11 Zigaretten eine Mark

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tokolit

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Ich habe den Blick aus meinem Zimmer zu Hause noch genau vor mir: die schmale Straße der kleinen Siedlung entlang bis zum „Platz“, der durch ein kleines, etwas erhabenes ovales und gepflastertes Rondell mit zwei Birken gebildet und von der Straße eingekreist wurde und auf dessen Mitte eine „klassische“ gelbe Telefonzelle stand. Die Erinnerung geht in eine Zeit, in der noch niemandem eingefallen wäre, von einer gelben Telefonzelle zu sprechen, weil es noch keine gelbe und graue oder sonstige bunte Post gab - die Post war gelb, und Telefonzellen waren gelb. Punkt. Auf der linken Seite der Straße schräg gegenüber unseres Hauses lag etwas zurück mit einigen Fahrradständern davor der „Konsum“ - mit Betonung auf dem „o“ und kurzem „u“ - rückblickend ein „Tante-Emma-Laden“ mit allem täglichen Haushaltsbedarf auf einer Fläche, die kleiner war als heute mein Wohnzimmer. Vor dem Eingang draußen seitlich des Schaufensters zur Rechten ein Briefkasten, ja - auch gelb - , zur Linken ein Zigarettenautomat, bescheiden wie die Umgebung, mit 8 Sorten, darunter Reval ohne Filter in kleinen Packungen, 11 Stück für eine Mark. Dahinter kamen einige kleine Einfamilienhäuser mit uns nur flüchtiger bekannten Leuten, ganz hinten an der Ecke und gegenüber dem Rondell das Eckgrundstück, wo der Polizist wohnte, dessen etwas dicklicher Sohn in meiner Klasse war. Auf unserer Seite der Straße kamen nur noch zwei Häuser. Der direkte Nachbar war irgendwie interessant, wenn auch für uns eher entfernt, fremd - er hatte einen kleinen Anbau am Haus mit einem Schweinestall, dahinter noch ein Laufgehege für ein Dutzend Hühner und drumrum ein ziemliches Gerümpel, in dem man gerne mal gestöbert hätte. Davor - zwischen unseren Häusern - lag sein umfangreicher Gemüsegarten, der den ganzen Sommer irgendetwas nützliches Eßbares hervorbrachte. „Nur nützlich“ nach meinem Geschmack - der fruchtbare Anteil unseres eigenen Gartens lag hinter unserem Haus und beschränkte sich seit langem auf Erdbeeren und einige Obstbäume, nicht ganz so „nützlich“, eher etwas für’s Dessert, das damals bei uns „Nachtisch“ hieß. In der Zeit, in die meine Erinnerung schweift, hatte mein Blick aus dem Fenster als Ziel stets die Telefonzelle am Rondell; sie war mit ihrer Beleuchtung auch abends und selbst im gerade ausklingenden Sommer durch die noch voll im Grün stehenden Vorgärten hindurch gut zu sehen und stand in dieser bestimmten Zeit für den Kontakt zu meiner großen Liebe.

