pol shebbel
Mitglied
(Und ein dreifaches Wiedersehen - auch dieses allerdings für alle Beteiligten ausgesprochen unangenehm.)
Die Schar der Freiwilligen - es kamen aus dem ganzen Heer schliesslich etwa zwanzig zusammen - setzte sich in Bewegung. Der Rest des Heeres blieb zurück; er sollte später auf beiden Seiten zangenförmig die Ausweichwege versperren. (Paril verstand nicht ganz, warum eigentlich Freiwillige gesucht worden waren, wenn sowieso alle weiter mitmachen mussten.) Die Flokaigrabs schienen die Spur ziemlich schnell gefunden zu haben und stachen zielstrebig in die Wildnis, die Krieger hinterher. Es wurde verboten, laut zu sprechen, und sie hatten möglichst lautlos zu laufen. Jetzt galt es also doch ernst. Vorerst allerdings war von den Ausbrechern nichts zu sehen oder zu hören.
Paril marschierte ganz zuvorderst, direkt hinter den Flokaigrabs. Es hatte ihn immer fasziniert, Flokaigrabs beim Verfolgen einer Spur zu beobachten. Sie schnüffelten nicht wie Bush Eengil oder Katzen, sie liefen einfach zielstrebig durch das Gelände, als wüssten sie den Weg schon vorher. Paril wusste aber aus Erfahrung, dass sie sich vor allem visuell orientierten und lediglich besonders schnell reagierten.
Die Landschaft war seltsam. Ihr auffälligstes Merkmal war eine Massierung von Uchkêsht Eemrôm oder "braunen Teppichen", sesshaften und ungefährlichen Verwandten der Shas Gil, die wie braune und schwärzliche Wolldecken auf Baumstämmen und Boden lagen, als riesenhafte Vorhänge von den Ästen herabhingen. Kaum ein Laut war zu hören; alle Tiere hatten sich vor der Hitze verkrochen, die schwer auf der Luft und den Menschen lastete. Parils Jägerauge blieb an Frassspuren hängen, Frassspuren der Reixeshgil oder Faultiere. "Jetzt müsste man auf die Jagd gehen..." dachte er sehnsüchtig und spähte in die Kronen hinauf, ob er nicht eines dieser zottigen Viecher erkennen könnte; aber er sah nichts. Durch ihre Technik, bei Tage bewegungslos in den Bäumen zu hängen, waren sie sehr gut getarnt.
Paril war drauf und dran, den Krieg, die Stimme der Adjutantin und den eigentlichen Zweck der Verfolgung zu vergessen. Es gab hier den Wald, es gab die Flokaigrabs mit ihrer Führerin, und sie waren beim Verfolgen einer heissen Spur! Wiederholt musste er feststellen, dass die anderen hinter ihm zurückzubleiben drohten; in diesen Augenblicken stand ihm dann allerdings mit deprimierender Klarheit vor Augen, welch unwürdige Menschenjagd das hier war.
Sie kamen schnell vorwärts; die Spur blieb immer am Boden und ging nie in die Bäume hinauf. Die Spannung stieg; sie mussten ihrem Ziel schon sehr nahe sein... Sie begannen nach Deckung zu suchen und langsamer vorzurücken.
Bis zuletzt hatte man von den Gefangenen weder etwas gesehen noch gehört - man hatte sich ganz auf die Flokaigrabs verlassen. Um so grösser war der Schock, als plötzlich in nächster Nähe ein scharfes Knacken und ein Schmerzensschrei ertönten. Paril aber bekam nicht nur einen Schock, sondern der Schrei drang ihm wie ein Donnerschlag vom Kopf bis in die Knochen hinunter.
Denn er erkannte die Stimme!
Als sich die Sterne vor seinen Augen verflüchtigt hatten, atmete er tief durch und richtete sich langsam auf. Ein Blick zurück zeigte ihm die anderen Krieger und den Gruppenführer, der ihm mit den Händen Zeichen gab. Er verstand nicht, was das bedeutete. Die ganzen Leute dort hinten waren jetzt bedeutungslos.
Neben sich gewahrte er die Führerin der Flokaigrabs, die ihn fragend ansah. Er hiess sie mit einer Bewegung anhalten und still sein; dann warf er einen kurzen Blick zurück und war im nächsten Augenblick im Unterholz verschwunden.
Sie mochten sagen, was sie wollten, aber er hatte eine Rechnung zu begleichen.
Da waren sie, die orangefarbenen Gefängniskittel, sich deutlich abhebend von der Umgebung, obwohl offensichtlich versucht worden war, sie mit Dreck unscheinbar zu machen. Ein gutes Dutzend mehr oder weniger abgemagerte Gestalten standen um den Urheber des Schreis herum, während einer von ihnen diesem auf die Beine half. Im Gefangenenlager hatte man ihn geschoren, so dass die Haare nur noch an den Spitzen schwarz gefärbt waren. Er war noch magerer als zuvor, und natürlich hatte er kein Messer zum spielen. Aber Paril erkannte ihn trotzdem im ersten Augenblick. Den verdammten Messerhelden!
Und schon war Paril aus dem Gebüsch aufgetaucht. Jemand schrie auf, aber er liess niemandem Zeit zum Reagieren. Zielgerichtet stürmte er vorwärts - und schon hatte er sein Opfer erreicht. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite; schon der erste Ansturm brachte den Messerhelden zu Fall. Allerdings erwies sich dieser als überraschend kräftig und reagierte schneller, als Paril gedacht hatte; beinahe sofort machte er eine katzenhafte Ausweichbewegung, die ihn aus Parils Griff teilweise befreite, und begann, Paril mit beiden Händen zu ohrfeigen. Tropfen auf dem heissen Stein von Parils Wut! Ein kurzer energischer Ruck - und der Messerheld lag hilflos am Boden, Paril über ihm; und jetzt war es an Paril, die Fresse des anderen zu bearbeiten, und zwar nicht mit Ohrfeigen, sondern mit den Fäusten.
Schreie drangen an sein Ohr, so etwas wie: er solle aufhören oder so; aber natürlich achtete er nicht darauf. Er hatte den anderen da, wo er ihn haben wollte, und er war dabei, ihm einen Tag voller Demütigungen und Fusstritte zurückzuzahlen!
Doch er konnte nicht zu Ende zahlen. Andere Hände begannen an ihm zu zerren, rissen ihn von seinem Opfer weg. Wild schlug er in alle Richtungen aus. "Zu mehreren auf einen, das könnt ihr wieder!" brüllte er ausser sich vor Wut. Aber er musste schliesslich aufgeben, denn plötzlich hatte er ein Messer an der Kehle - sein eigenes Messer war es sogar. Verbrannt und ersoffen, wieso nur hatte er das nicht auch abgelegt?!
Dem Messerhelden wurde aufgeholfen. Erst jetzt sah Paril, dass ihm das Blut in Strömen aus der Nase lief. Der klägliche Anblick verschaffte Paril noch etwas Genugtuung und stillte seinen Blutdurst.
