12. Namen

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Rokwe

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12. Namen, 13. Ein Brief für mich, 14. Wendung, Epilog

12. Namen

Und ich fand ihn. Nicht gleich beim ersten Mal, als ich voller Hoffnung in den Park eilte und enttäuscht wurde, weil er nicht da war, auch nicht beim zweiten Mal, ebensowenig wie beim dritten. Ich weiß nicht, an wievielen Tagen ich den immer gleichen Weg beschritt, wie oft ich mir selbst immer wieder Mut zusprach und gegen die Leere ankämpfte, die sich mit jedem erfolglosen Versuch in mir auszubreiten begann – irgendwann war er plötzlich doch da. Er saß einfach da, wortlos, ruhend, edel. Die Begrüßung war herzlich und bedurfte nicht vieler Worte. Wie seltsam schön war es, einfach wieder neben ihm zu sitzen und zu schweigen! Wie zwei alte Freunde betrachteten wir uns die Welt in unserem kleinen Park und waren zufrieden. Und wir trafen uns wieder und immer wieder, saßen nebeneinander und schauten und schwiegen. Und manchmal sprachen wir auch. Wir schienen beide die gegenseitige Nähe zu genießen, ohne Grund, ohne Erklärung, ohne Rechtfertigung. Ohne Sinn? Wir waren einfach beisammen, und es war gut so.
„Als ich dich damals beobachtete“, sagte er mir einmal, „und miterleben durfte, was mit dem Brot und danach mit dir geschah, wußte ich sofort, daß du mein Freund bist.“
„Warum?“ fragte ich.
„Weil ich sofort erkannte, daß wir etwas Wichtiges gemeinsam haben. Du hast über Brot nachgedacht, hast dir die Gedanken zu Herzen genommen, hast innerlich gekämpft – das war mir beim ersten Blick sofort klar. Auch ich denke nach, nehme mir vieles zu Herzen, kämpfe innerlich. Jeden Tag.“
Und dann formte er jene Worte, mit denen er mir aus der Seele sprach und die ich mir zu eigen machte, und wenn ich sie ausspreche, dann ist er es, der aus mir spricht, und wenn ich sie heute schreibe, dann war er es, der sie schon gestern schrieb:
„Ich bin weich und hart. Das Weiche in mir weint, das Harte bewahrt mich davor, irre zu werden.“
Ich verstand. Endlich verstand ich. Endlich. Und ich sah, daß seine Augen feucht waren, und eine Träne schickte sich an, auf den Boden zu fallen, süßlich, bitter, drohend, aber seine starke Hand hielt sie zurück, erlaubte nicht, daß sich die Erde von ihm tränken ließ (denn er wußte, daß es noch nicht an der Zeit war, zur Erde zurückzukehren), er strich sie sich aus dem Augenwinkel, hin zur zarten Haut seiner Schläfe, die sie – zunächst noch ein kleiner, nasser Strich, ein lustiges, liebevoll gemaltes Stigma – gierig zurücktrank, und nichts blieb zurück außer einem kindlichen Schniefen der Nase und unsicheren, rötlichen Blicken, weil er sich schämte, sich mir so geöffnet zu haben. Ich wollte ihm so gern sagen, daß ich ihn verstand, und ich wollte seine Hand drücken, aber ich saß da wie gelähmt und tat es nicht. Ich wußte, daß er wußte, daß ich wußte, was er fühlte – darum schwiegen wir, und es war gut so.
Eines Tages – es waren schon mehrere Wochen vergangen, seit wir uns kennengelernt hatten – fragte ich ihn nach seinem Namen. Ich hielt es für überfällig und für die natürlichste Sache der Welt, da wir mittlerweile schon zahlreiche Stunden nebeneinander verbracht, uns aber immer noch nicht richtig vorgestellt hatten. Seine Antwort lautete:
„Frag nicht. Ich könnte dir das Wort nennen, das man mir als Namen gab, jene Lautkombination, die mich aufmerken läßt, wenn man sie laut ausspricht. Aber bin das wirklich ich? Nein, denn hunderttausend andere Menschen tragen den gleichen Namen. Ich weiß nicht, wie ich wirklich heiße. Mein wirklicher Name kann nicht ausgesprochen werden. Wie wir wirklich heißen, erfahren wir erst, wenn ... wenn ... an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.“
„Und dann wird jeder mit dem Kind versöhnt, das er war“, murmelte ich gedankenverloren. Überrascht blickte er auf, sah mich ungläubig an und legte mir seine Hand auf die Schulter.
„Ja: versöhnt. Das ist gut: versöhnt! Das hast du wunderbar gesagt! Wir werden versöhnt ... mit dem Kind ... mit dem Sohn ... Da fällt mir ein: Ist das Prinzip des Sohnes, das heißt ... wie soll ich sagen ... das Sohn-Sein, das Phänomen ‚Sohn’, nicht ähnlich kraftvoll wie das der Mutter? Ist nicht ‚Sohn’ auf eine unaussprechliche Weise stärker als ‚Tochter’, und ist nicht ‚Mutter’ geheimnisvoller als ‚Vater’? Fühlst du das auch? Ja?“
Ungeduldig sprudelten Ideen und Gedanken aus ihm heraus, und auf seinem Gesicht machte sich ein begeistertes Lächeln breit, denn zum ersten Mal in seinem Leben wähnte er jemanden neben sich, der diese Gedanken möglicherweise verstehen konnte. Auch wenn ich sie nicht alle verstand, so war ich doch stolz, daß er sie mir mitteilte, und ich war glücklich, weil ich fühlte, daß mir mit ihnen etwas Besonderes zuteil wurde. Ich hatte das Gefühl, beschenkt zu werden.