Sie hieß Linda, war Amerikanerin aus Los Angeles und wohnte zu der Zeit in München - das war für mich im norddeutschen Flachland so ziemlich am anderen Ende - nicht der Welt, aber doch der Republik. Es war die Zeit vor dem Abitur, und Linda war im vergangenen Jahr als Gast an unserer Schule gewesen. Sie hatte viele Kontakte mit Anderen aus meiner Klasse, dennoch hatten wir uns eigentlich erst gegen Ende ihres Aufenthaltes und außerhalb der Schule wahrgenommen. Sie wohnte gegenüber den Schulgebäuden in der Villa eines Unternehmers, der mir in seiner Eigenschaft als Musikliebhaber und -förderer angeboten hatte, an seinem Flügel zu üben, nachdem ich bei einem seiner Hauskonzerte einem Pianisten die Noten umgeblättert hatte. Das gesamte Anwesen war tagsüber bis auf die Haushälterin und einen gelegentlich tätigen Gärtner praktisch ungenutzt, so daß ich nach Belieben zum Üben kommen und gehen konnte. Wenn Linda - eher selten - zu Hause war, hörte sie schon mal zu und wir unterhielten uns, aber das passierte wenige Male und auch jeweils nur kurz, oberflächlich und ohne irgendwelche aufregenden Ereignisse. Mein bester Freund in der Schule war häufiger mit ihr zusammen und hatte ganz offenbar eine Schwäche für sie, in den letzten Wochen ihres Aufenthalts gingen sie miteinander. Es gab eine große Abschiedsfete in den Kellerräumen der Villa, es wurden tausend Versprechungen gemacht, wie man den Kontakt halten wollte, wie und wo man sich besuchen und wiedersehen wollte - - - Linda war für die Schule oder jedenfalls für den Jahrgang, den sie besucht hatte, ein ziemliches Ereignis gewesen, „Besuch aus Amerika“ eben. Ich sah das eher gelassen, konnte das Ausmaß der allgemeinen Euphorie und für mich z. T. aufgesetzt scheinenden Vertrautheit und Freundschaft nicht recht nachvollziehen.

Nach der Zeit bei uns ging sie für einige Wochen nach Heidelberg - Amerikaner müssen halt einfach dahin, wenn sie in Deutschland sind. Mein erwähnter Freund besuchte sie dort, erzählte viel von ihr, schließlich auch, daß sie nun für längere Zeit nach München gehe. Irgendwann und aus mir nicht mehr erfindlichen Gründen schrieb ich den ersten Brief. Sie antwortete. Einfach so - ganz unverfänglich, Bericht von hier, Bericht von da. Allerdings kamen bald sehr persönliche Ansichten und Gedanken in den Briefen vor - von einer Art und Intensität, wie ich sie aus Gesprächen in jener Zeit kaum kannte. Ich machte mir - immer schon - viele Gedanken, sie war ein gutes Jahr älter, reifer, hatte vieles gesehen und erlebt im letzten Jahr ihrer Europareise, kannte außerdem als Heimat ein ganz anderes Land, brachte mir eine andere Denkweise näher. Wir entdeckten Gemeinsamkeiten, hatten den gleichen Humor - manches Mal erst mit Verzögerung verstanden zwar aufgrund sprachlicher Vertracktheiten - und die Briefe wurden länger, gingen bald wenigstens 3x pro Woche, manchmal täglich hin und her.

Ich hatte bis dahin nicht geahnt, daß man sich über 800 km hinweg so verlieben konnte, ohne sich während dieses Vorgangs einmal zu sehen, ohne ein einziges Mal auch nur Hand gehalten oder gar einen einzigen Kuß gewechselt zu haben. Es war ein einmaliges Erlebnis und ungeheuer aufregend, wie wir uns einander annäherten, ganz vorsichtig die zunehmende Sympathie zu beschreiben suchten, wie die Briefe immer vertrauter und intimer wurden, wie wir uns schließlich unserer großen Zuneigung ergaben und gegenseitig unsere Liebe erklärten, uns offenbarten. Das Leben bestand wesentlich - neben der völlig nebensächlichen Schule und meinen sonstigen Aktivitäten - nur aus der Sehnsucht nach dem nächsten Brief, dem allmittäglichen Blick auf die Post und stundenlangem Träumen und Schreiben, virtuellen Dialogen und dem Niederschreiben der daraus gewonnenen Erkenntnisse in seitenlangen Briefen. Diese Briefe waren ebenso spontan und emotional entstandene wie dann doch sorgfältigst ausformulierte Erklärungen, Bekenntnisse, Beschwörungen, Phantasien, Versprechungen und Erläuterungen von unendlich vielen Fragen und Antworten - das ganze im ständigen Wechsel zwischen deutsch und englisch, durchmischt mit Erzählungen aus dem Alltag, Zitaten aus Gelesenem und vielem mehr. Es war eine spannende Zeit, auf- und erregend, getragen von einer völlig undefinierten, niemals ausgemalten, noch weniger ausgesprochenen Hoffnung auf zukünftige reale Gemeinsamkeit, geprägt durch überwältigende Gefühle der Zärtlichkeit und Nähe, ausgedrückt durch ebenso zarte wie glutvolle Liebeserklärungen. Gleichwohl - diese Entwicklung und Gefühle waren wohl nicht das wirklich Besondere an unserer Beziehung, ich denke, das erleben und durchleben viele Jugendliche in dieser Zeit. Das Spezifische war die wahrhaftige Unerfülltheit und voraussichtliche Unerfüllbarkeit und Unmöglichkeit, unsere Gedanken und Gefühle jemals greifbar, jemals Realität werden zu lassen. Schon die aktuelle Entfernung war angesichts der übrigen Umstände, des Alters, der finanziellen und sonstigen Abhängigkeiten praktisch vorerst unüberwindbar, in nicht so ganz ferner Zukunft drohte darüber hinaus Lindas unzweifelhafte Rückkehr in die USA, die sie dann für mich endgültig unerreichbar machen würde. Der Briefwechsel war mehr Traum als alles Andere, und so wandelte ich wochenlang wie schwerelos auf diesen Wolken, die aus nichts Anderem bestanden als aus Gedanken, Tinte und Papier.