Die zerlumpten Ausbrecher schienen in Hysterie versetzt; sie liefen durcheinander, schrien aufeinander ein und warfen gehetzte Blicke nach allen Seiten. Verständlich - sie mussten denken, dass die ganze Armee von Asîmchômsaia gleich über sie hereinbrechen würde. Paril hatte jedoch nur wenig Zeit, sich darüber zu amüsieren; binnen kurzem hatten sie sich gefangen und begannen wieder vorwärtszustolpern, und er mit ihnen, das Messer immer noch in der Nähe seiner Kehle.
Er war einmal mehr eine Geisel.
Unter den Ausbrechern befanden sich übrigens zwei weitere alte Bekannte von Paril: just der, der jetzt das Messer hatte, war eine schmutzige und abgemagerte Version von Andai; und auch der, der Shnoiw hiess, war dabei. Die anderen glaubte er nicht zu kennen. Manche von ihnen sahen alt aus, mindestens fünfzig (obwohl in ihrem verwilderten Zustand die Bestimmung des Alters schwierig war); waren das jetzt die "Generäle"?
Ein kurzer nervöser Stoss in den Rücken; offenbar wollten sie trotzdem weiter. Andai schob ihn langsam vorwärts, mit kleinen ruckartigen Stössen in den Rücken. Er schien Paril übrigens nicht wiederzuerkennen.
Aus den Bäumen vor ihnen erklang eine Stimme. "Hier spricht der Herold des hochmeisterlichen Hauptmanns Ssaiang. An die verdammten flüchtigen Waldfrevler. Ihr seid umzingelt. Ergebt euch!" Der Herold schien auf einen Baum geklettert zu sein.
Der Griff, der Paril festhielt, wurde krampfhaft fester. Wieder wurden ein paar hastig geflüsterte Worte gewechselt. "Der hochmeisterliche Hauptmann", schrie anschliessend Andai, seine Stimme drohte überzuschlagen, "wird uns freilassen, denn er wird nicht am Tod dieses hochmeisterlichen Soldaten hier schuld sein wollen! Sonst würde er seinen Untergebenen zeigen, wie wenig ihm an ihrem Leben gelegen ist, und damit sein eigenes Grab bereiten!" Nicht schlecht gesprochen - allerdings hatte selbst Paril wenig Vertrauen, dass dem Hauptmann viel am Leben seiner Soldaten gelegen war.
Minute um Minute verging. Die - schon beinahe grenzenlose - Nervosität unter den flüchtigen Gefangenen stieg noch etwas höher, als die Armbrustschützen nicht von der Stelle wichen. Paril dachte für sich, dass die Nervosität auf seiten der Armbrustschützen auch ziemlich hoch sein musste. Arme Dummköpfe, wenn ihr nur wüsstet, dass ihr es lediglich mit ein paar ungeübten und überängstlichen Neulingen zu tun habt! Und Paril wunderte sich, wie gelassen und überlegen er sich trotz des Messers am Hals fühlte.
Plötzlich erscholl die Stimme des Herolds wieder. "An die unglückseligen Waldfrevler. Wenn sie den Soldaten töten, beweisen sie hiermit, dass sie die verabscheuungswürdigsten Kreaturen sind, die den Tod verdienen, und die hochmeisterlichen Krieger werden nicht zögern, ihnen die verdiente Strafe zu geben! Sie haben keine andere Wahl als sich zu ergeben!"
Aus den Augenwinkeln beobachtete Paril, wie sich die Geiselnehmer ratlos anstarrten. Andai hatte Falten in den Mundwinkeln, und von dem Grinsen, das in Parils Erinnerung wie ein fester Bestandteil des Gesichts gewirkt hatte, war nicht eine Spur zu sehen. Es war offensichtlich: der letzte Rest der Gefängnisrevolte stand kurz vor dem Ende.
Paril hatte all dies in einem eigenartigen Geisteszustand registriert - wie ein weit entfernter Beobachter, der von dem Geschehen selbst nicht betroffen war. Nun aber zuckte er plötzlich zusammen - Andais Blick war auf ihn fixiert! Und im nächsten Moment gab ihm dieser einen Stoss und fuhr ihn an: "He du,was grinst du eigentlich so? Du findest es wohl lustig, dass wir dich jetzt gleich umbringen, was?"
"Mich umbringen?" Paril zeigte keine Hast. "Das wäre keine gute Idee. Dann verliert ihr den letzten Schutz, den ihr noch habt, oder nicht?"
"Hmm, ja, gut gut, das weiss ich selbst", gab Andai zu, "aber wie wärs, wenn wir dir ein Ohr abschneiden?" Sein Gesicht kam nah an Parils heran, ein irres Licht flackerte in den Augen. "Und mit jedem Schritt vorwärts einen weiteren Körperteil?"
"Jaa, das wäre nicht schlecht", pflichtete Paril ungerührt bei, "bloss wäre das für den Typen da vorne ein Beweis mehr für euren Frevel..."
"Frevel, ha?!" Der Griff an Parils Arm verstärkte sich krampfhaft. "Jetzt fängt der auch noch an! Kann man denn mit keinem von euch Höhlenhockern normal reden? Du hältst dich also auch für einen besseren Menschen, bloss weil du in einem Baum schläfst? Als du vorhin Shidai verprügelt hast, sahst du nicht besonders heilig aus. Wenn du als Shidai geboren worden wärst, ohne reiche Eltern, was würdest du tun? Mit Freuden ein System unterstützen, unter dem du dein Leben lang zum Abschaum gehören wirst? Aus Gründen, die nicht logisch sind - unter euch 'guten Menschen' gibt es nämlich jede Menge echten Abschaum! Weisst du, wie die Aufseher im Gefangenenlager sich benehmen? Wie es echte Ketzer tun würden, nach euren eigenen Masstäben! Denn das Grüne Buch sagt: 'Doch Grausamkeit aus Lust sei tief verdammt!'" Andai riss an Parils Oberarm und blickte wild umher.
Paril war sprachlos. Auf so einen Redeschwall war er nicht gefasst gewesen - und am allerwenigsten auf ein Zitat aus dem Grünen Buch!
Andai war plötzlich ganz ruhig. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht - ein hartes, bösartiges Grinsen, das mit jenem Grinsen in Parils Erinnerung nichts gemein hatte. "Du hältst uns für Ketzer, ja? Alle von uns? Auch ihn?" Andai zeigte auf einen der zerlumpten Gefängniskittel. "Weisst du, wie er heisst? Es steht auf deiner Brust!" Und er stiess den Knauf des Messers gegen das Schriftzeichen auf Parils Waffenrock. Was...?