Nach wie vor kenne ich seinen Namen nicht, weder seinen irdischen noch seinen wirklichen, und ich zweifle daran, meinen eigenen zu kennen. So gingen wir auch an jenem Tag auseinander, ohne zu wissen, wie wir hießen, und doch waren wir uns so nahe wie nie zuvor. Abends, in meinem Bett, dachte ich noch einmal über die Namen nach, und ich tue es bis heute. Hatte er Recht mit dem, was er über die Namen sagte? War der irdische Name wirklich so wenig wert? War er tatsächlich nur eine Hülle, ein Werkzeug, ein Notbehelf? Ich sprach meinen eigenen Namen (den irdischen, denn den kannte ich) vorsichtig aus, immer wieder, zuerst flüsternd, dann so laut, daß ich erschrak und einen Moment lang nicht sicher war, ob ich von jemandem gerufen worden war; und ja: ich war gerufen worden, ich rief mich selbst – und fühlte mich angesprochen. Ich nahm im Klang meines Namens eine Identität mit mir wahr, glaubte ihn untrennbar mit mir verbunden. Und doch konnte er nicht alles sein. Es mußte tatsächlich einen größeren, wirklicheren Namen geben als den, der mich aufhorchen läßt, wenn er auf der Straße gerufen wird.
Ich stellte mir Eltern vor, die ihrem Kind im Zorn seinen Namen geben. Oder aus Verachtung. Aus Verzweiflung. Oder aus Gleichgültigkeit. Ist der Name dieses Kindes damit für immer und ewig festgeschrieben? Es erschien mir unwahrscheinlich. Und ich empfand ein merkwürdiges Mitgefühl für jenes unbekannte, nur von mir gedachte, vielleicht gar nicht existente Kind, dessen Eltern ihr Recht der Namensgebung mißbrauchten, und ich war beinahe empört, weil doch der Name des Kindes so wichtig war! Es mußte ein guter Name sein! Jedes Kind brauchte doch unbedingt einen guten Namen!
Und wieder einmal driftete ich, bevor mich der Schlaf hinabzog, in ein Meer von ungezählten Gedanken hinein, die alle durcheinanderflossen und wo ein namenloser kleiner Mensch namens Ich machtlos paddelte und ruderte, bis er immer kleiner wurde und in einem schmatzenden Strudel verschwand. Wie schrecklich wäre es, einem Kind einfach absichtlich keinen Namen zu geben, dachte ich in lichtloser Schlaftrunkenheit und fror. Undenkbar! Und in den letzten Sekunden, bevor ich mich vollständig in der Umarmung der Schwärze verlor, dachte ich an den Zeitpunkt, an dem ein Mensch beginnt, Mensch zu sein, und stellte fest, daß ich diesen Punkt nicht kannte. Und noch im gleichen Augenblick kam mir jener so einfache und doch so ungeheuer machtvolle Moment in den Sinn, da ein Mensch seinen Namen bekommt. Das Kind beim Namen nennen, dachte ich. Solange der Mensch keinen Namen hat, ist er ..., dachte ich. Ja, was ist er? Wer ist er?
Und so verrannen still und unbemerkt mehrere Wochen, und es waren unserer ungewöhnlichen Gesprächsthemen zu viele, als daß ich sie hier alle aufschreiben könnte. Eines Tages jedoch saßen wir stundenlang nebeneinander, ohne daß ein einziges Wort gesprochen wurde. Anstatt uns wie gewohnt am späten Nachmittag voneinander zu verabschieden, blieben wir wortlos sitzen. Das Schauen war nicht so entspannend, das Schweigen nicht so erfüllend wie bisher. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß noch etwas geschehen müsse. Etwas war anders als sonst. Es wurde Abend, und es wurde Nacht, und ein großer Mond ging über dem einsamen Park auf. Schließlich sagte mein Freund:
„Hast du je darüber nachgedacht, ob das Mondlicht wärmt?“
Sofort kehrte die Stille zurück; alles war wieder wie vorher, wir saßen unbewegt, kein Hund bellte.
„Schau hinauf“, sagte er schließlich, „wie gleißend hell der Mond in dieser dunklen Nacht leuchtet. Schau um dich: Der Park ist der Sonne abgewandt, und doch können wir alles genau sehen, so hell ist es. Meinst du nicht, daß es im Mondlicht ein bißchen wärmer ist als in der völligen Dunkelheit? Nur ein kleines bißchen? Vielleicht nur deswegen, weil der nächtliche Gedanke an Licht und Wärme so schön ist?“
Seine Worte waren von einer kaum merklichen Traurigkeit untermalt, und ich fühlte, daß ihn etwas bedrückte. Ich war ratlos und schwieg, aber zu meiner Erleichterung wußte ich, daß ich nichts zu sagen brauchte. Ich wußte, daß er wußte, daß ich über seine Worte nachdachte. Und sicher wußte er auch, daß ich seine Traurigkeit bemerkt hatte. Ohne weitere Gespräche ging dieser Abend zu Ende; wortlos trennten wir uns, und jeder ging seines Weges. Ich kam zu dem Schluß, daß ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob das Mondlicht wärmt oder nicht, aber ich stellte auch fest, daß die Antwort auf diese Frage keine so große Rolle spielte. Die Frage an sich hatte die Macht, mich zu trösten – das war ihr Geheimnis. Schade, daß ich über das Mondlicht noch nie nachgedacht hatte, dachte ich. Wenn es wirklich so kraftvoll war, konnte man sich dann vielleicht bei einem Mondbad auch einen Mondbrand zuziehen? Auch diese Überlegung war nun nicht mehr abwegig. Und dafür hatten wir stundenlang geschwiegen und waren bis in die Nacht hinein im Park gesessen ... Doch nicht diese Gedanken waren es, die mich in den letzten wachen Minuten jenes Tages beschäftigten. Vielmehr bereitete mir das Gefühl Kopfzerbrechen, daß mit meinem Freund etwas nicht in Ordnung war. Zum ersten Mal machte ich mir ernsthaft Sorgen um ihn.


13. Ein Brief für mich

Ich sah meinen Freund nie wieder. Die Bank im Park blieb nach unserem Mondlichtgespräch leer; vergeblich ging ich immer wieder hin und litt an der Ungewißheit darüber, was wohl geschehen war. Er kam einfach nicht mehr. Nie mehr.
Was mir bleibt, ist ein Brief, der heute in meinem Briefkasten lag. Als Empfänger steht in ganz großen, kindlichen Buchstaben mein Name darauf; jener, den ich kenne. Ich möchte den Inhalt des Briefes ungekürzt wiedergeben, denn er sagt mehr, als ich hier sagen kann. Immer wieder lese ich mit zittrigen Händen seine wackeligen Zeilen und kann nicht fassen, was in ihm geschrieben steht:

Lieber Freund!
