1. Kapitel: Lavenders Mission

1. Kapitel: Lavenders Mission

Lavender war sich sicher, dass dieser Sommer ätzend werden würde. Alles hatte angefangen, als sie ihrer Mutter vom Sommercamp in den Bergen erzählt hatte. Zugegeben, Lavender war kein besonderer Freund von Steilhängen und engen Höhlen, aber im Moment war alles besser, als zu Hause herumzusitzen und ihrer Mutter und ihrem Freund beim Turteln zuzusehen. Nun, da ihre Mutter mit Thomas zusammen war, benahm sie sich unmöglich.
Seit einer Woche bettelte Lavender schon. Sie hatte alle Trümpfe ausgespielt, gebeten, erklärt und geheult. Nichts. Als sie jetzt am Mittagstisch saß, beschloss sie, einen allerletzten Versuch zu unternehmen. "Ich komme endlich mal wieder unter Menschen, Mom. Du sagst doch, ich bin viel zu oft alleine zu Hause.", sagte sie zwischen zwei Bissen.
"Du gehst nicht, Lav, und das habe ich dir schon mindestens fünfhundertmal erklärt. Also vergiss es.", erwiderte ihre Mutter, ohne auch nur aufzusehen. "Aber, was hast du denn für ein Problem? Ich bin alt genug, um auf mich aufzupassen." "Nein. Keine Widerrede." Ihr Stiefbruder griente zu ihr herüber. "Pech gehabt, kleines Schwesterchen. Du wirst wohl die Ferien bei Mami und Papi verbringen."
"Es wundert mich, dass sie dich hier raus lassen, Alan, wo doch erwiesen ist, das Jungs in der geistigen Entwicklung zwei Jahre zurückliegen. Da müssten sie dich theoretisch auch einsperren, Kumpel.", giftete Lavender zurück und brachte ihn damit zum Schweigen.
Innerlich kochte sie. Immerhin bin ich 16 Jahre alt, verdammt noch mal. Dieser Idiot Alan darf nur gehen, weil sein Vater keine Lust hat sich mit ihm zu streiten., dachte sie. Diese Familie machte sie noch wahnsinnig. Wütend feuerte sie die Gabel auf den Teller und stand so plötzlich auf, dass sie fast den Stuhl umwarf. Das Protestgeschrei ihrer Mutter überhörend stürmte sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie ging im Zimmer auf und ab, um sich schließlich an den Schreibtisch zu setzten und ihren Computer zu starten. Das Geräusch mit dem sie den Power Knopf drückte, hätte auf der Stelle jeden Computerfreak die Wand hochgejagt. Es war für sie schon zu einer Art Ritual geworden, zu beten, dass der Computer diesmal noch funktionierte und erst das nächste Mal den Geist aufgab. Schließlich schaffte es die alte Kiste doch und Lavender startete das Internetprogramm.
Um diese Uhrzeit war ihre Freundin normalerweise im Chat, stellte sie mit einem Blick auf den Wecker fest. Ihre Finger flogen über die Tasten und im nu war sie im Chat eingeloggt. Sofort wurde sie von Lilina, ihrer Freundin, mit virtuellem Knuddeln und Küsschen empfangen.
Und, hast du deine Mom weichgekocht?, schrieb Lilina.
Keine Chance. Sie bleibt hart wie ein 30 Minuten Ei., antwortete sie.
Ich kann aber nicht ohne dich fahren, Lav.
Sieht so aus, als müsstest du. Tritt den Mädels in den Hintern und erzähl mir dann, wie's war, ok? Oh nein, besser, schick mir ein Foto.
Nein, nein, nein. Gib nicht auf Lavender!
Was soll ich deiner Meinung nach machen? Abhauen, ohne es ihnen zu sagen?
JA! Mach doch mal was verwegenes. Wenn sie morgen aufstehen bist du schon weg. Du kannst ihnen ja einen Brief schreiben. Ich an deiner Stelle würde meine Sommerferien nicht mit einem Liebespärchen verbringen wollen. Lav, bitte.