"Jawohl!" kreischte Andai plötzlich triumphierend, "er ist euer Super-Duper-Oberpriester! Gute Menschen nennt ihr euch und spinnt Komplotte gegen euren eigenen Hochmeister! Was euch am heiligsten ist, werft ihr in den Dreck, hetzt ihr wie ein wildes Tier - und uns nennt ihr Ketzer!" Eine ruckhafte Kopfbewegung, ein Blick zu den Truppen vor ihnen, einer zu den anderen Ausbrechern, die immer noch ratlos starrten. "Machen wir einen Test?" fuhr Andai fort. "Was meinst du? Werden die Truppen den Weg freigeben? Glaubst du, das Leben eines der ihren sei denen etwas wert? Ich sage dir: ich glaub es nicht!" Wieder Blicke zwischen den anderen.
"Nun", sagte Paril, "um ehrlich zu sein, ich glaub es auch nicht. Warum gebt ihr nicht auf?"
Andai antwortete nicht; er verharrte regungslos, den Blick in die Ferne gerichtet.
Und dann liess er plötzlich das Messer fallen.
Paril starrte ihn ungläubig an, sich zunächst nicht rührend. Andai stand einfach da, sein Blick war ausdruckslos. Paril machte prüfend einen Schritt, wie um zu testen, ob er wirklich frei sei. Er fühlte sich plötzlich schwindlig, sein Kopf schmerzte; er erschrak nur wenig, als mit Getrampel und Geprassel die hochmeisterlichen Krieger anrückten.
Parils Kollegen blieben in drei Mannslängen Entfernung stehen, die Armbrüste (leicht zitternd) im Anschlag. Mehr mussten sie nicht machen; die eigentliche "Arbeit" wurde gnädigerweise von erfahrenen Profis erledigt: den grüngewandeten Leibwächtern des Hauptmanns. Mit rüden Bewegungen trieben sie die gefassten Ausbrecher auseinander und fesselten ihnen die Hände auf dem Rücken. Dann kamen sie auf Paril zu.
Erlöst taumelte er ihnen entgegen - da packten sie ihn genauso grob wie die Sträflinge! Ehe er wusste, wie ihm geschah, hatten sie ihn in die Mitte genommen und trieben ihn zusammen mit den Gefangenen zwischen den "braunen Teppichen" hindurch. "He, was..." begann er zu protestieren - da fiel ihm ein, was er getan hatte. Er hatte Befehle missachtet, er hatte um einer kindischen Rache willen das ganze Unternehmen um ein Haar zum Scheitern gebracht! Das bedeutete mindestens einen Anpfiff und Arrest... Wahrscheinlich würden sie ihn auch der Befehlsverweigerung bezichtigen, der ganzen Truppe als schlechtes Beispiel hinstellen - vielleicht würden sie sogar behaupten, er sei ein Verräter und habe den Ausbrechern helfen wollen - Scheisse auf dem Meeresgrund! Er hatte es vermasselt, er hatte alles vermasselt! Welcher verschimmelte Wasserteufel war in ihn gefahren, dass er sich zu solch einer Dummejungenprügelei hatte hinreissen lassen? Bei Ssai, was war schon der Messerheld - ein kleiner neidischer Kalbladi eben, den man mit einem Achselzucken übergehen konnte. Dagegen jetzt als Verräter dazustehen - während eines blutigen Krieges - wirklich, dümmer konnte der dümmste Esel des Pyramidalwalds nicht sein... Dergestalt strafte s ich Paril bereits selber, bevor seine Vorgesetzten von Strafe überhaupt nur sprachen.
Die beiden Leibwächter liessen Paril plötzlich los und standen stramm; vor ihnen, unter den wie Lampen herabhängenden Früchten eines Halskettenbaums, war der Nuchael Techpkal aufgetaucht. Die zwei legten zum Gruss die Handflächen aneinander und trieben dann die Gefangenen weiter.
Paril legte seinerseits die Handflächen aneinander und stand bocksteif wie noch nie. Zum erstenmal stand er dem hochmeisterlichen Hauptmann Ssaiang direkt gegenüber.
Ssaiang hatte ein blasses, erstaunlich jung wirkendes Gesicht und schmale Lippen. Er war grösser als Paril - wenn man die seinen Kopf überragende Paradiesvogelfeder mitzählte. Er musterte Paril. "So. Er weiss natürlich, warum Er hier ist!" Seine Stimme war heiser, was ihn daran hinderte, laut zu schreien. Das hatte sich in der Vergangenheit einerseits als praktisch erwiesen, da man während seiner Reden ohne Probleme weiterdösen konnte, andererseits als gefährlich, wenn es einmal ausnahmsweise wichtig war, was er sagte. "Er hat einen Befehl missachtet. Er hat eigenmächtig und unverantwortlich gehandelt! Was hat Er zu sagen?"
Paril schluckte und senkte den Kopf. "Ich... bitte um Verzeihung", begann er zögernd. "Als ich... die Frevler sah... geriet ich ausser mir. Die... die Schänder von Ssai, ich hasse sie so sehr, dass ich nicht mehr denken konnte..." Nur möglichst das sagen, was er gerne hören will!
Hauptmann Ssaiang legte den Kopf leicht schief und die Stirn in Falten. "Hmm. Er sagt also, Er habe in guter Absicht gehandelt. Das ist zu begrüssen. Aber er war trotzdem sträflich leichtsinnig. Diese Ketzer sind aus der Seele Ssais ausgestossen, sie haben schwarze und verlogene Gedanken; es ist gefährlich, ihnen nur nahe zu kommen. Er hat auch seine Seele leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, indem er mit den Volksverhetzern gesprochen hat! Er soll wissen, dass keines der von ihnen gesprochenen Worte wahr ist."
"Davon bin ich überzeugt!" antwortete Paril sofort. Das Verhör schien bis jetzt gar nicht so bedrohlich, wie er gefürchtet hatte.
Ssaiang beobachtete ihn einen Moment lang, als ob er auf etwas wartete. Als Paril stumm blieb, trat er einen Schritt näher und schaute Paril mit gerunzelter Stirn ins Gesicht."Erinnert Er sich daran, was der Ketzer zu Ihm gesprochen hat?" Aus nächster Nähe wirkte sein Gesicht deutlich weniger jung (und ausgesprochen hässlich, fand Paril plötzlich). "Bericht, daher!"
"Jawohl!" Reflexartig stand Paril wieder stramm. "Er - er hat... aufgeregt und wirr geredet", begann er nach etwas Überlegen, "dass wir... kein Recht hätten, ihn Ketzer zu nennen, weil wir nicht besser wären..." Es kam ihm etwas sonderbar vor, dass der Hauptmann das wissen wollte. Wollte er Andai wegen seiner Worte zusätzlich bestrafen? Aber man würde sie doch sowieso alle hinrichten...
"Lästerungen? Irgendwelche Lästerungen?" Ssaiang liess nicht locker. "Verleumdungen unserer heiligen Religion, Verleumdungen des heiligen Assings?"