Ich bin schwach und stark; das Schwache in mir will einschlafen, das Starke kämpft noch ein wenig weiter ...
Mein Freund, ich denke heute noch einmal an all die gemeinsamen Stunden, die ich mit Dir verbringen durfte. Es war sehr schön, beim Schweigen und Schauen nicht allein zu sein, und ich bedaure es, daß wir uns nicht schon früher gefunden haben. Ich konnte in all der Zeit nicht viel über Dich erfahren, und doch meine ich, Dich lange und gut zu kennen. Dabei weiß ich bis heute nicht, wie Du heißt – aber das weißt Du ja selbst nicht, wie wir festgestellt haben!
Jetzt, da unsere Lebenswege ein kleines Stück weit nebeneinander verlaufen sind, bin ich innerlich etwas stärker als zuvor. Aber die nächste Kreuzung ist nicht mehr fern, und wir werden nicht dieselbe Richtung einschlagen. Geh geradeaus weiter, mein Freund, und dreh dich nicht nach mir um, wenn ich plötzlich nicht mehr neben Dir bin. Versprichst Du mir das? Wirst Du das schaffen?
Ich möchte endlich – ist es schon zu spät? – die Gelegenheit ergreifen, ein wenig aus dem Dunkel ins Licht zu treten und Dir von mir zu erzählen. Wenn Du dich an mich erinnerst, sollst Du wissen, wer ich war. Zumindest sollst du wissen, worüber ich nachgedacht habe und worüber ich gerne noch mit Dir gesprochen oder geschwiegen hätte. Hiermit vertraue ich Dir eine kurze, ungeordnete Sammlung meiner Gedanken an. Du bist der Erste und Letzte, dem ich sie anvertraue, und ich bin mir sicher, daß sie bei Dir in guten Händen ist. Lese sie, verstehe sie – und dann vergiß sie und lebe! Geh hinaus in den Park, setz dich auf unsere Bank, schau dir einen Nachmittag lang die Welt an und denk dabei an mich. Freu dich auf das nächste Wegstück, mein Freund, und geh geradeaus weiter. Geh und bleib wachsam! Freu dich auf das nächste Kapitel und vergiß beim vielen Lesen das Schreiben nicht!
Bist Du bereit? Dann schließe für einen Moment Deine Augen und höre in Dich hinein. Höre die Stille! Hörst Du sie? Hör ganz genau hin! Was hörst Du?
Ich wollte immer die Stille hören, die absolute Stille, ich wollte mich freimachen vom Lärm der Welt, wollte freiwerden vom belastenden Geschrei der Menschheit. Ich suchte einsame Orte, die frei von Geräuschen waren; geheime Plätze oder vielleicht ganze Gegenden, wo niemand schrie, wo niemand erschrak, wo nicht gelacht und nicht geweint wurde – wo man vielleicht die absolute Stille finden konnte. Und tatsächlich gab es Berge, Täler, Wälder und Höhlen, die mir geeignet erschienen. Sie waren meist fern und nicht leicht zu erreichen, aber es gab sie. Dorthin ging ich, in der Hoffnung, die absolute Stille zu finden. Und ich saß da, und es redete kein Mensch, und es rührte sich kein Tier, und manchmal wehte nicht einmal der Wind, und ich freute mich darüber. Trotzdem fand ich die absolute Stille nicht, denn ich hörte ein leises Dröhnen in meinen Ohren, ein unterschwelliges Rauschen, das immerwährende Grundgemurmel des Lebens. Wohin auch immer ich ging, wie lange auch immer ich wartete – spätestens dann, wenn um mich herum alles still war, hörte ich in mir etwas. Und wenn ich trotzdem ausharrte und noch ruhiger wurde und ernsthaft glaubte, das Geräusch in mir würde leiser und könnte vielleicht ganz erlöschen, begann auf einmal mein Herz heftig zu pochen, laut und ungestüm, wie junge Hunde. Als ob es nicht sein dürfe, daß alles absolut still ist. Als ob mein Herz durch die ungewohnte Ruhe verunsichert wäre und sich selbst und mich davon überzeugen müsse, daß das Leben weiterging. Nein, mein Freund, die absolute Stille gibt es nicht!
Und ich kehrte zurück ins Laute, ins Grelle, tauchte ein ins infernalische Treiben orgiastischer Feste, wo chaotische Massen tobten. Und ich hörte sie schreien, wenn sie tanzten; hörte sie fluchen, wenn sie stritten; hörte sie grölen, wenn sie tranken; ich hörte all ihre tierischen, ungebremsten, ekstatischen Laute, und ich nahm alles mit einem Lächeln wahr und sagte immer wieder still vor mich hin: Ja, schreit nur, schreit nur, schreit es heraus, schreit alles heraus, was euch bedrückt und quält, ohne daß ihr es wißt, schreit, damit ihr euch selbst besser fühlen könnt, schreit, denn ihr seid wie Väter, die ihre toten Kinder mit beängstigenden, schiefen Schreien beklagen, und ihr seid wie gebärende Mütter, die sich in einer höllischen Mischung aus Schmerz und Furcht verzehren, die wild schreien, animalisch, unweiblich, als hätten sie Angst, eine teuflische Frucht hervorzubringen, vielleicht ein Kind ohne Kopf ... Ja, schreit nur, schreit! Schreit, um eure innere Stimme zu übertönen, schreit, um euch gegenseitig schreien zu hören und die tröstliche Gewißheit zu erlangen, daß es außer euch noch viele andere gibt, die schreien!
Die Welt, mein Freund, leidet an einem akustischen horror vacui, und sie schreit, um nicht schon jetzt durch die Stille der Wahrheit vernichtet zu werden. Sie schreit, denn sie fühlt unbewußt, daß sie durch ihr Schreien etwas Wichtiges und Ernstes hinauszögern kann; sie hat die Möglichkeit, Aufschub zu erwirken, und wo es nur geht, macht sie von dieser Möglichkeit Gebrauch, denn sie hängt so sehr an sich selbst und an allem, was hier und jetzt Erleichterung verschafft. Mit Bedauern und doch so voller Liebe muß man auf sie blicken, wenn sie schreit, nicht? Ist sie nicht liebenswert in ihrer Hilflosigkeit? Ist sie nicht wie ein träger Säugling, der letztendlich nichts anderes will als zurück zur Mutterbrust? Und schlafen? Süß schlafen, tief und fest, und nie mehr den bösen Traum des Wachseins träumen? Mein Freund, ich frage Dich: Du und ich, wollen wir das in Wahrheit nicht auch? Streben wir letztlich nach etwas anderem als irgendwann selig und endgültig einschlafen zu dürfen? Einschlafen zu dürfen und dabei einen ewigen, letzten Frieden in uns zu haben?