Lavender lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte auf den Monitor. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Natürlich war es so wahrscheinlich, dass ihre Mutter ausrastete, wie auf den Tag die Nacht folgte. Dazu kämen Hausarrest bis zum Weltuntergang und Kürzung des Taschengeldes auf das absolute Minimum. Andererseits hatte Lilina Recht. Drei Wochen mit diesen Verrückten in einem Haus war mit aller Sicherheit um vieles schlimmer.
Lilina, du hast einen schlechten Einfluss auf mich. Wenn das meine Eltern erfahren, hängen sie dich und mich auf dem Marktplatz kopfüber über den alten Brunnen.
Lavender zögerte, ehe sie die nächsten Worte tippte.
Ich denke darüber nach. Vielleicht, aber nur vielleicht, sehen wir uns morgen an der Bushaltestelle. Keine Garantie.

Lavender schlang wortlos ihr Abendessen herunter und verkroch sich dann unter einem Vorwand in ihrem Zimmer. Den ganzen Nachmittag hatte sie über die verrückte Idee ihrer Freundin nachgedacht und war zu dem Entschluss gekommen, es zu wagen. Ihre Tasche war gepackt, alle Vorbereitungen getroffen. Als der Zeiger ihrer Uhr die Elf schon lange überschritten hatte, verließ sie ihr Zimmer und ging ins Bad um ein paar letzte Dinge mitzunehmen und den Rest ihrer Familie glauben zu machen, sie würde sich fürs Bett fertig machen. "Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht.", rief sie die Treppe herunter.
Zurück in ihrem Zimmer wartete sie noch fünf Minuten, dann schlüpfte sie aus ihrem Schlafanzug und in eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster, ließ die warme Abendluft herein und warf die Sporttasche auf das Garagendach, das sich direkt darunter befand. Leise wie eine Katze folgte sie ihr, sprang vom Garagendach und landete schließlich auf dem Bürgersteig.
Immer darauf bedacht im Schatten zu bleiben, schlich sie um die Ecke in die Aeternagasse, doch plötzlich erstarrte sie. Stimmen. Lavender hielt den Atem an und wich an die Garage zurück. Mit klopfendem Herz lauschte sie, doch schon bald konnte sie erleichtert aufatmen. Das waren nicht ihre Eltern. Ein letztes Mal sah sie prüfend zurück, ob ihr auch niemand folgte und trat dann auf die Straße heraus.
Obwohl Vollmond und Straßenlaternen die Aeternagasse hell erleuchtet, sah sie die beiden Schatten, die irgendwo vor ihr kichern herumhuschten, zu spät. Sie landete sehr unangenehm auf ihrem Hintern, verlor ihre Tasche und, als wäre das noch nicht genug, fielen die beiden Schatten auch noch auf sie und trieben ihr die Luft aus den Lungen. Nach einem kurzen Gerangel löste sich das Knäuel aus Armen und Beinen und Lavender schaffte es aufzustehen.
"Was soll denn das?", zischte sie. Ein kurzes Kichern erklang, gefolgt von einem Fingerschnipsen und eine Fackel erhellte die Szenerie. Vor ihr standen ein Junge und ein Mädchen, beide mehr als einen Kopf kleiner als sie. Allem Anschein nach waren sie Zwillinge. Beide hatten die gleichen braunen Locken, die ihre runden Gesichter einrahmten und im Kontrast zu den leuchtend grünen Augen standen. Irgendwie erinnerten sie Lavender an Katzen.
"Limond, alle Knochen noch an ihrem Platz?", fragte das Mädchen in ihrer hohen Kinderstimme und schwenkte die Fackel herum. "Wenn du nicht versuchst mich anzuzünden.", entgegnete der Angesprochene. "Schon verstanden. Aber wer ist denn diese rücksichtslose Person, die uns überrannt hat?" Das Katzenmädchen schwenkte die Fackel in Lavenders Richtung, so dass diese schnell ausweichen musste, um nicht aus Versehen angesengt zu werden.
"Hat man euch Kindern nicht beigebracht, dass man nicht mit Feuer spielt oder sich mitten in der Nacht alleine in einer dunklen Gasse herumtreibt?", fragte Lavender. "Kinder? Wer ist hier das Kind, man? Du rennst doch wie eine Wildgewordene um die Ecke.", meinte Limond. "Gut lassen wir das. Kommt schon, ich bringe euch nach Hause. Eure Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen."