"Des heiligen Assings..." Paril schaute in die Höhe, fixierte mit gerunzelter Stirne das Rankengewirr, von dem die kegelförmigen Früchte des Halskettenbaums herabbaumelten. "Er sagte... Er sagte etwas über den Hochmeister. Er... Ja, er behauptete, einer der Gefangenen sei der Hochmeister. Wir hätten ihn selbst gefangengenommen..."
Der Hauptmann trat einen Schritt zurück. "Aha! Da sieht Er,was sie für entartete Ideen haben. Damit versuchen sie, Zwietracht im hochmeisterlichen Heer zu erzeugen und ihm seine Seele zu nehmen. Er sieht jetzt, wie gefährlich der Umgang mit ihnen ist?"
Was sollte daran gefährlich sein? Wer glaubte schon solch absurde Behauptungen? Paril begann sich zu ärgern. So blöd,dass man ihm bei jeder Gelegenheit die richtige Antwort von neuem einhämmern musste, war er nun wirklich nicht! Es war an der Zeit, dies endlich klarzustellen. "Bitte um Verzeihung", sagte er, "für so gross halte ich die Gefahr nicht. Eine Lüge dieser Art ist doch sehr leicht zu entlarven - sobald der heilige Hochmeister Assing in der Öffentlichkeit auftritt, löst sich alles in Nichts auf..."
Ssaiang sank etwas zusammen, sein blasses Gesicht wurde rötlich. "Er widerspricht?" Er hatte seine Stimme etwas erhoben, worauf sie sofort ins Kreischende umzuschlagen drohte. "Die teuflische Saat ist schon aufgegangen! Er handelt eigenmächtig und leichtsinnig, und Er widerspricht?! Leute wie Er werden es schaffen, dass das Heer seine Seele verliert! Er wird schon sehen, wo das hinführt! Stillgestanden!"
Paril stand still - und ärgerte sich grün und blau. Schon wieder hatte er alles vermasselt! Wie kam er dazu, überhaupt zu versuchen, mit einem Offizier Kontakt aufzunehmen, nachdem er in den letzten Wochen wieder und wieder erfahren hatte, wie sinnlos das war! Hatte er vorhin zweifeln können, so war jetzt jeder Zweifel ausgeschlossen, dass man ihn schwer bestrafen würde. Veschimmelter Wasserteufel, verschimmelter Wasserteufel... Sein Inneres kochte, und es kostete Paril seine ganze Selbstbeherrschung, in der vorschriftsmässigen Haltung zu verharren.
Der Hauptmann drehte sich plötzlich um und begann sich zu entfernen. Paril, vom Befehl des Strammstehens nicht befreit, verharrte unbeweglich auf seinem Platz. Seiner Bewegungsmöglichkeiten beraubt, war er auch unfähig, sich der Gefühle zu erwehren, die ihn von oben bis unten durchpulsten; gleichzeitig fiel es ihm schwer, nur einen der rasenden Gedanken festzuhalten. Es war der Kater von heute morgen, der sich wieder bemerkbar machte; und als die Minuten vergingen, ohne dass sich der Hauptmann blicken liess, fühlte sich Paril zunehmend erschöpfter. War das der erste Teil seiner Strafe - hier strammstehen zu müssen, den "schwarzen und verlogenen Gedanken" ausgeliefert - und ohne zu wissen, was man jetzt mit ihm machen würde? Überhaupt - wieso musste er hier eigentlich weiter stehen? Vorsichtig liess er seine Augenbälle - die durfte er bewegen - von rechts nach links wandern. Er war auf einmal gar nicht mehr sicher, ob er wirklich noch stillzustehen hatte. Hatte er den Befehl in seiner Müdigkeit bloss überhört? Aber der Hauptmann hätte ihn doch bestimmt nicht einfach hier stehenlassen...
Ein Geräusch hinter Paril liess ihn reflexartig den Kopf wenden; noch im selben Augenblick riss er ihn erschrocken wieder zurück. Bestimmt, fuhr ihm durch den Kopf, hatte man ihn heimlich beobachtet und nur darauf gewartet, dass er das Strammstehen verletzte! In Erwartung wütenden Gebrülls hielt Paril die Luft an - doch es geschah nichts. Du grüne Neune, es ging hier um Krieg und Verrat - wen interessierte da ein nachlässiges Strammstehen? Seine Lage war schlimm genug, da bestand keinerlei Notwendigkeit, sich noch zusätzlich aufzuregen...
Erst dann kam ihm ins Bewusstsein, wovon das Geräusch hinter ihm hergerührt hatte.
Von dort näherten sich, in ihren grünen Kitteln, die beiden Leibwächter.
In diesem Augenblick geschah etwas in Parils Kopf. Ein Prozess, der auf der Kippe gestanden hatte, bekam gleichsam den letzten kleinen, entscheidenden Stups, um in Gang zu kommen. Noch war sich Paril dessen nicht bewusst; doch als er abermals den Kopf wandte, war seine Sinneswahrnehmung plötzlich massiv gesteigert - keine Spur mehr von der vorigen Müdigkeit. Er sah in einem Augenblick den umgestürzten Baumstamm, an dem die gefassten Ausbrecher in einer Reihe festgebunden waren, mit verbundenen Augen und so, dass die Köpfe gerade über den Baumstamm ragten - so, dass man bequem mit dem Schwert treffen konnte - gebunden mit Stricken von derselben Art, wie sie die beiden Leibwächter jetzt in den Händen hielten - und in einiger Entfernung stand der Hauptmann mit verschränkten Armen und beobachtete die Szene ungeduldig... Jetzt begann Paril etwas zu spüren; ein unbestimmtes Gefühl wie ein Zuschnüren der Kehle. "He", entfuhr es ihm, "wollt ihr etwa..." Sobald er einen Ton gesagt hatte, reagierten sie: ihre Bewegungen beschleunigten sich schlagartig, und ihre Gesichter veränderten sich. Die Gesichter. Er sah sie besonders deutlich. Sie sahen beide gleich aus. Grob, finster, entschlossen... und leer, blöde, grenzenlos stur! Und Paril auf unheimliche Weise bekannt.
Ja, Paril kannte diese Gesichter. Er hatte sie vor langer Zeit in Onnikir gesehen. Er hatte von ihnen geträumt. Er hatte sie in den letzten Wochen wieder und wieder im Heer angetroffen. Und jede einzelne dieser Begegnungen hatte ihn ein bisschen mehr vorbereitet auf das, was er jetzt tat.
Die Schar der Freiwilligen - es kamen aus dem ganzen Heer schliesslich etwa zwanzig zusammen - setzte sich in Bewegung. Der Rest des Heeres blieb zurück; er sollte später auf beiden Seiten zangenförmig die Ausweichwege versperren. (Paril verstand nicht ganz, warum eigentlich Freiwillige gesucht worden waren, wenn sowieso alle weiter mitmachen mussten.) Die Flokaigrabs schienen die Spur ziemlich schnell gefunden zu haben und stachen zielstrebig in die Wildnis, die Krieger hinterher. Es wurde verboten, laut zu sprechen, und sie hatten möglichst lautlos zu laufen. Jetzt galt es also doch ernst. Vorerst allerdings war von den Ausbrechern nichts zu sehen oder zu hören.
