wieder verschwunden.“
„Wohin?“ Der Revolver zielte immer noch auf ihn, direkt auf seine Stirn. Er konnte den Blick nicht von diesen eiskalten, grünen Augen abwenden.
„Ich… weiß es nicht. Wirklich nicht. Keiner hat sonderlich auf ihn geachtet. Er ist… ist doch nur ein alter Spinner…“
Er log nicht. Alexis wusste das ganz genau. Trotzdem wurde für einen Augenblick lang der Drang, den Abzug zu betätigen, fast schon übermächtig.
Er ist doch nur ein menschliches Balg. Eins mehr oder weniger, wo ist da der Unterschied??
Er starrte sie an ohne zu blinzeln, die Pupille groß und schwarz und glänzend. Aber Alexis sah andere Augen vor sich, nicht dunkel und angsterfüllt wie die eines jungen Tieres, sondern helle, klare, ehemals von Licht durchflutet, Augen, deren Blick jetzt gebrochen und abgestumpft war. Sie hörte noch einmal das dumpfe Geräusch des Aufpralls eines mageren Körpers auf dem harten, künstlich angelegten Boden. Es musste unglaublich schmerzhaft gewesen sein. Aber sein Gesicht war völlig… ausdruckslos gewesen. Leer wie die blinden Häuser dieser Stadt.
Leblos.
Alexis ließ den Revolver langsam sinken. Ihre Hand zitterte ein wenig.
Kapitel 1: Die leere Stadt
Alexis betrachtete ihre langen, schlanken Finger. Nachdenklich ballte sie ihre Hand zur Faust und entspannte sie wieder. Da war Kraft, verborgene Kraft, die kaum einer erahnen konnte hinter dem Äußeren, so fragil wie Glas.
Kraft. Kraft genug?
Sie zwang sich die Hand runter zu nehmen. Es musste genug sein. Es würde genug sein.
Für uns beide.
Sie berührte ihren Bauch und spürte Bewegung. Kein Lächeln veränderte ihr Gesicht. Sie spürte kalte Gedanken in ihrem Kopf und keine Sonnenwärme würde ihr erfrorenes Inneres erreichen. Auch wenn sie sich danach sehnte.
Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Zweifel rauben mir bloß die letzte Kraft.
Ja. Sie musste weiter.
Alexis kannte diesen Wald. Sie war nun schon eine Woche lang durch ihn unterwegs und hatte keine Angst. Sie war eine Elbe, sie brauchte sich nicht vor der Natur zu fürchten. Es waren die Menschen, die keinen Respekt vor ihrer Umgebung kannten und alles um sich herum verändern mussten, ihren eigenen egoistischen Wünschen anpassen.
Bald würde sie nach Eylan kommen, der nächstgelegenen Großstadt der Menschen. Sie hätte all diese Städte am liebsten gemieden, aber sie war auf der Suche. Und unglücklicherweise sogar nach einem Menschen. Daher musste sie sich wohl oder übel zusammenreißen.
Wenn es in diesen Menschensiedlungen nur nicht immer so stinken würde!
Es war ihr ein Wunder, wie die anderen Elben das aushielten, diejenigen, die dauerhaft in den Städten wohnten. Vielleicht gewöhnte man sich ja daran. Andererseits hatten sie nicht wirklich eine Wahl.
Das Gewicht der Waffe lastete ungewohnt in ihrer Hand. Allein das schmierige Gefühl der kalten Oberfläche ekelte sie an, aber sie widerstand tapfer dem Drang, den Revolver so weit wegzuschleudern, wie es möglich war. Sie brauchte dieses Spielzeug der Menschen. Die Stadt ließ ihr keine große Wahl. Außerdem konnte sie sie dort vielleicht sogar verkaufen. Nicht, dass sie Geld nötig hätte… aber bei Menschen ging man lieber sicher.