Die Zwillinge kicherten. "Das war süß. Nein, unsere Eltern suchen uns bestimmt nicht. Ich bin Loar und das ist mein Bruder Limond.", sagte die Kleine weiter und streckte Lavender eine Hand hin, die in einem schwarzen Handschuh steckte. Widerwillig schüttelte sie dem Mädchen die Hand. "Das ist alles sehr schön, aber ihr solltet jetzt nach Hause. Ich muss auch weiter." "Nein, warte. Wir suchen ein Mädchen. Sie ist 16 Jahre alt, wohnt im Nachtweg mit ihrer Mutter, ihrem Vater und einem Bruder. Ihre Haare sind schwarz und ihre Augen grau. Sie ist wohl ungefähr so groß wie du. Kennst du sie?"
"Wenn sie nicht zufällig Lavender Apple heißt, dann ist es sehr unwahrscheinlich.", entgegnete Lavender mit einem Grinsen. "Ja, das war der Name.", quietschte Loar erfreut. "Das bin ich, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit für so etwas. Sagt Ellen, oder wer auch immer euch geschickt hat, dass ich ihren Scherz nicht sehr lustig finde. Und um Gottes Willen geht heim, es ist schon stockfinster."
Lavender wandte sich zum Gehen, doch Loar hielt sie mit unerwarteter Kraft fest. "Bleibe und höre uns zu, Apfelmädchen.", sagte sie mit beschwörender Stimme und auf einmal sah sie gar nicht mehr aus wie ein harmloses Kind. Irgendetwas an ihr wirkte plötzlich sehr erwachsen. Ob es nur das ernste Gesicht war? "Wir wurden hierher geschickt, weil wir dich brauchen."
"Haben eure Eltern kein Telefonbuch? Da stehen jede Menge Babysitter drin." "Nein, um so etwas geht es nicht. Dein Bruder ist in Gefahr, jemand will ihn entführen." "Sicher?", fragte Lavender beunruhigt. "Wenn das so ist, muss ich zurück und ihn sofort warnen." Loar schüttelte den Kopf, dass ihre braunen Locken hin und her flogen. "Du kannst ihm so nicht helfen, Lavender. Dafür ist es zu spät. Du musst mit uns nach Zwie kommen, nur dort können wir Hilfe holen."
"Zwie? Liegt das hier in der Nähe?" "Das Tor ist gleich um die Ecke." Lavender stutzte. "Welches Tor?" "Das Tor nach Zwie. In unsere Welt." "Jetzt ist es aber genug, Kinder. Es gibt keine anderen Welten." Langsam wurde Lavender sauer. Diese Kinder hielten sie auf. Merken die denn nicht, dass ich nicht darauf hereinfalle?
"Na gut, du hast es so gewollt." Das kleine Mädchen holte tief Luft. "Helena Apple!", rief sie in einer Lautstärke, dass man sie am Nordpol noch hören musste. Und das war noch nicht alles. "Helena Apple, ihre Tochter ist hier!" "Spinnst du?" Lavender hielt der Kleinen den Mund zu und versuchte sie um die Ecke zu schleifen, doch ihr Opfer wehrte sich mehr als erwartet. Zu ihrem Erschrecken ging im Flur des Hauses - ihres Hauses, aus dem sie gerade geflohen war - das Licht an.
Sie glaubte sogar die Schritte ihrer Mutter bis hierher zu hören. "Jetzt musst du wohl oder übel mit uns kommen.", sagte der Junge, den seine Schwester als Limond vorgestellt hatte. Lavender ließ das Mädchen los. Nicht etwa, weil sie sich anders entschieden hatte, sondern, weil das kleine Biest ihr in die Hand gebissen hatte. "Los! Oder willst du etwa hier bleiben?"
Sie fluchte. Was sollte sie jetzt machen? Hier bleiben und warten, dass ihre Mutter sie fand, oder mit diesen etwas, gelinde gesagt, eigenartigen Kindern mitgehen? Alles ist besser als hier zu bleiben. Flackerte ihr neues Motto in neongrünen Buchstaben vor ihren Augen auf. Ich kann mir die Kinder später immernoch vom Hals schaffen. Und ehrlich gesagt, hatte sie keine Möglichkeit mehr sich aus freiem Willen für eine der beiden Optionen zu entscheiden. Denn noch bevor sie ihren Beschluss bekannt geben konnte, hatte Loar sie schon mit sich gezogen.