Paril marschierte ganz zuvorderst, direkt hinter den Flokaigrabs. Es hatte ihn immer fasziniert, Flokaigrabs beim Verfolgen einer Spur zu beobachten. Sie schnüffelten nicht wie Bush Eengil oder Katzen, sie liefen einfach zielstrebig durch das Gelände, als wüssten sie den Weg schon vorher. Paril wusste aber aus Erfahrung, dass sie sich vor allem visuell orientierten und lediglich besonders schnell reagierten.
Die Landschaft war seltsam. Ihr auffälligstes Merkmal war eine Massierung von Uchkêsht Eemrôm oder "braunen Teppichen", sesshaften und ungefährlichen Verwandten der Shas Gil, die wie braune und schwärzliche Wolldecken auf Baumstämmen und Boden lagen, als riesenhafte Vorhänge von den Ästen herabhingen. Kaum ein Laut war zu hören; alle Tiere hatten sich vor der Hitze verkrochen, die schwer auf der Luft und den Menschen lastete. Parils Jägerauge blieb an Frassspuren hängen, Frassspuren der Reixeshgil oder Faultiere. "Jetzt müsste man auf die Jagd gehen..." dachte er sehnsüchtig und spähte in die Kronen hinauf, ob er nicht eines dieser zottigen Viecher erkennen könnte; aber er sah nichts. Durch ihre Technik, bei Tage bewegungslos in den Bäumen zu hängen, waren sie sehr gut getarnt.
Paril war drauf und dran, den Krieg, die Stimme der Adjutantin und den eigentlichen Zweck der Verfolgung zu vergessen. Es gab hier den Wald, es gab die Flokaigrabs mit ihrer Führerin, und sie waren beim Verfolgen einer heissen Spur! Wiederholt musste er feststellen, dass die anderen hinter ihm zurückzubleiben drohten; in diesen Augenblicken stand ihm dann allerdings mit deprimierender Klarheit vor Augen, welch unwürdige Menschenjagd das hier war.
Sie kamen schnell vorwärts; die Spur blieb immer am Boden und ging nie in die Bäume hinauf. Die Spannung stieg; sie mussten ihrem Ziel schon sehr nahe sein... Sie begannen nach Deckung zu suchen und langsamer vorzurücken.
Bis zuletzt hatte man von den Gefangenen weder etwas gesehen noch gehört - man hatte sich ganz auf die Flokaigrabs verlassen. Um so grösser war der Schock, als plötzlich in nächster Nähe ein scharfes Knacken und ein Schmerzensschrei ertönten. Paril aber bekam nicht nur einen Schock, sondern der Schrei drang ihm wie ein Donnerschlag vom Kopf bis in die Knochen hinunter.
Denn er erkannte die Stimme!
Als sich die Sterne vor seinen Augen verflüchtigt hatten, atmete er tief durch und richtete sich langsam auf. Ein Blick zurück zeigte ihm die anderen Krieger und den Gruppenführer, der ihm mit den Händen Zeichen gab. Er verstand nicht, was das bedeutete. Die ganzen Leute dort hinten waren jetzt bedeutungslos.
Neben sich gewahrte er die Führerin der Flokaigrabs, die ihn fragend ansah. Er hiess sie mit einer Bewegung anhalten und still sein; dann warf er einen kurzen Blick zurück und war im nächsten Augenblick im Unterholz verschwunden.
Sie mochten sagen, was sie wollten, aber er hatte eine Rechnung zu begleichen.
***
Mit der Geräuschlosigkeit des erfahrenen Jägers schlich er der Stelle näher, wo der Schrei erklungen war. Man hörte auch jetzt Geräusche: Bewegungen, gepresstes Flüstern, unterdrücktes Wimmern. Paril liess unterwegs sein Schwert und seine Armbrust liegen. Was er zu tun hatte, war mit den Händen zu erledigen.Da waren sie, die orangefarbenen Gefängniskittel, sich deutlich abhebend von der Umgebung, obwohl offensichtlich versucht worden war, sie mit Dreck unscheinbar zu machen. Ein gutes Dutzend mehr oder weniger abgemagerte Gestalten standen um den Urheber des Schreis herum, während einer von ihnen diesem auf die Beine half. Im Gefangenenlager hatte man ihn geschoren, so dass die Haare nur noch an den Spitzen schwarz gefärbt waren. Er war noch magerer als zuvor, und natürlich hatte er kein Messer zum spielen. Aber Paril erkannte ihn trotzdem im ersten Augenblick. Den verdammten Messerhelden!
Und schon war Paril aus dem Gebüsch aufgetaucht. Jemand schrie auf, aber er liess niemandem Zeit zum Reagieren. Zielgerichtet stürmte er vorwärts - und schon hatte er sein Opfer erreicht. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite; schon der erste Ansturm brachte den Messerhelden zu Fall. Allerdings erwies sich dieser als überraschend kräftig und reagierte schneller, als Paril gedacht hatte; beinahe sofort machte er eine katzenhafte Ausweichbewegung, die ihn aus Parils Griff teilweise befreite, und begann, Paril mit beiden Händen zu ohrfeigen. Tropfen auf dem heissen Stein von Parils Wut! Ein kurzer energischer Ruck - und der Messerheld lag hilflos am Boden, Paril über ihm; und jetzt war es an Paril, die Fresse des anderen zu bearbeiten, und zwar nicht mit Ohrfeigen, sondern mit den Fäusten.
Schreie drangen an sein Ohr, so etwas wie: er solle aufhören oder so; aber natürlich achtete er nicht darauf. Er hatte den anderen da, wo er ihn haben wollte, und er war dabei, ihm einen Tag voller Demütigungen und Fusstritte zurückzuzahlen!
Doch er konnte nicht zu Ende zahlen. Andere Hände begannen an ihm zu zerren, rissen ihn von seinem Opfer weg. Wild schlug er in alle Richtungen aus. "Zu mehreren auf einen, das könnt ihr wieder!" brüllte er ausser sich vor Wut. Aber er musste schliesslich aufgeben, denn plötzlich hatte er ein Messer an der Kehle - sein eigenes Messer war es sogar. Verbrannt und ersoffen, wieso nur hatte er das nicht auch abgelegt?!
Dem Messerhelden wurde aufgeholfen. Erst jetzt sah Paril, dass ihm das Blut in Strömen aus der Nase lief. Der klägliche Anblick verschaffte Paril noch etwas Genugtuung und stillte seinen Blutdurst.