++++
Man sah die Stadt schon von weitem. Seit kurzem war es bei den Menschen so etwas wie Mode, unglaublich hohe Gebäude zu errichten. Anscheinend gab es sogar so etwas wie einen Wettstreit darum. Alexis wusste nicht, wer zur Zeit vorne lag, aber Eylan schien sich die größte Mühe zu geben, zu den Siegern zu gehören.
Drei schlanke Türme ragten über der Stadt auf. Sie bestanden aus irgendeinem Metall, das die funkelnden Lichtstrahlen gnadenlos brach und zurücksandte. Alexis wandte ihre Augen schnell davon ab. Für sie waren diese… Gebilde so etwas wie eine Perversion der Natur. Sie waren nur leere Flächen, die den Anblick des Himmels beschmutzten.
Und darin wohnen tatsächlich Menschen.
Der Wald lichtete sich nicht langsam, er hörte stattdessen abrupt auf; von einem Augenblick auf den nächsten stand Alexis nicht mehr unter der schützenden Laubschicht, sondern unter freiem Himmel. Die Bläue erstreckte sich über ihr… und vor ihr wucherte die Stadt.
Und sie wucherte tatsächlich. Alexis war vor einigen Jahren schon einmal in Eylan gewesen, aber hätte sie nicht gewusst, dass dies vor ihr dieselbe Stadt war, hätte sie sie niemals wieder erkannt. In dem verhältnismäßig kleinen Zeitraum hatte es die Stadt geschafft, sich noch mehr auszubreiten. Wie ein lebendiges Wesen hatte sie Ausläufer in die Wälder und Wiesen in der Umgebung geschickt, um die ganze Landschaft langsam in Beschlag zu nehmen. Wo man auch hinsah, überall ragten die plumpen Menschenbehausungen aus dem Boden.
Die meisten waren immer noch recht niedrig, nicht höher als bis zum zweiten Stock, aber trotzdem stieß der Anblick Alexis ab. Die Häuser waren allesamt rechteckig, mit höchstens einem Fenster an einer Seite, alle in der gleichen monotonen gelben Farbe, wie durch dicke Staubschichten bedeckt. Wo Eylan an sich als gigantischer Organismus erschien, mangelte es den einzelnen Gebäuden entscheidend an Persönlichkeit und Individualität. Sie zeigten der Welt gleichgültige, tote Fassaden und starrten durch dicke Fensterscheiben hasserfüllt nach draußen.
Kaum zu glauben, dass Menschen darin Tag für Tag verbrachten, das ganze Leben lang eingepfercht zwischen vier Wänden und einem Dach.
Alexis bemerkte, dass sie voller Widerwillen am Waldrand stehen geblieben war. Sie stieß die Zähne zusammen und zog sich ruckartig die Kapuze über den Kopf. Nein, sie würde sich nicht von ihrer zimperlichen elbischen Natur aufhalten lassen! Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.
Der schmale Waldpfad vereinigte sich mit einer der Hauptstraßen und schon bald war unter Alexis’ Füßen nicht Erde und Gras, sondern harter, unvertrauter Pflasterstein. Durch die weichen Sohlen ihrer Sandalen hindurch spürte sie jede Ausbuchtung. Der schwere Mantel, den sie sich übergeworfen hatte, rieb unangenehm an ihrer Haut und verstärkte noch die Hitze dieses jungen Frühlingstages. Alexis schwitzte bald und wünschte sich nichts sehnlicher, als das belastende Kleidungsstück abstreifen zu können, um wieder den Wind an ihrer Haut zu spüren. Aber sie wusste, dass das ein Fehler wäre, den zu bereuen ihr nicht die Zeit bleiben würde.
Menschen strömten neben ihr in die Stadt hinein; Bauern vom Land, die ihre wenigen Waren auf dem Markt anbieten wollten, neugierige Reisende, heimkehrende Reisende, einige Händler und Leute der Stadtwache, die von ihrem Rundgang zurückkamen. Alexis spürte misstrauische Blicke über ihre verhüllte Gestalt gleiten und senkte den Kopf, so dass der Schatten der Kapuze ihr Gesicht verbarg. Nur einige verirrte helle Strähnen blieben an dem rauen Stoff des Mantels hängen.