Der eisige Wind, der auf einmal aus dem Nirgendwo kam, ließ die Fackel flackern und fast erlöschen, während die Dunkelheit um sie herum noch mehr an Intensität gewann. Lavender sah jetzt nicht mehr als verzerrte Schatten, während sie stolpernd und keuchend versuchte mitzuhalten. Nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr erschien, bog Loar nach links ab, stieß eine schwere Metalltür auf und die drei standen in der alten Fabrik.
Lavender kannte sie von früher, hier hatte sie oft mit ihren ehemaligen Freundinnen gespielt. Von den Fenstern waren nur noch gezackte Glasränder übrig, die aussahen, wie ein Schwarm Haie, die mit aufgerissenem Maul nach ihrer Beute schnappten. Der Unrat auf dem Boden bildete ein wahres Labyrinth, doch Loar fand mit schlafwandlerischer Sicherheit ihren Weg zu einer Tür an der Rückwand.
Lavender stützte die Hände auf die Knie und erlaubte sich eine kleine Verschnaufpause. In der Zwischenzeit zündete Loar mit der Fackel einen Haufen aus Stroh und Lumpen an, der am Fuße der Tür lag. Das zischende Feuer tauchte das metallene Rechteck in ein unstetes, düster rotes Licht. Als Lavender aufsah, bemerkte sie, dass die Zwillinge begonnen hatten Worte in einer fremden Sprache zu intonieren. Ihr Sprechgesang verursachte einen leises Schaudern bei Lavender. Warum kommt mir diese Sprache so bekannt vor? Noch während sie das dachte, flammte die Tür in einem gleißend hellen Licht auf.
Geblendet schloss Lavender die Augen. Alles was sie wahrnahm war eine unbeschreibliche Wärme, die jedoch weit davon entfernt war heiß zu sein. Ein summendes Geräusch erfüllte die Fabrik, betäubte die unvorbereitete Lavender und ließ sie nach vorne taumeln, auf die Tür zu. Danach wusste sie nicht, ob sie vorwärts ging, rückwärts, nach oben oder unten.
Aber während sie durch das Tor schritt spürte sie, dass sie eine gewaltige Entfernung zurücklegte. Größer als man sie je auf der Erde zurücklegen konnte. Trotz dieser Gewissheit, konnte sie nicht annähernd sagen, wie lange sie unterwegs war. In diesem Raum zwischen den Welten (?) waren alle Gesetze der Zeit aufgehoben, wenn es so etwas überhaupt gab. Nach einer Sekunde, oder auch einer Ewigkeit, verlor das Licht um sie herum an Leuchtkraft.
Im ersten Moment konnte sie nichts erkennen. Sie hörte Vogel zwitschern, roch frisches Gras und Wildblumen. Irgendwo rauschte ein Bach. Lavender öffnete die Augen (Oder waren sie schon die ganze Zeit offen?) und erblickte zum ersten Mal Zwie. Vor ihr erstreckte sich ein im Wind Wellen schlagendes Grasland, soweit das Auge reichte. Ein Fluss schlängelte sich durch die Landschaft und führte schließlich zu einer Stadt, die von einer hohen Mauer umgeben und von vielen Türmen bewacht wurde. Im Hintergrund war ein Wald zu erkennen, der sich neben dem blauen Band des Flusses herschlängelte, soweit nach rechts, dass Lavender sein Ende kaum ausmachen konnte.
"Ich glaub das nicht! Das hier ist echt. Es existiert. Ihr habt mich tatsächlich in eine andere Welt gebracht.", rief sie begeistert. "Hey, was habt ihr?" Jetzt, wo die Zwillinge in ihrer Welt waren, warfen sie ständig nervöse Blicke um sich. Mehr als einmal sahen sie dabei zum Wald auf der anderen Seite des Flusses herüber. "Wir sollten gehen, die Königin erwartet uns.", sagte Loar.