Heute kaum noch denkbar, dauerte es damals tatsächlich wohl zwei Monate, bevor es nicht mehr vermeidbar war, daß wir endlich mal telefonieren mußten. Es war einfach zwingend nach unserer Entwicklung, endlich direkt miteinander zu sprechen, die geliebte und doch kaum noch erinnerte Stimme zu hören, uns auch auf diese Weise zu vergewissern, daß wir es mit einem realen Wesen zu tun hatten und nicht mit einem über der eigenen Wolke schwebenden, mit verzauberter Tinte schreibenden Engel. „Nicht mehr vermeidbar“ war in etwa das, was ich vor dem ersten Telefonat so empfand, obwohl ich es natürlich auch sehnlichst erwartete und eigentlich eher als unerträglich hätte empfinden sollen, noch länger darauf zu verzichten. Ich hatte jedoch ziemliches Lampenfieber vor diesem ersten Gespräch, durchspielte in Gedanken alle möglichen Varianten und steigert im Grunde nur meine Unsicherheit. Bisher hatte ich die ganze Beziehung von der sicheren Position hinter meinem Schreibtisch mit unendlicher Bedenkzeit vor jedem Satz gestalten können - und ich wußte, daß ich diese Zeit oft genug gebraucht und träumend und überlegend ausgenutzt hatte, um genau das Richtige zum Ausdruck zu bringen. Am Telefon würde ich nichts korrigieren können, würde die Zeit laufen und schweigendes Überlegen womöglich falsche Schlüsse auslösen. Kein Lächeln, keine Geste kann so ein Schweigen am Telefon überbrücken. Es war damals noch ausgeprägter bei mir und hat mich bis heute begleitet, daß ich mich mit dem Füller in der Hand oder an der Schreibmaschine sehr viel wohler, vor allem sicherer fühlte als in der Situation, akut meine Gedanken und Absichten formulieren und aussprechen zu müssen. Kalte Hände, keine „Schmetterlinge im Bauch“, sondern eher einen Schwarm Hornissen - wir hatten einen Zeitpunkt für den Anruf vereinbart, ich stand in der Telefonzelle und hatte Angst. Es ging vorbei, und es ging gut. Sie war göttlich - so liebevoll, so locker, so lustig, so sicher auch, und natürlich war die Zeit dann viel zu kurz, das Kleingeld viel zu wenig. Ich konnte auf den Wolken bleiben und ging auf ihnen den kurzen Weg zurück vom Platz unter den Birken, hatte das Gefühl, als könnte ich direkt durchs Fenster in mein Zimmer im ersten Stock einsteigen. Ich mußte dringend einen Brief schreiben . . .