Ich beobachtete einen entfesselten Menschen: Ich sah ihn tanzen und hörte ihn schreien. Er zuckte wie wild, ging völlig aus sich heraus, schien sich im Rausch des Augenblicks zu verlieren. Hin und wieder legte er eine kurze Pause ein, um sich eine Dosis betäubender Stoffe zuzuführen. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander, zündete sich hastig eine Zigarette an und inhalierte kraftvoll, dann mischte er sich ein hochprozentiges Getränk und schüttete es in sich hinein. Gesten und Mienenspiel verrieten, daß er sich für sehr stark und wichtig hielt: Ein betörend männlicher Draufgänger, der sich nimmt, was er will; eine Art Alphatier der Party. Ich beneidete ihn ein wenig um seinen Erfolg bei der holden Weiblichkeit, bemitleidete ihn aber zugleich wegen des Preises, den er dafür zahlen mußte: Er mußte schreien und sich betäuben, vor allem schreien. (Andere hatten hingegen keinen Erfolg bei den Frauen und knurrten wie hungrige Löwen, die man nicht an die Futterstelle heranließ, verzweifelt und hoffnungslos, und je offensichtlicher ihr sexuelles Scheitern war, umso erbitterter betäubten sie sich. Wieder andere hatten sich schon längst mit dem Dauerzustand des Scheiterns abgefunden, suchten bereits routinemäßig Erleichterung in der Betäubung, und stell Dir vor, mein Freund: In ihrem selbstversunkenen Lächeln beim Griff zur Flasche glaubte ich etwas wie Liebe erkennen zu können!)
Als der Draufgänger für eine Minute die Augen schloß, da er erschöpft war, machte ich eine merkwürdige Entdeckung: Er saß bewegungslos da, als wie wenn er schlief, aber sein linkes Bein, das er über das rechte geschlagen hatte, wippte ganz leicht und unwillkürlich im Rhythmus seines Pulses. Da war es wieder, das nicht auszulöschende Grundgemurmel des Lebens, der stetige, mahnende Takt des Herzens! Wie grotesk – da versuchte dieser Mensch, sich zu betäuben, und er berauschte sich und schrie und fühlte sich mächtig und hegte Aggressionen und zelebrierte archaische Rituale, und dann genügte nur eine stille Minute, um ihn zu entlarven: Das Wippen seines linken Fußes zeigte seinen Herzschlag an, und sofort erkannte ich, daß es der Herzschlag eines Kindes war, eines trägen Säuglings, der letztlich nichts anderes wollte als zurück zur Mutterbrust; der sich zwar stark und unbezwingbar fühlte, aber in all seinen verhaltensmäßigen Prostitutionen nichts anderes tat, als stumm und schwach nach Liebe zu schreien – freilich ohne es zu wissen! Ich sah mit meinen eigenen Augen, daß es eine leise Stimme in ihm gab, die so gern gehört werden wollte, aber von tausend lauten, bösen Reizen übertönt wurde, und wenn ich diesen vergifteten Körper so betrachtete, kam es mir fast so vor, als hörte ich die Stimme flüstern: „Befrei mich, mach mich leer und klar / Gieß kühle Ruhe auf mein Haupt / Laß mich am Waldsee sitzen wunderbar / Entrückt und jeglichen Gefühls beraubt.“
Zwischen der absoluten Stille, mein Freund, die ich nicht erreichen konnte, und dem ohrenbetäubenden Lärm der Welt: Dort wollte ich leben. Und ich brach immer wieder aus dem Dschungel der Stadt aus, um an einsamen Orten Heilung zu finden – von nun an betrachtete ich jedoch den Wind, der dort oben in den Bergen atmete, und das Wellenrauschen dort unten am Meer als meine Brüder, und ich genoß es, ihre ewig wispernden und wehenden Flüstergeschichten zu hören. Gut so, dachte ich, daß es nicht ganz still ist. Gut so, daß ich euch, Wellen, rauschen höre, und daß ich dich, Wind, in meinem Gesicht fühle, und daß du, Herz, unaufhörlich in mir schlägst. Es ist gut so.
Mein Freund, es überrascht Dich sicher nicht, wenn ich Dir erzähle, daß meine Suche nach der Stille nur ein kleiner Teil der großen Suche meines Lebens war. Ich wollte den Dingen auf den Grund gehen, Antworten finden, absolute wie persönliche, und ich hoffte, bis zu einer letzten, inneren Wissenssphäre vorzudringen und das Welt-Etymon zu enthüllen. Ist es mir gelungen? Ist so etwas überhaupt möglich? Ich kann Dir keine eindeutige Antwort auf diese Fragen geben, mein Freund, aber ich erzähle Dir zumindest von einigen wenigen Stationen meines faustischen Forschens, damit Du für Deine eigene Suche vielleicht ein wenig besser gerüstet bist. Nur manches von alledem werde ich Dir hier mitgeben können, denn Zeit und Kraft stehen mir nur noch begrenzt zur Verfügung ...