Während sich die kleine Gruppe nach Norden wand, in Richtung der Stadt, sah sich Lavender weiter fasziniert um. Im ersten Moment schien dieser Ort genauso auch in ihrer Welt existieren zu können, erst beim näheren Hinsehen fielen ihr die kleinen unmerkbaren Unterschiede auf. Es fiel ihr schwer die Abweichungen in Worte zu fassen. Es war fast so, als wäre in Zwie alles viel intensiver, die Sonne stand zu genau im Zenit, das Gras war zu grün und der Himmel zu wolkenlos, zu perfekt.
"Als hätte man den Fernseher komisch eingestellt.", murmelte sie zu sich selbst. "Eure Welt ist ein wenig anders, nicht wahr? Sie ist viel trüber und farbloser.", meinte Loar. Ihr Bruder brummte. "Wir werden verfolgt.", fügte er hinzu und drehte sich mit bedeutungsvoller Miene um. Ohne das Lavender etwas davon mitbekommen hatte, hatte sich eine seltsame Gruppe Reiter an sie herangeschlichen.
Sie waren ungefähr ein dutzend, Männer und Frauen, allesamt mit schwarzen Haaren. Sie ritten auf Tieren, die aussahen, wie Kamele ohne Höcker, nur dass sie statt Fell eine lederne Haut hatten und auffällig kräftige Hinterbeine. Die Reittiere schnaubten unruhig, als sich eine Frau aus ihrer Mitte löste und auf Lavender und die Zwillinge zuritt. Sie trug ihre Haare, die bis zum Kinn schwarz und von da an bis zu den Hüften weiß waren, zu einem langen Zopf geflochten.
"Wen haben wir denn da? Drei kleine Kinder, ganz alleine auf dem Weg in die Stadt. Habt ihr eure Eltern verloren? Sollen wir euch nach Hause bringen?", fragte die Frau und ihre silbernen Augen funkelten spöttisch zu den dreien herunter. Einige ihrer Begleiter lachten höhnisch. "Nein, danke Milyn. Im Gegensatz zu euch finden wir unseren Weg. Wir müssen niemandem folgen.", entgegnete Loar. "Pass besser auf, was du sagst, Kleine. Du kannst froh sein, dass ich heute einen guten Tag habe, sonst würdest du jetzt schon als Leiche im Fluss schwimmen."
Die Frau warf Lavender noch einen kühlen Blick zu, dann zügelte sie ihr Reittier und verschwand mit ihren Begleitern in Richtung Stadt. "Wow, die war ja echt schlecht drauf. Kennt ihr die etwa?", wollte Lavender wissen. "Milyn Renlyal, eine Schwarzmagierin. Wahrscheinlich nicht auf unserer Seite. Also nicht mehr, als ein widerliches Insekt unter vielen."

Als sie die Stadt erreichten, war die Sonne am Himmel schon ein gutes Stück weiter gewandert. Sie durchschritten das bestimmt zehn Meter hohe Stadttor und gelangten über eine breite, mit Steinen gepflasterte Straße auf den Marktplatz. Ein Cocktail bekannter und unbekannter Gerüche kam Lavender entgegen. Gewürze, Käse, Wurst und etwas das an vergorene Äpfel erinnerte, aber irgendwie anders war. Wie auf Märkten ihrer Welt, priesen Marktschreier lauthals ihre Waren an, sie sah quengelnde Kinder und eine überraschende Zahl an Zwillingen oder Drillingen.
Sie überquerten den Marktplatz und bogen in eine schmale Gasse mit unzähligen Abzweigungen ein. Die Häuser standen hier so dicht, als wollten sie über ihnen zusammenwachsen, so dass Lavender froh war bald wieder eine breitere Straße betreten zu können. Es wurde um einiges leiser und nur hier und da sah man Menschen. Die Straße wurde rechts und links gesäumt von Blumenkübeln in denen lilane Blumen wuchsen, die einen Duft schweren süßen Duft verströmten.
Sie führte zu einem großen Gebäude, einem Zwitter aus Burg und Palast, das das Herz der Stadt bildete. Neben den größten Blumentöpfen, die Lavender jemals gesehen hatte, standen zwei grimmig schauende Wachen in dunkelblauen Gewändern. "Das hier ist der Blumenpalast, der Sitz der Königin von Zwie.", sagte Limond, der noch etwas zerknautscht aussah, weil sie sich durch die Menschenmassen hatten zwängen müssen. "Dann erhalte ich hier also eine Erklärung dafür, warum man mich entführt hat.", stellte Lavender fest.
