Najitzabeth
Mitglied
Mit Geschlossenen Augen
In Gedanken zählte er die Silberlinge, die er verdienen wollte, wenn er seine Ware in Sinath verkauft. Die Leute im Westen verstanden, wie man kostbare Stoffe webte und exotische Düfte herstellte. Sie waren zwar allesamt etwas seltsam und, wenn er ehrlich war, auch irgendwie Furcht einflößend, aber sie hatten sich in der kargen Landschaft um die Wetterberge eine nette kleine Stadt errichtet. Wetterstadt, wie die Einheimischen ihr Zuhause nannten, war zwar nicht unbedingt eine Hochburg der Vergnügungen und besaß keinerlei Sehenswürdigkeiten, die eine Pilgerfahrt wert waren, aber für Hars lohnte sich der weite Weg alle mal. Der Adel in der Hauptstadt war ganz wild auf sämtliche Dinge, die Händler aus dem geheimnisvollen Westen brachten, und es sprang meistens eine Menge dabei heraus. Vorzugsweise für ihn selbst!
„Wie groß ist denn dieser Wald noch?!“
Hars schreckte aus seinen Gedanken hoch und ließ dabei die Zügel aus der Hand gleiten. Im letzten Moment schoss er nach vorne und ergriff die Schlaufe.
„Hast du den Verstand verloren, Junge! Wenn du mich noch einmal so erschreckst, dann werf ich dich von dem Karren und du kannst nachlaufen oder dich von den Tieren fressen lassen, ganz wie du willst!“ Hars schnaubte und wog in Gedanken noch einmal den Beutel voller Silberlinge, um sich zu beruhigen.
„Es dauert noch mindestens zwei Tage, bis wir aus diesem verfluchten Wald wieder rauskommen, aber wenn du mich noch mal so erschreckst, dass ich die Zügel verliere und die Pferde durchgehen, dann können wir auch gleich stehen bleiben und zwei Gräber schaufeln...“
Dieser Junge trieb ihn noch in den Wahnsinn, er schaffte es jedes mal, im falschen Augenblick das Maul aufzureißen. Wenn sie erst einmal die Stadt erreicht hatten, würde er ihn rauswerfen, dann konnte er sehen, wo er blieb. „Und jetzt geh nach hinten und gib Ruhe!“ Der Junge gehorchte und kletterte über ein paar Kisten in den hinteren Teil des Wagens. Jetzt konnte der alte Händler sich wieder angenehmeren Dingen zu wenden, zum Beispiel, wofür er sein Geld als erstes ausgeben würde. Er musste sich nicht auf den Weg konzentrieren, er konnte sich voll und ganz auf die beiden Pferde verlassen. Es waren gute Tiere aus dem Norden, mit starken, trittsicheren Beinen und klugen Köpfen. Hars nickte ein und begann leise zu schnarchen. Die beiden Tiere fanden ihren Weg sicher durch den Sagen umwogenen Wald von Brandenfall, den nur dieser kleine Weg, auf dem sie sich befanden, durchzog. Eine sanfte Brise blies durch die hohen Baumwipfel und ließ sie sanft hin und her wiegen. Es wirkte beinahe friedlich, aber jeder wusste, dass dieser Wald, der größte im ganzen Reich, von finsteren Dämonen heimgesucht wurde. Jeder, der sich hier hinein wagte, konnte sich eines grausamen Todes sicher sein. Die Pferde stapften brav über herausragende Wurzeln den beinahe zugewachsenen Weg entlang, während die Schatten immer länger wurden, doch Hars war das egal, er schlief tief und fest.
Als er aufwachte, war es bereits dunkel geworden. Um ihn herum war es totenstill. Zu still!
Erst als er die Augen aufschlug und es sah, wusste er, warum es so leise war. Das permanente Rattern des Wagens fehlte, genauso wie das Geräusch von Hufen, die auf Waldboden traten. Sie bewegten sich nicht mehr. Die Pferde standen bewegungslos da und schnaubten leise. „Warum sind sie stehen geblieben?“, fragte sich Hars im Stillen, bevor er sich umdrehte und den Jungen rief: „Tam, du Nichtsnutz! Warum sind die Pferde stehen geblieben?“ Der Junge kroch unter einer dünnen Decke hervor, anscheinend hatte er auch geschlafen.
„Ich weiß nicht! Ihr lenkt doch den Wagen!“
Am liebsten wollte ihn Hars für diese Antwort verprügeln. Er war dabei sich zu Tam umzudrehen, als er ein gelbliches Funkeln im Gestrüpp vor ihnen wahrnahm. Wie das leuchten von Tieraugen, wenn Licht darauf fällt, und doch irgendwie anders. Hars bekam Angst. Er vergaß alle Wut, die er eben noch über den vorlauten Bengel empfunden hatte und versuchte die Pferde anzutreiben. Er dachte an Wölfe und vor seinem geistigen Auge sprangen ein Dutzend Tiere auf den schmalen Weg.