Ich weiß nicht, ob Du dich je mit Chemie, Mathematik und Physik beschäftigt hast, mein Freund, aber ich sage Dir: Die Formeln dieser Disziplinen mögen noch so bizarr und die Labore noch so steril sein, aber es weht ein Hauch von Göttlichkeit in ihnen. Es ist vielleicht nicht die Art von Göttlichkeit, wie sie uns in der Liebe eines Messias begegnet, der ein Kind umarmt – vielmehr ist es das Wirken einer starken, ursprünglichen, göttlichen Hand; etwa einer Gotteshand in einem frühen Schöpfungsstadium, einer Hand, die erschafft und ordnet und machtvoll waltet, jedoch noch nicht heilt, segnet oder vergibt, da ihr in ihrem großen Werk das Abenteuer Mensch erst noch bevorsteht. Ich ließ mich von dieser geheimnisvollen Kraft der Regelmäßigkeiten und Gesetze faszinieren und wurde zum begeisterten Anhänger eines streng logischen, materialistischen Weltbildes. Die Unbestechlichkeit mathematischer Gleichungen, und die überwältigende, ja fast mythologische Schönheit mikrokosmischer Atommodelle und astronomischer Weltentheorien zogen mich in ihre Umlaufbahn und ließen mich zu einem willenlosen Trabanten werden. Die Welt erschöpfte sich für mich in Wechselwirkungen zwischen Plus und Minus, Gott war ein Teilchen. Alles, was ich sah und erlebte, beurteilte ich irgendwann nur noch aus der atomaren Perspektive, und ich wurde König in meinem eigenen demokritischen Staat – ohne mich jedoch freilich zu irgendeiner Form von Personenkult oder Selbstbeweihräucherung berechtigt zu fühlen, da ich ja nichts weiter als ein Atomhaufen war. Jeder Mensch war nur ein Atomhaufen, eine zufällige Zusammenballung von filigran abgewogenen Portionen wäßriger, saurer, stickiger, kohliger und anderer elementarer Stoffe, und im Detail betrachtet bestand er zum überwiegenden Teil aus Nichts. Ich brauchte lange, mein Freund, um mit dieser ernüchternden Tatsache zurechtzukommen, aber offensichtlich war es die Wahrheit. Oder doch nicht?
Ich begann ernsthaft zu zweifeln. Genau in dieser Phase meines Lebens ereignete sich etwas sehr Seltsames: Ganz unerwartet (und ehrlich gesagt auch gegen meinen Willen) entwickelte ich für einen bestimmten Menschen Gefühle (Du weißt schon, was ich meine), und zu meinem großen Schmerz wurden diese Gefühle nicht erwidert. Ich erlebte in Zeitlupe und vom Logenplatz meines eigenen Bewußtseins aus mit, wie die tönernen Füße meines materialistischen Weltbildes angesichts einer einzigen Frage Risse bekamen: Wer hat es je vermocht, für Liebeskummer eine befriedigende Erklärung auf atomarer Basis abzugeben? Natürlich niemand. Solche Erklärungen darf es nicht geben, denn sie wären zutiefst häßlich und hoffnungslos, und wenn es in diesem Universum nur eine Spur von Sinn geben soll, dann muß dieser Sinn in irgendeiner Form ermutigend, hoffnungsvoll, ja schön sein. Nein, die bloße Naturwissenschaft blieb für mich unbefriedigend – sie war nicht schön genug!
Mein Freund, verzeih mir, wenn ich an dieser Stelle vieles beiseite lassen muß und Dir nicht ausführlicher berichten kann. Aber mir bleibt nicht mehr viel Zeit zum Schreiben; ich muß mich beeilen.
Du hast damals die Malerei als Ausweg aus einer Sackgasse des Lebens entdeckt, wie Du mir bei unserem ersten Treffen so schön anschaulich erzählt hast – bei mir war es die Literatur, die mich aus einer Krise herausführte, aus dem zwar faszinierenden, aber letztlich betrüblichen Schwarzen Loch der materialistischen Weltsicht. Zurückgeschreckt vor der Sinnfreiheit des interstellaren und -atomaren Raumes fand ich in der väterlichen Umarmung der Literarizität Zuflucht, und zu meiner großen Freude stieß ich zwischen den Zeilen künstlerischen Schrifttums ständig auf jenes so menschliche und daher tröstliche Phänomen, das mir zwar durchaus auch die Naturwissenschaft bieten konnte, doch leider nur viel zu selten: Unschärfe. Bald richtete sich meine Aufmerksamkeit – zunächst ganz handgreiflich und solide – auf das gedruckte und gebundene, womöglich angenehm duftende Buch, das man gerne anfaßt und streichelt und von allen Seiten begutachtet, bevor man es öffnet, um sich am geschriebenen Wort zu ergötzen.
Ich vertiefte mich in Sprachen und Literatur, las und lernte, und wie Du erreichte ich schließlich einen Punkt, an dem ich meine passive Rezipientenrolle aufgeben und selbst schreiben mußte. Ach, was hatte ich damals für vermessene Pläne! Ich wollte die großen Romane dieser Welt in einer gewaltigen Synthese zusammenfassen, die Quintessenz aller menschlichen Sprachlichkeit aus ungezählten literarischen Regalmetern herausfiltrieren, wollte Religionen und Philosophien von meinem Schreibtisch aus vereinen, mein eigenes Delphisches Projekt verwirklichen ... Ich glaubte, aus meiner vermeintlichen Berufung heraus etwas wirklich Bedeutendes schaffen zu können, ein großes, globales Werk, dem auch die Jahrhunderte nichts von seiner Aussagekraft nehmen. Um es kurz zu machen, mein Freund: Ich schrieb – und ich scheiterte, denn alles andere wäre angesichts meiner viel zu hoch gesteckten Ziele undenkbar gewesen. Und ich warf meine halbfertigen Schriften ins Feuer. (Ich muß an dieser Stelle an Dein Brot im Park denken.) Doch dieses Scheitern bedeutete noch lange kein Ende meiner literarischen Tätigkeit. In einer heftigen Trotzreaktion wandte ich mich gegen alle umfangreichen Monumentalwerke und ließ mich von der Leichtigkeit kurzer Sinnsprüche verzaubern. Wieso Jahre meines Lebens in der komplizierten Verflechtung unendlicher Handlungsstränge und gekünstelter Erzählebenen vergeuden, wenn ich Wahrheiten in einem einzigen, schlagenden Vers formulieren konnte? Denn was ist schon Handlung, was ist schon Geschichte! Knappe, treffende Sätze waren es, die ich nun jagte und in denen ich meine Bestimmung sah: Aphorismen. Der erste, den ich damals beleidigt aufschrieb, war folgender: „Mit Schriftstellern, deren Gesamtwerk mehr als tausend Seiten umfaßt, kann ich nichts anfangen, denn entweder handelt es sich um inflationäre, hohle Vielschreiber, oder um Genies, deren Gedanken meine geistigen Kapazitäten ohnehin übersteigen.“
Und so schrieb ich weiter, zunächst mutig und begeistert, bald verzweifelt und immer bizarrer:
– „Jedes System, das nicht auf dialektischen Prinzipien beruht, irrt.“
– „Es gibt fast keine wirklich bösen Menschen.“
– „Nur wer sucht, kann gefunden werden.“
– „Überall, wo eine Freiheit nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand erlangt werden soll, bedarf es notwendig zweier, einander bedingender Vorgehensweisen: Entlarven und Überwinden.“
– „Was den Menschen auszeichnet, ist seine Bezogenheit aufs Ganze, aufs Universale. Daher muß in gewissem Sinne alles, was den Anspruch des Humanen hat, gleichzeitig totalitär sein.“
– „Lärm ist das Gegenteil von Wahrheit.“
– „Ich bin nicht Gott.“
– „Ich war.“
Schließlich, Monate des Denkens und Schreibens waren vergangen, stellte sich ein Überdrußeffekt ein, und ich schrieb als letzten Satz: „Der Aphorismus stellt die primitivste Form von Literatur dar.“ Ich fühlte die Wahrheit, die in diesen Worten steckte, konnte jedoch nicht entscheiden, ob der Satz nun primitiv, literarisch oder beides war. Der Hund biß sich in seinen eigenen Schwanz, und ich stand am Ende einer Sackgasse – zwar mit Blick nach oben zum blauen Himmel, aber ohne Flügel. Und die Wolken trieben mit großer Geschwindigkeit über mich hinweg.