Wir telefonierten nun häufiger, mußten das aber doch begrenzen, denn Ferngespräche waren damals noch teuer - zu teuer jedenfalls für Schüler und brotlose Studenten - und die Briefe blieben unser wichtigstes Medium. Diese Vorliebe ist mir lange erhalten geblieben, das ganze Studium hindurch hatte ich intensive Briefwechsel mit ganz verschiedenen Partnerinnen, allerdings nie mehr mit einer aktuellen Freundin. Da gab es nur noch einige wenige lange Schreiben in Krisen oder zum Ende von Beziehungen. Vorläufig war das Schreiben an Linda noch das Lebenselixier schlechthin. Während einer Reise von ihr nach Salzburg war es etwas schwierig wegen wechselnder Adressen, aber ich schrieb einfach jeden Tag nach München - bei der Rückkehr hatte sie wohl einen halben Tag zu lesen. Sie schrieb von unterwegs etwas seltener, aber dafür kam eines Tages ein besonders dicker Brief, so ein dicker, gepolsterter Umschlag, und ich war völlig aus dem Häuschen. Darin fand sich neben einem wunderbaren Brief mit vielen „x“en eine kleine Packung mit einem Dutzend Mozartkugeln. Ich liebte Mozart, ich liebte alles Süße und ganz besonders meine Linda. Ich aß jeden Tag eine dieser Köstlichkeiten und so reichten sie fast die zwei Wochen, bis meine Angebetete wieder zurück in München war. Noch heute sind der Anblick oder die Erwähnung von Mozartkugeln für mich automatisch und untrennbar mit der Erinnerung an diese wunderbare Zeit mit Linda verbunden.

Die Monate gingen ins Land, es ging bei mir auf das Abitur zu, die Zeit von Linda in Deutschland drohte abzulaufen, und wir wußten beide, daß es uns gelingen mußte, uns vor ihrer Abreise wenigstens noch einmal zu treffen. Es war unvorstellbar, daß sie so verschwinden sollte, ohne daß wir uns einmal tatsächlich umarmt hatten, ohne daß wir auch nur einen Kuß ausgetauscht hätten. Für mich seltsamer- und überaus überraschenderweise fand ich bei der ersten Andeutung meiner Reisepläne sofort volle Unterstützung von meinen Eltern. Fast ohne weiteres Zutun plante mein Vater in den nächsten Ferien einen kurzen Urlaub in Bayern. Er wollte ein paar Seen und Berge besuchen und erwandern, mich auf dem Hinweg in München absetzen und am Ende dort wieder abholen. Das Leben war herrlich - wenn nur die Zeit nicht so entsetzlich langsam gekrochen wäre ... Linda malte in ihren Briefen schon aus, was sie mir von München alles zeigen würde, wohin wir zusammen gehen müßten usw., und ich war zunehmend ungeduldig, konnte die Reise kaum noch erwarten.