Die Pferde müssten die Gefahr doch wittern, doch sie bewegten sich kein Stück. Seelenruhig senkte eines den Kopf und begann an dem dürren Gras zu seinen Hufen zu fressen. Selbst als Hars die Peitsche schwang und sie mit sämtlichen Flüchen bedachte, die er im Laufe seines Lebens gelernt hatte, zeigten sie keine Reaktion. Was war nur mit diesen verdammten Viechern los, sie verweigerten ihm noch nie den Dienst. Noch nie! All die Jahre, die er sie nun schon besaß! Irgendwo zwischen den Bäumen schrie eine Eule, als ob sie sich ihrer Beute sicher wäre.
„Hars, da ist was im Wald!“, schrie Tam und verkroch sich wieder unter seiner Decke.
„Halts Maul, das weiß ich selbst!“ Er versuchte verzweifelt weiter, die Pferde in Bewegung zu setzen.
Ein Surren und darauf ein dumpfes tok.
Plötzlich hielt Hars nur noch das letzte Ende der Zügel in den Händen. Der Rest, der zu den Geschirren der Pferde führte, fiel gerade zu Boden. Erstaunt sah er zur Seite, wo er gerade das Tok gehört hatte. Ein Pfeil steckte im Baum und vibrierte immer noch von der Wucht des Aufpralls. Eine dünne Blutspur erschien an der Stelle, wo die scharfe Spitze seine Finger gestreift hatte. Jemand schoss diesen Pfeil, um die Zügel zu durchtrennen und hat getroffen, im Dunkeln! Es raschelte und eine finstere Gestalt trat aus dem Wald. Ein Dämon! Hars war sich sicher, es konnte nur so sein. Kein Mensch traf nachts so sicher mit Pfeil und Bogen. Langsam tastete der Händler nach hinten, in den Wagen, und zog ein kurzes Schwert unter einer Decke hervor. Er hatte sich schon oft genug gegen Räuber und anderes Gesindel verteidigen müssen. Da würde er doch auch mit diesem Schützen fertig werden, hoffte er. Mit einer behänden Bewegung sprang er vom Kutschbock und trat einen Schritt näher an den Vermummten heran. Er nahm all seinen Mut zusammen, um auf den Dämon, der sich immer noch nicht von der Stelle rührte, zu zustürmen, als in den Bäumen um ihn herum scheinbar Hunderte von Lichtern entzündet wurden. Es waren Fackeln und deren Träger traten jetzt ebenfalls aus dem Wald. Auf den ersten Blick dachte Hars, es wären Menschen, doch auf den zweiten erkannte er seinen Fehler. Im Schein des Feuers war es nicht sofort auszumachen, doch es waren einige unter ihnen, deren Körper irgendwie falsch wirkten. Seien es zu ausgeprägte Muskelpartien an den Armen oder Augen in einer unnatürlichen Farbe.
Hars fragte sich, wie wohl das Gesicht des Schützen aussah, denn dieser hielt sich immer noch bedeckt und stand im Schatten.
Er wusste jetzt, mit wem er es zu tun hatte. Es waren keine Dämonen, es war schlimmer. Hier vor ihm standen Aussätzige! Die Missgeburten der Menschheit, welche der König regelmäßig verfolgen ließ, um sie auszurotten. Diese Monster hatten kein Recht darauf zu leben.
Hier versteckten sie sich also! In diesem Wald war ihr geheimes Lager, hinter dem die Garde schon seit Jahren her war. Wenn er das überleben sollte, schwor sich Hars, würde er sofort zum König gehen und ihm von seiner Entdeckung berichten. Das war ihm sogar seine kostbare Ladung wert, denn die Belohnung, die er dann vom König erhielt, würde reichen, um in den Ruhestand gehen zu können. Hars vergaß all seine Vorsicht bei dieser Vorstellung und wandte sich direkt an den Schützen: „Was wollt Ihr, Aussätziger?“ Er war sich sicher, dass er hier vor ihrem Anführer stand.
Hars täuschte sich. Der Schütze blieb stumm und statt dessen trat ein anderer Mann vor. Er war kaum jünger als Hars selbst. Der Kerl sah, soweit er das erkennen konnte, aus wie ein normaler Mensch, außer, dass er vielleicht ein wenig zu dünn war. Aber der Händler ließ sich nicht täuschen. Dieser Mann war gefährlich und er sollte ihn wohl besser nicht unterschätzen.
„Was denkst du, was wir wollen!“ Der Aussätzige blickte zum Wagen.
„Nur über meine Leiche!“
Der Mann verschwand und noch bevor Hars klar wurde, dass seine Augen ihm keinen Streich spielten, tauchte er hinter dem Händler wieder auf und hielt Hars das eigene Schwert an die Kehle. Hars keuchte, er hatte die Bewegung nicht einmal gesehen!