Die Zeit rennt mir davon, mein Freund ... Es schmerzt, ich halte es nicht mehr lange aus ...
Meine letzte Hoffnung war nun die Poesie, in der ich nicht wie bisher zu offenen Wahrheiten verpflichtet war, sondern im Spiel mit Vieldeutigkeiten wieder mehr Freiheiten besaß und meine literarischen Jonglierübungen im Halbdunkel einer kryptischen Syntax ausführen konnte. Aber wieder verrannte ich mich: Ich war von der Idee des makellosen Gedichts besessen, wollte immer mehr poetische Gehalte auf immer kleinerem Raum erzwingen, immer mehr reduzieren und optimieren; ich träumte schließlich davon, ein Schriftsteller zu werden, dessen Gesamtausgabe aus nur einem einzigen, absolut perfekten Gedicht bestand, und mich quälte die Frage, ob ich es in Esperanto, in eigens rekonstruiertem Indoeuropäisch oder gar in Gebärdesprache schreiben sollte ... Da entdeckte ich, daß mir keine menschliche Sprache genügte, und ich erwog ernsthaft, ein rein mathematisches Gedicht zu verfassen, steril und symmetrisch erzeugt aus unerschütterlich klaren Mustern von Zahlen und Symbolen, nur durch den notwendigen Makel einiger zähneknirschend geduldeter Axiome befleckt – aber da hatte ich schon längst die Grenzen der Literarizität überschritten und mich der vermessenen Hoffnung auf eine kalte Weltformel hingegeben. Mit der schlußendlichen Erkenntnis, daß ich Sprache nicht beherrschen konnte, sondern selbst von ihr beherrscht wurde, endete meine schriftstellerische Karriere, mein Freund, und ich begriff, daß ich besser dorthin zurückkehren sollte, von wo ich gekommen war: Zur Stille. Und ich gehorchte und schwieg. Welche Überraschung war es dann plötzlich festzustellen, daß sich das Reich der Literarizität nicht nur auf die Literatur selbst beschränkte, sondern in allen Bereichen des Lebens präsent war, wenn man nur aufmerksam genug hinsah! Ich erinnerte mich beispielsweise an den betäubten Schreier und entdeckte, daß sein wippender Fuß, der inmitten jenes Hexenkessels aus schmerzenden Tönen, grellen Lichtern und stickigen Gerüchen seinen Herzschlag anzeigte, literarisch war und über sich selbst hinauswies. Doch diese Dimension öffnete sich mir erst spät, zu spät ...
Ich komme zum Ende, mein Freund, es geht nicht mehr weiter. Gleich schlafe ich ein, oder die Schmerzen werden wieder zu heftig. Bin ich eine Strafinkarnation? Nein, ich darf nicht so böse denken. Ich muß versuchen, liebend dahinzuscheiden. Ist es nun zu spät, Verachtung zu Liebe werden zu lassen, mein Freund? Ist es dazu jemals zu spät? Bitte gehe dieser Frage nach, mein Freund! Bitte finde eine Antwort, es ist wichtig!
Ich befürchte, daß es mir in meinem Leben nicht gelang, mich vom schreienden Dilettantismus und allen „-ismen“ dieser Welt loszumachen. Ich mußte ein Teil von alledem bleiben und leide daran. Und jetzt, am Ende, bin ich dabei allein. Mein großer Traum, Kinder zu haben, kommt nicht mehr zur Verwirklichung; er verbleibt mir lediglich als schöner Gedanke bis zum letzten Moment. Es wäre so heilsam gewesen, so ungemein sinnstiftend – frei werden vom Zwang des Ego, Leben schenken, Liebe schenken ...
Soeben fällt mir ein, daß wir nie über Gott gesprochen haben, und es schaudert mich. Vielleicht wären wir mit unseren kleinen Gedanken an diesem großen Geheimnis ohnehin gescheitert. Vielleicht wäre es aber dennoch sehr wichtig gewesen, mein Freund. Vielleicht hätte es uns geholfen. Vielleicht hätte es uns stark machen können, aber wir haben es nicht getan. Wir haben es einfach nicht mehr geschafft ...
Mein Freund, dies war ein Abschiedsbrief. Ich trage eine unheilbare Krankheit in mir, und bald werde ich erfahren, wie ich wirklich heiße – vielleicht in wenigen Tagen, vielleicht schon morgen. Ich kann nun nicht mehr weiterschreiben, meine Schmerzen sind zu stark. Mach Dir keine Sorgen um mich; ich bin zuversichtlich und höre bereits jetzt eine wunderschöne Melodie, eine Symphonie aus der neuen Welt, sie wird mich begleiten und mir Kraft geben. Kein weiteres Kapitel, und dennoch Genugtuung.

Mein Freund, bist Du ein starker oder ein schwacher Mensch?