Die zerlumpten Ausbrecher schienen in Hysterie versetzt; sie liefen durcheinander, schrien aufeinander ein und warfen gehetzte Blicke nach allen Seiten. Verständlich - sie mussten denken, dass die ganze Armee von Asîmchômsaia gleich über sie hereinbrechen würde. Paril hatte jedoch nur wenig Zeit, sich darüber zu amüsieren; binnen kurzem hatten sie sich gefangen und begannen wieder vorwärtszustolpern, und er mit ihnen, das Messer immer noch in der Nähe seiner Kehle.
Er war einmal mehr eine Geisel.
***
Lange dauerte die Reise nicht. Abrupt hielten die Gefangenen wieder an; und als Paril in Laufrichtung blickte, sah er - die Krieger, die mit seiner Gruppe gekommen waren, mit den Armbrüsten im Anschlag. Die Gejagten berieten sich fieberhaft flüsternd; sie glaubten wohl, sie seien umzingelt. Paril wusste natürlich, dass das nicht stimmte - es waren ja kaum 20 Leute da, der Rest des Heeres konnte kaum so schnell diese Stellung erreicht haben. Die 20 waren jedoch - da musste Paril dem Hauptmann Respekt zollen - äusserst effektvoll plaziert worden.Unter den Ausbrechern befanden sich übrigens zwei weitere alte Bekannte von Paril: just der, der jetzt das Messer hatte, war eine schmutzige und abgemagerte Version von Andai; und auch der, der Shnoiw hiess, war dabei. Die anderen glaubte er nicht zu kennen. Manche von ihnen sahen alt aus, mindestens fünfzig (obwohl in ihrem verwilderten Zustand die Bestimmung des Alters schwierig war); waren das jetzt die "Generäle"?
Ein kurzer nervöser Stoss in den Rücken; offenbar wollten sie trotzdem weiter. Andai schob ihn langsam vorwärts, mit kleinen ruckartigen Stössen in den Rücken. Er schien Paril übrigens nicht wiederzuerkennen.
Aus den Bäumen vor ihnen erklang eine Stimme. "Hier spricht der Herold des hochmeisterlichen Hauptmanns Ssaiang. An die verdammten flüchtigen Waldfrevler. Ihr seid umzingelt. Ergebt euch!" Der Herold schien auf einen Baum geklettert zu sein.
Der Griff, der Paril festhielt, wurde krampfhaft fester. Wieder wurden ein paar hastig geflüsterte Worte gewechselt. "Der hochmeisterliche Hauptmann", schrie anschliessend Andai, seine Stimme drohte überzuschlagen, "wird uns freilassen, denn er wird nicht am Tod dieses hochmeisterlichen Soldaten hier schuld sein wollen! Sonst würde er seinen Untergebenen zeigen, wie wenig ihm an ihrem Leben gelegen ist, und damit sein eigenes Grab bereiten!" Nicht schlecht gesprochen - allerdings hatte selbst Paril wenig Vertrauen, dass dem Hauptmann viel am Leben seiner Soldaten gelegen war.
Minute um Minute verging. Die - schon beinahe grenzenlose - Nervosität unter den flüchtigen Gefangenen stieg noch etwas höher, als die Armbrustschützen nicht von der Stelle wichen. Paril dachte für sich, dass die Nervosität auf seiten der Armbrustschützen auch ziemlich hoch sein musste. Arme Dummköpfe, wenn ihr nur wüsstet, dass ihr es lediglich mit ein paar ungeübten und überängstlichen Neulingen zu tun habt! Und Paril wunderte sich, wie gelassen und überlegen er sich trotz des Messers am Hals fühlte.
Plötzlich erscholl die Stimme des Herolds wieder. "An die unglückseligen Waldfrevler. Wenn sie den Soldaten töten, beweisen sie hiermit, dass sie die verabscheuungswürdigsten Kreaturen sind, die den Tod verdienen, und die hochmeisterlichen Krieger werden nicht zögern, ihnen die verdiente Strafe zu geben! Sie haben keine andere Wahl als sich zu ergeben!"
Aus den Augenwinkeln beobachtete Paril, wie sich die Geiselnehmer ratlos anstarrten. Andai hatte Falten in den Mundwinkeln, und von dem Grinsen, das in Parils Erinnerung wie ein fester Bestandteil des Gesichts gewirkt hatte, war nicht eine Spur zu sehen. Es war offensichtlich: der letzte Rest der Gefängnisrevolte stand kurz vor dem Ende.
Paril hatte all dies in einem eigenartigen Geisteszustand registriert - wie ein weit entfernter Beobachter, der von dem Geschehen selbst nicht betroffen war. Nun aber zuckte er plötzlich zusammen - Andais Blick war auf ihn fixiert! Und im nächsten Moment gab ihm dieser einen Stoss und fuhr ihn an: "He du,was grinst du eigentlich so? Du findest es wohl lustig, dass wir dich jetzt gleich umbringen, was?"
"Mich umbringen?" Paril zeigte keine Hast. "Das wäre keine gute Idee. Dann verliert ihr den letzten Schutz, den ihr noch habt, oder nicht?"
"Hmm, ja, gut gut, das weiss ich selbst", gab Andai zu, "aber wie wärs, wenn wir dir ein Ohr abschneiden?" Sein Gesicht kam nah an Parils heran, ein irres Licht flackerte in den Augen. "Und mit jedem Schritt vorwärts einen weiteren Körperteil?"
"Jaa, das wäre nicht schlecht", pflichtete Paril ungerührt bei, "bloss wäre das für den Typen da vorne ein Beweis mehr für euren Frevel..."
"Frevel, ha?!" Der Griff an Parils Arm verstärkte sich krampfhaft. "Jetzt fängt der auch noch an! Kann man denn mit keinem von euch Höhlenhockern normal reden? Du hältst dich also auch für einen besseren Menschen, bloss weil du in einem Baum schläfst? Als du vorhin Shidai verprügelt hast, sahst du nicht besonders heilig aus. Wenn du als Shidai geboren worden wärst, ohne reiche Eltern, was würdest du tun? Mit Freuden ein System unterstützen, unter dem du dein Leben lang zum Abschaum gehören wirst? Aus Gründen, die nicht logisch sind - unter euch 'guten Menschen' gibt es nämlich jede Menge echten Abschaum! Weisst du, wie die Aufseher im Gefangenenlager sich benehmen? Wie es echte Ketzer tun würden, nach euren eigenen Masstäben! Denn das Grüne Buch sagt: 'Doch Grausamkeit aus Lust sei tief verdammt!'" Andai riss an Parils Oberarm und blickte wild umher.
Paril war sprachlos. Auf so einen Redeschwall war er nicht gefasst gewesen - und am allerwenigsten auf ein Zitat aus dem Grünen Buch!