Wir sagten es nicht, aber wir wußten natürlich im Grunde beide, daß diese Woche in München unsere einzige Chance war, daß wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen würden danach, daß wir nur diese eine Gelegenheit hatten und genießen mußten. Und diese Woche war wie ein einziger, endloser Liebesbrief - nur noch intensiver und auch noch süßer als selbst die göttlichen Mozartkugeln aus Salzburg. Wir lagen uns endlos in den Armen, ließenkeine Sekunde unsere Hände los, liefen stundenlang durch München, durchquerten den Englischen Garten in allen Richtungen. Linda hatte neben ihrer einfach wunderbaren Art zu sprechen und zu lachen und ihrer Leidenschaft zu küssen einen Lippenstift - eine Art lip gloss - mit einem Geschmack, den ich bei der Erinnerung noch heute spüre. Und sie hatte etwas gegen das Rauchen - und so wurde ich eine Woche lang zum Nichtraucher. Um nichts in der Welt hätte ich auch nur auf einen einzigen Kuß von ihr verzichtet !
Wir durchstreiften die Stadt, ich bewunderte die ersten Eindrücke von einer „richtigen Großstadt“, die beeindruckenden Gebäude, den Viktualienmarkt; wir genossen die Cafés und Restaurants in Schwabing, wir besuchten den Zoo und hatten großen Spaß an einem schielenden Leoparden und und und ... Vor allem aber hatten wir uns und als einziges Problem, dass man nicht gleichzeitig reden und küssen kann. Im Zweifelsfall entschieden wir uns meistens fürs Küssen. Die Tage vergingen - natürlich - viel zu rasch, Momente der Wehmut schlichen sich ein. Am vorletzten Tag gingen wir ins Kino, „Last Picture Show“, ein Film aus einem Kaff im amerikanischen Westen in der Originalfassung. Die Sprache war entsetzlich, vom Text verstand ich nicht allzu viel, und es erleichterte mich enorm, dass Linda bestätigte, selbst sie hätte so ihre Schwierigkeiten mit dem Slang. Immerhin kriegte ich mit, daß es ein trauriger Film war, und mir wurde bewußt, daß es auch für uns irgendwie die „last show“ - der letzte Abend war. Über die Zukunft machten wir uns - was uns beide betraf - keine Illusionen. Sie würde bald zurückfliegen in die USA, dort ihr „altes Leben“ wieder aufnehmen und studieren, ich würde nach dem bevorstehenden Abitur wohl zielstrebig ebenfalls eine Ausbildung bzw. das Studium anvisieren - Geld für Interkontinentalreisen war nicht in Sichtweite, und so planten wir auch in keiner Weise irgendetwas Gemeinsames. Das war zugleich natürlich traurig, da irgendwie endgültig, aber auch gut so, daß wir nicht unsere verbleibende Zeit mit unwahrscheinlichen Geschichten und verzweifelten Plänen verschwendeten, sondern einfach jede Stunde genossen, die wir noch miteinander hatten. Unsere Hände waren wie zusammengewachsen, nie vergesse ich ihre Augen, immer wieder versanken wir in unseren Blicken, ihr unwahrscheinlich ansteckendes Lachen sehe ich noch heute vor mir - es waren schöne und bleibende Erinnerungen, die wir in diesen Tagen schufen.

Der Reiseplan war inzwischen etwas geändert, ich würde ein Stück mit dem Zug fahren und meinen Vater unterwegs bei Verwandten treffen. Der Abschied auf dem Bahnsteig ging noch ganz gut. Als dann aber der Zug rollte und SIE allmählich außer Sichtweite geriet, war es mit der Fassung vorbei. Die Bahn war ziemlich voll, und ich rannte heulend und schwitzend mit meinem Koffer durch die Wagen, um einen einigermaßen ruhigen Platz zu finden. Warum hatten wir nur sowenig Zeit gehabt zusammen, nur diese wenigen Tage, warum konnte es nicht doch irgendwie weitergehen ? Mußte sie denn tatsächlich zurück oder konnte ich nicht auswandern ... was man eben so Verrücktes denkt, wenn eine große Liebe plötzlich vor dem Aus steht. Das erste Positive, was mir auffiel, war daß ich wieder rauchen konnte. In ihrer Gesellschaft hatte ich es eigentlich fast nicht vermisst, aber jetzt war es plötzlich wieder ein dringendes Bedürfnis. Seit diesem Tag sind Bahnhöfe für mich vor allem ein Symbol des Abschiednehmens, wenn ich mit Gepäck durch einen Zug gehen muß auf der Suche nach einem freien Abteil, denke ich noch heute an diese Fahrt, und wenn sie die Raucherabteile eines Tages ganz abschaffen, werde ich keinen Zug mehr betreten.