Wo ist der Wind, wenn er nicht weht?




14. Wendung

Ja, wo ist er? Mit ruhigen Händen lege ich den Brief beiseite, ohne zu lächeln, ohne zu weinen, und es kommt mir so vor, als fühle ich nichts, und ich blicke aus dem Fenster und tue nichts, und ich sehe auch nichts und denke nichts.
Als ich den Brief heute erhielt, kamen mir schon beim hastigen Aufreißen des Umschlags die Tränen. Denn Absender und Empfänger des Briefes sind identisch. Ja, sie sind identisch.
Warum das alles? Vielleicht, um den einen oder anderen Gedanken, den mein Freund ausgesprochen hatte, zu bewahren. Um nie zu vergessen. Um einmal noch etwas von ihm in den Händen zu halten. Um ihn und mich zusammenzuführen. Ja, vielleicht sogar um etwas zu verewigen. Wirklich erklären kann ich das alles nicht. Ich weiß, das ist verzweifelt.
Es wird immer offensichtlicher, daß es utopisch war, ein größeres Ganzes, das immer eins bleibt, schreiben zu wollen. Ich hatte gehofft, dort Harmonien stiften zu können, wo ich in Wirklichkeit zerrissen bin. Ich erkenne jetzt, daß ich schreibend vereinen wollte. Das Schreiben – als Akt der Liebe? Als Akt des Schaffens? Eines ist nun gewiß: Was als Fragment begann (und nichts anderes bin ich), kann nicht als harmonisches Ganzes enden, denn das Fragment ist immer Herausgerissenes, gewaltsam Herausgebrochenes; es muß Bruchstück bleiben, Andeutung, Versuch, der flüchtig aufgeschnappte Moment einer Ewigkeit, eine schiefrunde Perle ohne Kette, ohne Schmuckkästchen, im schlimmsten Fall sogar ohne Frau, die sich mit ihr schmückt; ein Juwel ohne Königin ... Ich bin der äußerste, lächerlich hauchdünne Ausläufer einer Goldader, der durch eine Sprengung vom fetten Hauptlager abgetrennt wurde, und man kann mich von wertlosen Metallen mit all ihrem billigen Blendwerk nicht mehr unterscheiden. Dementsprechend plötzlich und unbemerkt wird das Ende wohl erfolgen müssen. Ein wohlgestalteter, süßlicher Schluß – nein, wenn ich’s recht bedenke, käme das einem kitschigen Schwank gleich, aber nie und nimmer der wild-zufälligen Struktur der Wirklichkeit. Ich weiß nicht mehr, wo Anfang und Ende sind. Ich bin verloren im Urwald meiner eigenen Gedanken. Gibt es einen Weg, der hinausführt?
Manchmal, wenn ich mich sehr gefangen fühle, habe ich einen bösen Gedanken, so auch jetzt. Ich weiß, daß ich diesen Gedanken nicht haben darf; daß es verboten ist, so zu denken. Und doch tue ich es, ich kann nicht anders. Ich leide, und es geht mir schlecht; ich fühle mich einsam und sehe in vernichtender Deutlichkeit alles Unvollkommene und Fehlerhafte in meinem Leben, meine Schwäche, mein großes Versagen. Und dann kommt er ganz automatisch, der Gedanke. Ich denke ihn mit einem Kopfschütteln, ja fast mit einem ironischen Lächeln. Und ich denke: „Ich leide still vor mich hin, und es geht mir schlecht. Aber es reicht verdammt nochmal nicht für einen Selbstmord.“ Selbst jetzt, da ich diesen Gedanken zu Papier bringe, schäme und wundere ich mich zugleich, daß tatsächlich ich es bin, dem immer wieder diese makaberen Worte in den Sinn kommen. Ich habe keine Erklärung dafür. Ich kann nur ehrlich aufschreiben, was ich fühle, selbst wenn ich mir damit selbst das Zeugnis einer kranken Seele ausstelle. Ja, es ist wahr: Ich leide. Aber mein Leiden ist so lächerlich geringfügig gegenüber all den unendlichen Tränen so vieler Menschen, denen es noch viel schlechter geht als mir. Es reicht einfach auf keinen Fall für einen Selbstmord. Das wäre zu maßlos, zu unerwartet für jene, die vielleicht an mich denken, ja eigentlich auch zu feige. Ich weiß daher genau, daß er für mich nie ernsthaft in Frage kommen wird. Aber ich liebäugle oft mit der Erleichterung, die er mir bringen würde. Oft. Und allein die Gewißheit, daß er mir rein theoretisch als letzte Möglichkeit verbleibt, selbst in tiefster Verzweiflung, in äußerster Ehrlosigkeit, in unterstem Schmutz; allein der Trost, der in dem machtvollen Bewußtsein um die Möglichkeit des Sich-selbst-Umbringens liegt, lindert. Es ist eine bittere Linderung. Und sicher keine Heilung. Aber eine Linderung. Und das ist viel wert.
Wieder greife ich zum Brief, lese wieder und wieder jene beunruhigenden Worte, die darinstehen; meine eigenen, beunruhigenden Worte. Anstatt Antworten zu geben, tun sie mir neue Fragen auf, die mein wirrer Geist in fieberhafter Geschwindigkeit gleich wieder zu beantworten sucht. „Ich habe den Brief geschrieben. Es ist mein Brief. Es sind meine Gedanken, meine Worte. Der Freund, er war einmal.“ – „Er hat den Brief geschrieben. Und auch wenn es meine Hand war, die die Feder führte, so sprach er doch aus mir. Vielleicht bin ich sogar gar nichts anderes als er. Ich bin er.“ – „Der Brief ist ein Fragment. Mein Leben ist ein Fragment. Ich bin ein Fragment. Der Brief ist ein Fragment in einem Fragment.“ – „Den Brief habe zwar ich geschrieben, nicht er. Aber dennoch ist alles, was in ihm steht, wahr. Ja, es ist wahr: Ich trage eine unheilbare Krankheit in mir und werde schon bald, vielleicht schon morgen, meinen wirklichen Namen erfahren. Ich werde sterben, nicht mein Freund. Denn der sitzt wahrscheinlich noch heute in irgendeinem Park und schaut sich die Welt an.“
Wer ist der Erzähler? Was heißt eigentlich „erzählen“? Bin ich einer, der erzählt? Oder werde ich nur erzählt von einem anderen? Was heißt eigentlich „ich“? Ja, was heißt eigentlich „was heißt eigentlich“? Eine letzte Möglichkeit verbleibt mir: Ich muß das Gefängnis meiner Gedanken einreißen, muß mich befreien aus der tötenden Enge meines einsamen, traurigen Herzens. Was bereits geschrieben ist, sei vergessen. Auch das, was ich noch hätte schreiben können, hat vorerst keine Bedeutung mehr. Das Projekt der Lebensgeschichte ist gescheitert; aus einer mutigen Rede ist ein verwirrtes Stammeln geworden. Ja, es ist jetzt an der Zeit, abzutreten und die Erzählungen über mich und mein Leben enden zu lassen. Vielleicht warten bald schon ganz andere und viel wichtigere Gedanken darauf, von mir gedacht und festgehalten zu werden. Denn eines scheint mir gewiß: Ich muß weiterhin schreiben. Es läßt mich nicht los. Noch viele weitere Kapitel, und immer wieder Genugtuung. Immer wieder Kampf, immer wieder Leben. Vielleicht ein Kinderbuch?