Andai war plötzlich ganz ruhig. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht - ein hartes, bösartiges Grinsen, das mit jenem Grinsen in Parils Erinnerung nichts gemein hatte. "Du hältst uns für Ketzer, ja? Alle von uns? Auch ihn?" Andai zeigte auf einen der zerlumpten Gefängniskittel. "Weisst du, wie er heisst? Es steht auf deiner Brust!" Und er stiess den Knauf des Messers gegen das Schriftzeichen auf Parils Waffenrock. Was...?
"Jawohl!" kreischte Andai plötzlich triumphierend, "er ist euer Super-Duper-Oberpriester! Gute Menschen nennt ihr euch und spinnt Komplotte gegen euren eigenen Hochmeister! Was euch am heiligsten ist, werft ihr in den Dreck, hetzt ihr wie ein wildes Tier - und uns nennt ihr Ketzer!" Eine ruckhafte Kopfbewegung, ein Blick zu den Truppen vor ihnen, einer zu den anderen Ausbrechern, die immer noch ratlos starrten. "Machen wir einen Test?" fuhr Andai fort. "Was meinst du? Werden die Truppen den Weg freigeben? Glaubst du, das Leben eines der ihren sei denen etwas wert? Ich sage dir: ich glaub es nicht!" Wieder Blicke zwischen den anderen.
"Nun", sagte Paril, "um ehrlich zu sein, ich glaub es auch nicht. Warum gebt ihr nicht auf?"
Andai antwortete nicht; er verharrte regungslos, den Blick in die Ferne gerichtet.
Und dann liess er plötzlich das Messer fallen.
Paril starrte ihn ungläubig an, sich zunächst nicht rührend. Andai stand einfach da, sein Blick war ausdruckslos. Paril machte prüfend einen Schritt, wie um zu testen, ob er wirklich frei sei. Er fühlte sich plötzlich schwindlig, sein Kopf schmerzte; er erschrak nur wenig, als mit Getrampel und Geprassel die hochmeisterlichen Krieger anrückten.
Parils Kollegen blieben in drei Mannslängen Entfernung stehen, die Armbrüste (leicht zitternd) im Anschlag. Mehr mussten sie nicht machen; die eigentliche "Arbeit" wurde gnädigerweise von erfahrenen Profis erledigt: den grüngewandeten Leibwächtern des Hauptmanns. Mit rüden Bewegungen trieben sie die gefassten Ausbrecher auseinander und fesselten ihnen die Hände auf dem Rücken. Dann kamen sie auf Paril zu.
Erlöst taumelte er ihnen entgegen - da packten sie ihn genauso grob wie die Sträflinge! Ehe er wusste, wie ihm geschah, hatten sie ihn in die Mitte genommen und trieben ihn zusammen mit den Gefangenen zwischen den "braunen Teppichen" hindurch. "He, was..." begann er zu protestieren - da fiel ihm ein, was er getan hatte. Er hatte Befehle missachtet, er hatte um einer kindischen Rache willen das ganze Unternehmen um ein Haar zum Scheitern gebracht! Das bedeutete mindestens einen Anpfiff und Arrest... Wahrscheinlich würden sie ihn auch der Befehlsverweigerung bezichtigen, der ganzen Truppe als schlechtes Beispiel hinstellen - vielleicht würden sie sogar behaupten, er sei ein Verräter und habe den Ausbrechern helfen wollen - Scheisse auf dem Meeresgrund! Er hatte es vermasselt, er hatte alles vermasselt! Welcher verschimmelte Wasserteufel war in ihn gefahren, dass er sich zu solch einer Dummejungenprügelei hatte hinreissen lassen? Bei Ssai, was war schon der Messerheld - ein kleiner neidischer Kalbladi eben, den man mit einem Achselzucken übergehen konnte. Dagegen jetzt als Verräter dazustehen - während eines blutigen Krieges - wirklich, dümmer konnte der dümmste Esel des Pyramidalwalds nicht sein... Dergestalt strafte s ich Paril bereits selber, bevor seine Vorgesetzten von Strafe überhaupt nur sprachen.
Die beiden Leibwächter liessen Paril plötzlich los und standen stramm; vor ihnen, unter den wie Lampen herabhängenden Früchten eines Halskettenbaums, war der Nuchael Techpkal aufgetaucht. Die zwei legten zum Gruss die Handflächen aneinander und trieben dann die Gefangenen weiter.
Paril legte seinerseits die Handflächen aneinander und stand bocksteif wie noch nie. Zum erstenmal stand er dem hochmeisterlichen Hauptmann Ssaiang direkt gegenüber.
Ssaiang hatte ein blasses, erstaunlich jung wirkendes Gesicht und schmale Lippen. Er war grösser als Paril - wenn man die seinen Kopf überragende Paradiesvogelfeder mitzählte. Er musterte Paril. "So. Er weiss natürlich, warum Er hier ist!" Seine Stimme war heiser, was ihn daran hinderte, laut zu schreien. Das hatte sich in der Vergangenheit einerseits als praktisch erwiesen, da man während seiner Reden ohne Probleme weiterdösen konnte, andererseits als gefährlich, wenn es einmal ausnahmsweise wichtig war, was er sagte. "Er hat einen Befehl missachtet. Er hat eigenmächtig und unverantwortlich gehandelt! Was hat Er zu sagen?"
Paril schluckte und senkte den Kopf. "Ich... bitte um Verzeihung", begann er zögernd. "Als ich... die Frevler sah... geriet ich ausser mir. Die... die Schänder von Ssai, ich hasse sie so sehr, dass ich nicht mehr denken konnte..." Nur möglichst das sagen, was er gerne hören will!
Hauptmann Ssaiang legte den Kopf leicht schief und die Stirn in Falten. "Hmm. Er sagt also, Er habe in guter Absicht gehandelt. Das ist zu begrüssen. Aber er war trotzdem sträflich leichtsinnig. Diese Ketzer sind aus der Seele Ssais ausgestossen, sie haben schwarze und verlogene Gedanken; es ist gefährlich, ihnen nur nahe zu kommen. Er hat auch seine Seele leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, indem er mit den Volksverhetzern gesprochen hat! Er soll wissen, dass keines der von ihnen gesprochenen Worte wahr ist."
"Davon bin ich überzeugt!" antwortete Paril sofort. Das Verhör schien bis jetzt gar nicht so bedrohlich, wie er gefürchtet hatte.
Ssaiang beobachtete ihn einen Moment lang, als ob er auf etwas wartete. Als Paril stumm blieb, trat er einen Schritt näher und schaute Paril mit gerunzelter Stirn ins Gesicht."Erinnert Er sich daran, was der Ketzer zu Ihm gesprochen hat?" Aus nächster Nähe wirkte sein Gesicht deutlich weniger jung (und ausgesprochen hässlich, fand Paril plötzlich). "Bericht, daher!"
"Jawohl!" Reflexartig stand Paril wieder stramm. "Er - er hat... aufgeregt und wirr geredet", begann er nach etwas Überlegen, "dass wir... kein Recht hätten, ihn Ketzer zu nennen, weil wir nicht besser wären..." Es kam ihm etwas sonderbar vor, dass der Hauptmann das wissen wollte. Wollte er Andai wegen seiner Worte zusätzlich bestrafen? Aber man würde sie doch sowieso alle hinrichten...