An die folgende Phase habe ich vergleichsweise wenig Erinnerungen. Die Zeit verging so irgendwie, es gingen noch etliche Briefe hin und her, aber sie wurden weniger, es war irgendwie ein „geordneter Rückzug“, und mit Lindas Abreise in die USA hörte der Briefwechsel auf. Es war einfach vorbei, „es schrieb sich nicht mehr“, einige Wochen später war alles nur noch ferne Erinnerung. Ich dachte noch an sie, wenn ich zu Hause aus meinem Fenster sah, wenn in der Abenddämmerung das Licht der Telefonzelle heraufschimmerte und trügerisch lockte. Wenn ich dann hinausging, führte mein Weg nur noch bis gegenüber zum Automaten, der bald darauf umgestellt wurde auf die neuen Großpackungen. Eine Zeit war vorbei, bald startete ich ins Berufsleben, zog zu Hause aus, und es begann etwas Neues. Die Jugend war vorbei, unwiderbringlich und endgültig. Vorbei die vielleicht aufregendste wie auch harmloseste Liebe, vorbei die Schule, vorbei die Zeit der Freizeit, der Ahnungslosigkeit vom Leben. Vieles würde nie wieder so sein, einfach aus und vorbei - nur noch Bild, Gefühl, Erinnerung - wie elf Zigaretten für eine Mark.

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M

Minds Eye

Gast
Hi Tokolit.
Total schön, dieser "nostalgische" Rückblick.
Fesselnd und mit Herz geschrieben.
Gruß,
ME.
 

tokolit

Mitglied
Hallo Minds Eye -

danke für das "Echo" ! Ich war ziemlich unsicher, wie das "ankommt", weil es doch eigentlich ziemlich persönlich ist. - Ich hab die Idee und den Titel für diese Geschichte seit bestimmt 20 Jahren, und jetzt musste es einfach geschrieben werden.

Gruß -
tokolit
 

majissa

Mitglied
Gut, dass du es aufgeschrieben hast.

Lieber tokolit,

keine Sorge – diese Story kommt an. Ich habe sie bis zur letzten Zeile genossen und kann mit Überzeugung behaupten, dass hier eine große Liebe mal ganz ohne Kitsch und Schnörkel beschrieben ist. Wohl mit einem gewissen Hang zur Redundanz, die aber nicht umständlich wirkt, sondern fesselt und tief in das Geschehen hineinzieht. Vorsichtig gefühlvoll und verhalten wehmütig bewegst du dich durch die einzelnen Stationen der Handlung, ohne je den Faden zu verlieren, ohne auch nur im Geringsten langweilig zu klingen. Dein Erzählstil wirkt sicher und – was besonders schön ist – auf seine Art einzigartig. Deine zyklische Gliederung gefällt mir. Die 11 Zigaretten für eine Mark bilden ja fast eine Art Rahmenhandlung. Man merkt, dass du sehr sorgfältig vorgegangen bist.

Einige Kleinigkeiten, die mir auffielen:

„Der direkte Nachbar war irgendwie interessant“

Das ist mir zu vage. Inwiefern war er interessant? Das wird hier nicht näher erläutert. Wenn es für den Handlungsablauf nicht wichtig ist, könnte das „irgendwie“ doch wegfallen. So weckt es nur eine Neugierde, die nicht weiter befriedigt wird.

„In der Zeit, in die meine Erinnerung schweift, hatte mein Blick aus dem Fenster als Ziel stets die Telefonzelle am Rondell; sie war mit ihrer Beleuchtung auch abends und selbst im gerade ausklingenden Sommer durch die noch voll im Grün stehenden Vorgärten hindurch gut zu sehen und stand in dieser bestimmten Zeit für den Kontakt zu meiner großen Liebe.“

Ein weiterer Beweis dafür, dass lange Sätze durchaus ihre Berechtigung haben, wenn sie so elegant „gewebt“ sind wie dieser hier.