Limond warf ihr einen giftigen Blick zu und ging dann vorneweg, geradewegs an den Wachen vorbei. "Nimm es ihm nicht übel, er ist immer so. Er kann nicht aus seiner Haut raus, mein Bruder." Loar grüßte die Wachen und führte Lavender in das Innere des Palastes. Die Wände der Vorhalle waren mit lilanen Blumen zugewachsen, die sich an Fenstern und Säulen hochrankten. Es kam Lavender vor, als hätte sie einen Garten mit Dach betreten. Das einzige was jetzt noch fehlte waren zwitschernde Vögel.
"Der Thronsaal ist gleich hier.", meinte Loar und schritt etwas schneller aus. Durch einen gläsernen Durchgang, der den Blick auf einen prächtigen Garten freigab, kamen sie in einen weiteren riesigen Raum. Und tatsächlich, hier hörte man Vögel zwitschern. Die gesamte rechte Seite des Thronsaals wurde von einem Käfig eingenommen in dem hunderte Vögel saßen, alle von verschiedener Größe und Farbe.
"Da seid ihr endlich. Was habt ihr gemacht, die Blumen in der Vorhalle gezählt?", sagte Limond ungeduldig. Der Junge war wie aus dem Nichts neben dem Käfig aufgetaucht. "Hey, lasst mich mal zehn Sekunden diese ganzen Eindrücke verarbeiten, sonst gibt es einen Kurzschluss in meinem Gehirn und ihr müsst euch ein neues Opfer suchen.", erwiderte Lavender. Inzwischen sah sie sich noch einmal genauer um. Hinter den Stangen des Vogelkäfigs war alles in Bewegung und die linke Wand war eine einzige Fensterfront, von der aus man einen guten Teil der Stadt überblicken konnte.
"Ok, das reicht jetzt. Du bist hier nicht zum Spaß.", meinte Limond. Widerwillig riss sich Lavender von dem Anblick los und folgte den Zwillingen zum Thron am anderen Ende des Raumes. Die Frau, die darauf saß, wirkte mit ihrem fließenden Gewand wie ein Papagei. Ihr rundliches Gesicht strahlte vor Freude, als sie die kleine Gruppe erblickte. "Willkommen in Zwie, Lavender. Und willkommen zurück, Limond und Loar.", sagte sie.
"Danke. Aber ich hoffe, sie können mir erklären, was ich überhaupt hier mache.", erwiderte Lavender. "Die Zwillinge haben dich wohl nicht ausreichend informiert. Nun ja, das ist nicht ganz so einfach zu erklären. Lass mich ganz von vorne anfangen. Es gibt eine uralte Familie von Magiern, die in einer Stadt am Meer ihren Sitz hat. Familien dieser Art zeichnen sich immer dadurch aus, dass sie besonders mächtige Magier sind, weil sie ihre Blutlinien rein gehalten haben. Nicht selten heiraten sie untereinander.
Aber nun wurde in dieser einen Familie einer geboren, dem von Anfang an die Fähigkeit, das Talent der Magie, versagt blieb. Linceul Ilvark, das ist sein Name, wurde von seinen Eltern ausgestoßen und auf ein Schloß verbannt. Seitdem sinnt er auf Rache. Schon einige Jahre lang sucht er nach einem Weg, sich Magie zu verschaffen. Und leider scheint er ihn nun gefunden zu haben."
"Und was haben mein Stiefbruder und ich damit zu tun?" "Das wollte ich gerade erzählen. Um sein Ziel zu erreichen, braucht Ilvark einen 'Schlafenden Magier'. Das ist jemand, der nichts von seiner Magie weiß und sie deshalb nicht benutzt." "Doch nicht etwa mein Bruder?" Die Vorstellung, dass Alan ein Magier war, war mehr als nur grotesk. Nie im Leben. Da ist es wahrscheinlicher, dass der Osterhase fliegen kann. "Genau, dein Bruder."