"Lästerungen? Irgendwelche Lästerungen?" Ssaiang liess nicht locker. "Verleumdungen unserer heiligen Religion, Verleumdungen des heiligen Assings?"
"Des heiligen Assings..." Paril schaute in die Höhe, fixierte mit gerunzelter Stirne das Rankengewirr, von dem die kegelförmigen Früchte des Halskettenbaums herabbaumelten. "Er sagte... Er sagte etwas über den Hochmeister. Er... Ja, er behauptete, einer der Gefangenen sei der Hochmeister. Wir hätten ihn selbst gefangengenommen..."
Der Hauptmann trat einen Schritt zurück. "Aha! Da sieht Er,was sie für entartete Ideen haben. Damit versuchen sie, Zwietracht im hochmeisterlichen Heer zu erzeugen und ihm seine Seele zu nehmen. Er sieht jetzt, wie gefährlich der Umgang mit ihnen ist?"
Was sollte daran gefährlich sein? Wer glaubte schon solch absurde Behauptungen? Paril begann sich zu ärgern. So blöd,dass man ihm bei jeder Gelegenheit die richtige Antwort von neuem einhämmern musste, war er nun wirklich nicht! Es war an der Zeit, dies endlich klarzustellen. "Bitte um Verzeihung", sagte er, "für so gross halte ich die Gefahr nicht. Eine Lüge dieser Art ist doch sehr leicht zu entlarven - sobald der heilige Hochmeister Assing in der Öffentlichkeit auftritt, löst sich alles in Nichts auf..."
Ssaiang sank etwas zusammen, sein blasses Gesicht wurde rötlich. "Er widerspricht?" Er hatte seine Stimme etwas erhoben, worauf sie sofort ins Kreischende umzuschlagen drohte. "Die teuflische Saat ist schon aufgegangen! Er handelt eigenmächtig und leichtsinnig, und Er widerspricht?! Leute wie Er werden es schaffen, dass das Heer seine Seele verliert! Er wird schon sehen, wo das hinführt! Stillgestanden!"
Paril stand still - und ärgerte sich grün und blau. Schon wieder hatte er alles vermasselt! Wie kam er dazu, überhaupt zu versuchen, mit einem Offizier Kontakt aufzunehmen, nachdem er in den letzten Wochen wieder und wieder erfahren hatte, wie sinnlos das war! Hatte er vorhin zweifeln können, so war jetzt jeder Zweifel ausgeschlossen, dass man ihn schwer bestrafen würde. Veschimmelter Wasserteufel, verschimmelter Wasserteufel... Sein Inneres kochte, und es kostete Paril seine ganze Selbstbeherrschung, in der vorschriftsmässigen Haltung zu verharren.
Der Hauptmann drehte sich plötzlich um und begann sich zu entfernen. Paril, vom Befehl des Strammstehens nicht befreit, verharrte unbeweglich auf seinem Platz. Seiner Bewegungsmöglichkeiten beraubt, war er auch unfähig, sich der Gefühle zu erwehren, die ihn von oben bis unten durchpulsten; gleichzeitig fiel es ihm schwer, nur einen der rasenden Gedanken festzuhalten. Es war der Kater von heute morgen, der sich wieder bemerkbar machte; und als die Minuten vergingen, ohne dass sich der Hauptmann blicken liess, fühlte sich Paril zunehmend erschöpfter. War das der erste Teil seiner Strafe - hier strammstehen zu müssen, den "schwarzen und verlogenen Gedanken" ausgeliefert - und ohne zu wissen, was man jetzt mit ihm machen würde? Überhaupt - wieso musste er hier eigentlich weiter stehen? Vorsichtig liess er seine Augenbälle - die durfte er bewegen - von rechts nach links wandern. Er war auf einmal gar nicht mehr sicher, ob er wirklich noch stillzustehen hatte. Hatte er den Befehl in seiner Müdigkeit bloss überhört? Aber der Hauptmann hätte ihn doch bestimmt nicht einfach hier stehenlassen...
Ein Geräusch hinter Paril liess ihn reflexartig den Kopf wenden; noch im selben Augenblick riss er ihn erschrocken wieder zurück. Bestimmt, fuhr ihm durch den Kopf, hatte man ihn heimlich beobachtet und nur darauf gewartet, dass er das Strammstehen verletzte! In Erwartung wütenden Gebrülls hielt Paril die Luft an - doch es geschah nichts. Du grüne Neune, es ging hier um Krieg und Verrat - wen interessierte da ein nachlässiges Strammstehen? Seine Lage war schlimm genug, da bestand keinerlei Notwendigkeit, sich noch zusätzlich aufzuregen...
Erst dann kam ihm ins Bewusstsein, wovon das Geräusch hinter ihm hergerührt hatte.
Von dort näherten sich, in ihren grünen Kitteln, die beiden Leibwächter.
In diesem Augenblick geschah etwas in Parils Kopf. Ein Prozess, der auf der Kippe gestanden hatte, bekam gleichsam den letzten kleinen, entscheidenden Stups, um in Gang zu kommen. Noch war sich Paril dessen nicht bewusst; doch als er abermals den Kopf wandte, war seine Sinneswahrnehmung plötzlich massiv gesteigert - keine Spur mehr von der vorigen Müdigkeit. Er sah in einem Augenblick den umgestürzten Baumstamm, an dem die gefassten Ausbrecher in einer Reihe festgebunden waren, mit verbundenen Augen und so, dass die Köpfe gerade über den Baumstamm ragten - so, dass man bequem mit dem Schwert treffen konnte - gebunden mit Stricken von derselben Art, wie sie die beiden Leibwächter jetzt in den Händen hielten - und in einiger Entfernung stand der Hauptmann mit verschränkten Armen und beobachtete die Szene ungeduldig... Jetzt begann Paril etwas zu spüren; ein unbestimmtes Gefühl wie ein Zuschnüren der Kehle. "He", entfuhr es ihm, "wollt ihr etwa..." Sobald er einen Ton gesagt hatte, reagierten sie: ihre Bewegungen beschleunigten sich schlagartig, und ihre Gesichter veränderten sich. Die Gesichter. Er sah sie besonders deutlich. Sie sahen beide gleich aus. Grob, finster, entschlossen... und leer, blöde, grenzenlos stur! Und Paril auf unheimliche Weise bekannt.
Ja, Paril kannte diese Gesichter. Er hatte sie vor langer Zeit in Onnikir gesehen. Er hatte von ihnen geträumt. Er hatte sie in den letzten Wochen wieder und wieder im Heer angetroffen. Und jede einzelne dieser Begegnungen hatte ihn ein bisschen mehr vorbereitet auf das, was er jetzt tat.