„...ich denke, das erleben und durchleben viele Jugendliche in dieser Zeit.“

Dieser Satz wirkt deplaziert. Er passt nicht in die Handlung und durchbricht die Erzählung. Der Leser möchte hier an dieser Stelle nicht wirklich mit den Vermutungen des Autors konfrontiert werden. Weißt du, was ich meine?

„Heute kaum noch denkbar, dauerte es damals tatsächlich wohl zwei Monate, bevor es nicht mehr vermeidbar war, daß wir endlich mal telefonieren mußten.“

Das gibt es auch heute noch! ;)

„Ich konnte auf den Wolken bleiben und ging auf ihnen den kurzen Weg zurück vom Platz unter den Birken, hatte das Gefühl, als könnte ich direkt durchs Fenster in mein Zimmer im ersten Stock einsteigen. Ich mußte dringend einen Brief schreiben . . . „

Schön! Das nenne ich doch mal Literatur...

„Diese Vorliebe ist mir lange erhalten geblieben, das ganze Studium hindurch hatte ich intensive Briefwechsel mit ganz verschiedenen Partnerinnen, allerdings nie mehr mit einer aktuellen Freundin. Da gab es nur noch einige wenige lange Schreiben in Krisen oder zum Ende von Beziehungen.“

Dieser Rückblick passt nicht in den Ablauf der Handlung. Gerade noch ist da der intensive Briefkontakt mit Linda und plötzlich erfolgt ein Zeitsprung, der völlig unvermittelt von späteren Kontakten erzählt. Ich dachte schon, die Geschichte findet hier ihr Ende.

„ein besonders dicker Brief, so ein dicker, gepolsterter Umschlag,...“

dicker – dicker – unschöne Wiederholung.

„Noch heute sind der Anblick oder die Erwähnung von Mozartkugeln für mich automatisch und untrennbar mit der Erinnerung an diese wunderbare Zeit mit Linda verbunden.“

Das ist zauberhaft!

„Die Monate gingen ins Land, es ging bei mir auf das Abitur zu, ...“

gingen – ging – Wiederholung

„Linda hatte neben ihrer einfach wunderbaren Art zu sprechen und zu lachen und ihrer Leidenschaft zu küssen einen Lippenstift - eine Art lip gloss - mit einem Geschmack, den ich bei der Erinnerung noch heute spüre.“

Schön, aber der Leser möchte dennoch wissen, wie Linda nun genau gesprochen hat. Was in ihrer Art zu sprechen machte sie so wunderbar?

Und sie hatte etwas gegen das Rauchen - und so wurde ich eine Woche lang zum Nichtraucher. Um nichts in der Welt hätte ich auch nur auf einen einzigen Kuß von ihr verzichtet !

Das ist durchaus nachvollziehbar.

„Immerhin kriegte ich mit, daß es ein trauriger Film war, und ...“

Na ja, „kriegte mit“ klingt nicht besonders fein. Es wird der dem Text immanenten Wortgewandtheit nicht gerecht.

„Das war zugleich natürlich traurig, da irgendwie endgültig, aber auch gut so, daß wir nicht unsere verbleibende Zeit mit unwahrscheinlichen Geschichten und verzweifelten Plänen verschwendeten, sondern einfach jede Stunde genossen, die wir noch miteinander hatten.“

Diese Textstelle habe ich herausgepickt, weil sie gleichzeitig so traurig und doch auf brutale Art abgeklärt erscheint. Das gefällt mir.

LG
Majissa
 

tokolit

Mitglied
Danke für die Tips !

Liebe Majissa -

ganz herzlichen Dank für das aufmerksame Lesen und die gezielten Hinweise auf einige "Unebenheiten". Ich werde die entsprechenden Stellen überarbeiten.
Im Übrigen freut mich besonders, dass Dir die Geschichte insgesamt so gut gefallen hat.

Ich hoffe und nehme an, dass wir uns hier noch öfter austauschen werden.

Schöne Grüße schickt Dir

tokolit
 



 
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