Ihre Hand umklammerte krampfhaft den Griff des Revolvers. Sie hatte nicht vor sich gefangen nehmen zu lassen. Unter keinen Umständen. Allein der Gedanke an die fensterlosen, stickigen, engen, unterirdischen Räume, die die Menschen Gefängniszellen nannten, ließ sie erschaudern. Lieber ein schneller Tod von eigener Hand.
Dann hätte es allerdings keinen Sinn gehabt, bis hierher zu überleben…
Sie kam nicht in die Verlegenheit, diesen Konflikt lösen zu müssen. Irgendwo weiter vorne ertönte Klirren und zornige Stimme riefen Beschimpfungen und Flüche. Die Wachen wandten ihre Aufmerksamkeit dem aktuellen Geschehen zu.
Als Alexis im Strom der Menge daran vorbeiging, erkannte sie, was passiert war: zwei Händler stritten sich lautstark mitten auf der Straße und ignorierten den dabei aufstauenden Verkehr. Die Wachleute griffen ein und versuchten die beiden Männer zu beruhigen, was allerdings nur von mäßigem Erfolg gekrönt war. Anscheinend war der Streit darüber entbrannt, welcher der beiden Händlerkarren Vorfahrt hatte. Und stur, wie es Menschen nun mal waren, weigerten sich beide ihren Anspruch aufzugeben, trotz der scharfen Worte der Wächter. Die Situation konnte jeden Moment eskalieren. Alexis sah genau, dass die Wachmänner bereits nach ihren Waffen fassten.
Da entschied einer der Händler, seine Wut auf andere Weise abzureagieren. Er drehte sich abrupt um und schlug seinem Diener mit voller Wucht ins Gesicht.
Der gezielte Hieb traf das Opfer völlig unvorbereitet und riss es zu Boden. Alexis konnte den Aufprall fast in ihrem eigenen Körper fühlen, die knochenbrechende Gewalt. Sie fühlte ihren eigenen Herzschlag stocken, Anspannung ergriff blitzartig von ihr Besitz. Trotz des Menschenandrangs, der sie weiterzuzerren bestrebt war, rührte sie sich nicht von der Stelle.
Ich kann nichts tun, sagte sie sich nachdrücklich. Ich kann nichts tun!
Der Händler setzte an, den wehrlos daliegenden Mann zu treten.
Nein!
Einer der Wachleute ergriff den Händler an der Schulter und sagte etwas, was wegen der Entfernung unverständlich blieb. Es sah nach einer milden Zurechtweisung aus. Währenddessen dirigierte einer seiner Kollegen den zweiten Streithahn auf eine andere Spur, so dass beide Karren weiterfahren konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Noch einige Worte wurden zwischen den Beteiligten gewechselt, dann zogen die Wachleute auch schon ab.
Alexis beobachtete regungslos, wie der Händler seinen Diener anblaffte, weil er immer noch nicht aufgestanden war. Mühsam richtete sich der geschlagene Mann auf. Stumpfes blondes Haar glitt beiseite und enthüllte ein ausgezehrtes, blasses Gesicht, das bereits anzuschwellen begann. Ein elbisches Gesicht.
Alexis wandte sich abrupt um und tauchte in der Menschenmenge unter.
++++
„Iskander?“ Der Junge legte den Kopf schräg und musterte Alexis prüfend. „Warum sucht ihr den alten Spinner?“
Sie presste verärgert ihre Lippen aufeinander. „Das geht dich gar nichts an“, entgegnete sie knapp und ihre Stimme klang scharf vor unterdrücktem Zorn. „Weißt du nun, wo er wohnt oder nicht?“
„Vielleicht.“ Ein unverschämtes Grinsen verzog seine Lippen. „Aber ich sage es euch nicht.“ Er machte eine betonte Pause. „Es sei denn, ihr hättet ein paar überflüssige Scheinchen in euren Taschen…“
Alexis war übel. Noch ein Kind und schon so von Gier und Eigennutz zerfressen – war es ein Wunder, dass die Städte der Menschen schon aus einer Meile Entfernung stanken?