"Nein, nein und nochmal nein. Das können sie nicht ernst meinen. Nicht er!" "Auch wenn es sich unglaubwürdig anhört, so ist es." "Aber - angenommen sie haben Recht - warum helfe ich ihm dann, indem ich mich hierher entführen lasse?" "Weil du hier nach jemandem suchen sollst, der Ilvark und die Magier in seinen Diensten aufhalten kann. Ich will, dass du nach einer Magierin suchst und sie benachrichtigst. Sie wird uns helfen."
"Könnt ihr nicht einfach einen ... einen Flaschengeist schicken, der dieser Frau bescheid sagt?", wollte Lavender wissen. "Unsere normalen Wege der Kommunikation stehen uns in diesem Fall nicht zur Verfügung. Eine derartige Magie könnte verfolgt und die Magierin, die unsere Rettung ist, getötet werden. Glaube mir, Ilvark schreckt vor nichts zurück. Aber eine kleine Gruppe fällt nicht auf. Deswegen wirst du die Zwillinge mit dir nehmen, sie kennen sich hier aus."
"Darf ich das nochmal zusammenfassen? Es gibt da also einen größenwahnsinnigen Kerl, der gerne Zaubern möchte und deswegen meinen magisch talentierten Stiefbruder entführen will. Deswegen soll ich jetzt mit zwei Kindern durch die Gegend reiten und eine Magierin suchen, die ihn aufhalten kann? Hab ich das soweit richtig verstanden, ja? Wow, wenn ich das zu Hause jemandem erzähle, stecken die mich in die Klapse."
Das Gesicht der Königin verfinsterte sich kein bisschen, nachdem Lavender fertig gesprochen hatte. "Ich vertraue dir Lavender. Du glaubst an diese Welt, sonst wärst du gar nicht erst mitgekommen." Das sehe ich anders. Wenn das kleine Kind nicht geschrien hätte... "Genau das brauchen wir: Mut, Willenskraft und deinen Glaube an uns. Und außerdem geht es um deine Familie."
Lavenders Gedanken wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Sie war kurz davor sich auf etwas einzulassen, von dem sie nicht wusste, was daraus werden könnte. Aber hatte sie irgendeine Wahl? "Ok. Ich mach's. Aber wenn das hier vorbei ist, will ich sofort wieder in meine Welt zurückkehren.", sagte sie. Das war's. Ich dachte schon, noch verrückter könnte ich nicht werden. Aber jetzt bin ich hier in irgendeiner Parallelwelt und rette meinem Stiefbruder, der allem Anschein nach ein Magier ist, den Arsch.
"Danke.", war alles, was die Königin darauf erwiderte. "Ach noch eine Sache. Ich glaube, meine Eltern werden mich vermissen, wenn ich nicht in spätestens zehn Stunden zurück bin." "Keine Sorge. Wenn hier in Zwie ein Tag vergeht, ist das bei euch nur eine Stunde." "Na dann bin ich beruhigt."
"Wenn das alles geklärt ist, dann möchte ich euch denjenigen vorstellen, dem wir unser Wissen über Linceul Ilvarks Vorhaben verdanken. Er hat das Risiko auf sich genommen, sein Volk zu verraten um uns alle zu warnen. Er wird euch begleiten." Die Königin pfiff kurz und schrill und irgendwo hinter ihrem Thron wurde eine Tür aufgerissen.
Die erste Reaktion der Zwillinge war ein Schrei, als sie den jungen Mann sahen. Lavender schätzte ihn auf nicht älter, als sie selbst es war. "Ich bin Liarail Blaey. Von den Nyblanc, wie man unschwer erkennen kann.", stellte er sich vor und deutete auf seine schulterlangen schwarzen Haare, deren Spitzen weiß waren. Wie bei dieser Milyn, der Schwarzmagierin. dachte Lavender.
"Ein Nyblanc! Aber Königin, sie wissen doch, das sind alles Verbrecher und Verräter, die für einen Sack Gold ihre Seele verkaufen würden.", rief Limond empört. Er hatte sich vorsichtshalber hinter Lavender versteckt. "Das mag auf ein paar von ihnen zutreffen, Limond. Denke lieber daran, was er für uns riskiert hat.", entgegnete die Königin und warf Limond einen strafenden Blick zu.