„Das kannst du haben, alter Mann!“ Der Mann hinter ihm lachte und auch einige der Fackelträger konnten sich ein Kichern nicht verkneifen. Er drehte sich um und der Händler wurde einfach mitgeschleift. Der Griff des Aussätzigen war hart wie Stahl, er ließ keinen Moment locker.
„Najra?“, richtete sich Hars Bedränger an den Bogenschützen.
Er war erstaunt, dass der Schütze einen Frauennamen trug.
Najra? War derjenige, der im Dunkeln mit Pfeil und Bogen eine Lederschnur durchtrennen konnte, etwa eine Frau? Und warum hatte der Mann, der ihm das Schwert an die Kehle setzte, sie um Rat gefragt? War sie doch der Kopf dieser Bande?
„Noch nicht!“ Sie trat aus dem Schatten und Licht fiel auf ihr Gesicht. Diese Frau war jung, sie zählte nicht einmal halb so viele Jahre wie Hars. Ihre Haut leuchtete orange im flackernden Schein der Fackeln. Der Mann, der ihn festhielt, lockerte seinen Griff etwas. Sie hatte ihm gerade eine Gnadenfrist verschafft, aber nicht mehr, das wusste er. Diese Leute konnten sich nicht leisten, entdeckt zu werden.
Hinter ihnen wurden Geräusche laut. Eines der Pferde scheute vor dem Feuer. Die Aussätzigen warfen sich verwunderte Blicke zu, so als könnten sie nicht glauben, dass das Tier sich vor den Fackeln fürchtete. Das Pferd warf den Kopf in die Höhe und schnaubte verängstigt, doch bevor es durchging, beruhigte es sich plötzlich wieder und versank zurück in seine teilnahmslose Starre. Auch die Frau namens Najra wirkte verunsichert und sah zu einem Strauch vor der Kutsche. Dieser Augenblick verstrich und sie wandte sich wieder an Hars: „Wir werden dir nichts tun, wenn du ruhig bleibst!“
Das war eine Lüge! Sie konnten ihn nicht einfach laufen lassen.
„Narth, lass ihn los, er wird nicht fliehen!“ Der Mann tat, was Najra ihm gesagt hatte, blieb aber dicht neben ihm stehen. Hars beschloss, für den Moment zu tun, was sie von ihm verlangten, bis sich ihm eine Chance zur Flucht bot. Einige der Aussätzigen, die sich so lange im Hintergrund gehalten hatten, begannen jetzt seine Fracht zu durchsuchen. Hars dachte an den Jungen. Wenn er sich ganz still verhielt, würden sie ihn vielleicht nicht sofort finden. Die Pferde stapften mit den Hufen und wurden wieder unruhig. Hars beobachtete, wie die Fremden verschiedene Kisten öffneten und den Inhalt freudig empor hielten, als sie sich über den Wert der Ware klar wurden. Diese dreckigen Diebe fühlten sich wohl sehr sicher.
Etwas raschelte. Najra wurde unruhig und sah wieder zu dem Busch hinüber, als auf einmal ein kleines Mädchen aus dem Wald taumelte. Ihr Gesicht war feucht vor Tränen und ihre Augen leuchteten. Hars erinnerte sich an das gelbe Funkeln, das er vor dem Angriff zwischen den Bäumen gesehen hatte. Es war das Mädchen gewesen. Ihre Augen waren gelb und ihre Pupille war länglich, wie die einer Katze! Sie sah mehr nach einem Tier aus, als nach einem Menschen.
„Najra, ich kann nicht mehr!“, klagte sie mit ihrer hellen, ängstlichen Stimme und ging auf die junge Frau zu.
Najra reagierte beinahe panisch: „Reen, geh sofort wieder in den Wald!“ Sie trat einen Schritt auf das Kind zu. Auch Narth war von der Szene abgelenkt. Hars erkannte seine Chance.
Wenn er es schaffte, in der Lücke, die das Mädchen im Dickicht hinterlassen hatte, zu verschwinden, konnte er fliehen! Er musste nur an dem Kind vorbei, aber sie wäre kein großes Hindernis. Bevor der Mann neben ihm wieder aufmerksam wurde, riss er ihm mit einer blitzschnellen Bewegung das Schwert aus der Hand und rannte los. Er hörte hinter sich ein paar erstaunte Schreie und einige riefen dem Mädchen zu, dass es verschwinden solle, als sie erkannten, was er vorhatte. Doch es nützte nichts. Er war schon beinahe bei ihr. Hars hob sein Schwert, um sie mit einem einzigen, kurzen Schlag zu fällen. Bevor er zuschlug, warf er noch einen kurzen Blick zurück auf die Bogenschützin. Es war ein Fehler.
Sie hatte den Bogen erhoben. Najra schloss die Augen, bevor sie die Sehne freigab und der Pfeil losschnellte. Mit einem dumpfen Geräusch fand er sein Ziel. Hars hörte nicht mehr, wie Reen schrie, während er über ihr zusammenbrach. Der Pfeil ging mitten ins Herz.