Sie haben alle den Tod verdient.
Sie schreckte zusammen, als sie sich des Gedankens bewusst wurde. Unwillkürlich legte sich ihre linke Hand auf ihren angeschwollenen Bauch.
Der Junge bemerkte die Geste. Und er bemerkte noch etwas anderes – wie der raufaserige Ärmel zurück glitt und einen schlanken, weißen Arm enthüllte. Alexis zog den Mantel schnell wieder zu, aber es war zu spät. In den dunklen Augen des Menschenkinds zeigte sich Überraschung und jähes Verstehen.
„Ihr… du bist eine Elbe!“, rief er aus und wich einen Schritt zurück. Gleichzeitig musterte er sie erneut, diesmal mit einem so offensichtlich berechnenden Blick, dass ihre Übelkeit höher stieg.
Ein Kind noch!...
Und noch während dieser verzweifelte, ungläubige Ausruf in ihrem Kopf verhallte, hatte ihre rechte Hand bereits die Manteltasche verlassen und konfrontierte den Jungen mit dem schwarzen Lauf des silbernen Revolvers. Ihr Finger schmiegte sich an den Abzug.
„Keinen Laut mehr, hast du verstanden?“, fragte sie eiskalt. Er nickte einmal. Keine Angst durchzog sein Gesicht, nur leise Verwunderung. Warum hatte eine Elbe eine Waffe?
Ich sollte abdrücken. Nur um ihn davon zu überzeugen, dass ich mit so etwas umgehen kann.
Stattdessen wiederholte sie ihre Worte von vorhin. „Also: wo wohnt Iskander? Ich stelle dir diese Frage nur noch dieses mal.“
Er sah sie an und sah ein wunderschönes Antlitz, nicht ausgemergelt von schwerer Arbeit und lebenslanger Gefangenschaft wie die der anderen Elben. Die wahre Schönheit eines freien Volks, die den Menschen fremd war.
Er schluckte schwer. Verunsicherung verdrängte die Habgier. „Iskander… lebt nicht hier. Nicht in Eylan.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Nicht in Eylan?“
„Nein. Er ist letztes Jahr für ein paar Tage hierher gekommen… aber dann wieder verschwunden.“
„Wohin?“ Der Revolver zielte immer noch auf ihn, direkt auf seine Stirn. Er konnte den Blick nicht von diesen eiskalten, grünen Augen abwenden.
„Ich… weiß es nicht. Wirklich nicht. Keiner hat sonderlich auf ihn geachtet. Er ist… ist doch nur ein alter Spinner…“
Er log nicht. Alexis wusste das ganz genau. Trotzdem wurde für einen Augenblick lang der Drang, den Abzug zu betätigen, fast schon übermächtig.
Er ist doch nur ein menschliches Balg. Eins mehr oder weniger, wo ist da der Unterschied??
Er starrte sie an ohne zu blinzeln, die Pupille groß und schwarz und glänzend. Aber Alexis sah andere Augen vor sich, nicht dunkel und angsterfüllt wie die eines jungen Tieres, sondern helle, klare, ehemals von Licht durchflutet, Augen, deren Blick jetzt gebrochen und abgestumpft war. Sie hörte noch einmal das dumpfe Geräusch des Aufpralls eines mageren Körpers auf dem harten, künstlich angelegten Boden. Es musste unglaublich schmerzhaft gewesen sein. Aber sein Gesicht war völlig… ausdruckslos gewesen. Leer wie die blinden Häuser dieser Stadt.
Leblos.
Alexis ließ den Revolver langsam sinken. Ihre Hand zitterte ein wenig.