Lavenders Blick unterdessen hatte sich noch nicht von dem Jungen abgewandt. Ihre Augen wanderten von seinen schlammigen Stiefeln, deren ursprüngliche Farbe man nicht einmal erahnen konnte, über die schwarze Hose und den Mantel mit Kapuze bis sie schließlich wieder bei seinem Gesicht angekommen war. Er hatte diesen Ausdruck in den Augen, den sie nicht wirklich einordnen konnte.
Obwohl er so jung war, umgab ihn etwas erfahrenes. Er war eindeutig einer dieser Menschen, die immer etwas geheimnisvolles an sich hatten. Jemand, den man nie ganz verstand, egal wie lange man ihn kannte. Aber in einem war sich Lavender sicher: Liarail hatte mehr gesehen und erlebt als sie. Und das war nicht nur gutes gewesen.
"Wir sind alle da, also lasst uns gehen. Plaudern können wir auch unterwegs.", meinte der Nyblanc. Während sie den Thronsaal verließen, wandte er sich an Lavender. "Du bist also das Mädchen aus der anderen Welt, die uns alle hier retten soll. Da bin ich aber gespannt." "Glaub mir, da bist du nicht der einzige."
 

Charlene

Mitglied
Hi Chalice Blackbird!

Ich habe deine Geschichte (oder zumindest das erste Kapitel) mit gemischten Gefühlen gelesen. Auf der einen Seite fand ich es ziemlich spannend und schön formuliert, auf der anderen Seite gab es da ein paar Dinge, die mich gestört haben.
An erster Stelle ist da diese Sache mit der Parallelwelt. Es gibt schon sooo viele Geschichten, in denen Menschen (oder Tiere oder was auch immer) in eine andere Welt versetzt werden, um diese zu retten, dass ich das Thema langsam etwas abgedroschen finde. Allerdings hast du es für deine Geschichte gewählt und vielleicht entwickelt sie sich ja so, dass ich meine Meinung total revidieren muss - wer weiß? Okay, das war jetzt ganz persönlich und auch nicht wirklich konstruktiv, weil es nur mein eigenes Gefühl widerspiegelt und es wahrscheinlich einen Haufen Leute gibt, die meine Meinung nicht teilen. Deswegen jetzt zu ein paar anderen Sachen, die ich nichz so ganz schlüssig fand:
Es wirkt ja so, als ob Lavender nicht sonderlich an ihrem Bruder hängt. Trotzdem ist sie eigentlich sofort bereit, ihn vor einer ominösen Entführung zu retten? Und sie glaubt diesen fremden Kindern ganz einfach, als die sagen, dass ihr Bruder sonst entführt wird? Das erscheint mir etwas unlogisch, wo du doch sonst so schön geschildert hast, wie skeptisch und ungläubig sie den Zwillingen gegenübersteht (mir hat vor allem der Satz mit dem Babysitter gefallen).
Als sie dann in Zwie ist, finde ich Lavenders Verhalten etwas seltsam - in Ordnung, sie ist selbstbewusst und lässt sich nicht so leicht einschüchtern, aber wenn sie in einem Palast ist und einer Königin gegenübersteht, ist sie dann wirklich so unhöflich und sagt nicht mal wirklich hallo, sondern platzt gleich damit heraus, dass sie bitteschön mal informiert werden will, warum sie überhaupt dort ist. Die Königin springt ja auch sofort in medias res... Außerdem leuchtet es mir irgendwie nicht ein, warum ausgerechnet Lavender diejenige sein muss, die diese Magierin aufsucht. Auch wenn die herkömmlichen Kommunikatiosmittel nicht funktionieren, könnte sie doch einfach diese Zwillinge schicken - sie begleiten Lavender doch sowieo, warum brauchen sie also dieses Mädchen?
Auch wenn das vielleicht nicht so herüberkommt, hat mir dein Text ziemlich gut gefallen und ich würde mich freuen, zu erfahren, wie es weiter geht.
Ach ja- warum eigentlich die englischen Namen Lavender Apple und Alan und warum wird die Mutter Mom genannt? Wenn sie doch im Nachtweg wohnt?

Charlene
 



 
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