Heute morgen ging ich zur Bäckerei und holte mir einen schönen, großen Laib Brot. Er war wunderbar warm und duftete köstlich, und ich brachte es bis jetzt nicht übers Herz, ihn anzuschneiden. Stattdessen liegt er vor mir auf dem Tisch, und ich betrachte ihn. Stundenlang. Er ist so schön.
Der einzige Schritt, den ich jetzt noch hoffnungsvoll tun kann, ist der nach außen; jener, der überraschend eine neue Dimension eröffnet und mich selbst in den Hintergrund drängt. Ich muß vom Denken zur Betrachtung zurückkehren, von der Sprache zurück zum Schweigen, dorthin, wo es kein „ich“ mehr gibt, dorthin, wo es fast ganz still ist. Für mich ist es nur ein kleiner Schritt, und dieser Schritt führt weder vorwärts noch rückwärts, sondern hinaus. Mir scheint, daß dieser Schritt das Potential hat, so manch einen zu begeistern oder zu enttäuschen. Er ist nicht ungefährlich. Man erkennt ihn nicht sofort. Man könnte vielleicht sagen, daß er verkleidet ist. Und es ist schwer, über ihn zu sprechen; nur er selbst spricht Bände. Er entspringt, so fühle ich, einer Mitte; er kommt von einem Ort, an dem ganz große Nähe herrscht. Er ist ganz echt.
Und so bleibt mir also nichts anderes mehr, als die alles entscheidende Frage zu stellen, und ich weiß nicht, wen ich damit anspreche, vielleicht mich selbst, und ich erwarte keine Antwort, denn die Frage an sich ist es wiederum, in der sich ein großes Geheimnis verbirgt:

Bist du ein starker oder ein schwacher Mensch?




EPILOG

Ich bin stark und schwach; das Schwache in mir will einschlafen, das Starke kämpft noch ein wenig weiter ... Es ist Herbst, während ich schreibe, und wieder einmal möchte ich an meiner Einsamkeit zugrundegehen. Weit offen die Totenkammern sind. Warum ist diese Jahreszeit die traurigste von allen? Vielleicht, weil sie auch die schönste ist. Mein Herz wird schwer, wenn ich den weiten Himmel sehe, die stählern-klare Luft, die erfüllte Leere, die leere Fülle des Herbstes. Abschied überall, Wehmut über jedem nebligen Bach, naive Verspieltheit an jedem bunt lachenden Blatt. Alles scheint zu warten, scheint zu harren, scheint zu wissen, ja alles ist Gold, alles ist Farbe, leuchtet, glänzt selig ... Und schön bemalt vom Sonnenschein. Sind vielleicht all die sichtbaren Schönheiten des Herbstes nur Ausdruck einer anderen, ferneren Wahrheit, die alledem zugrundeliegt? Wer kann sie finden? Wer kann sie verstehen? Wer weiß, was der Herbst wirklich ist? Ich finde keine angemessenen Worte. Ich kann nur ohnmächtig fühlen. Mein Hals wird dick, und die Augen werden feucht, mich bedrückt meine Enge, ein eiskalter Schmerz schnürt mich ein ...
Und draußen geht ahnungslos ein göttlicher Tag zur Neige! Wo bist du, mein Freund? Tränen möchten in mir aufsteigen, ganz lieblich, ganz lind ... Jedes Jahr, wenn der Winter naht, ergreift mich diese sonderbare Sehnsucht, dieses tiefe Sehnen, ich weiß nicht wonach; ich sehe Schönheit und bin betroffen; ich genieße und werde doch nicht satt, ich blühe auf, während die Blüten sich schließen und die Blätter fallen, und doch verwelke auch ich ...
Endgültig geht mir alle Rechtfertigung meines Schreibens verloren, ich sitze in meiner Kammer, leide beim Blick aus dem Fenster, so schön und traurig zugleich ist heute die Welt, und in mir fühle ich keinen Sinn, sondern nur Leere. Bin ich ein Abbild des Herbstes? Auch der Herbst hat keinen Sinn – er ist einfach. Und er ist schön. Wie heilsam ist es doch festzustellen, daß dieses Naturschauspiel da draußen keinen Sinn hat, sondern einfach nur schön ist ... Ein Leben lang begriff ich mich als Sinnstifter, immer mußte ich nach dem Warum fragen und suchte und rang und triumphierte und verzweifelte – heute weiß ich, daß jede noch so großartig erdachte Theorie und alle menschliche Abstraktion durch das banalste Laubblatt, die Herbstsonne, das schlichte Sein der Welt hinfällig gemacht wird. Ja, Mensch, du Macher, du Sucher, du Interpret und Bedeutungsgeber, du Glücksritter, du Sisyphos und Windmühlenkämpfer, vergiß nie, wie einfach und schön die Welt sein kann! Vergiß nie, daß sie einfach da ist, daß auch du einfach da bist! Verfang dich nicht in deinem selbstgesponnenen Kokon der krampfhaften Sinnsuche! Ist das Einfach-da-Sein nicht Sinn genug? Ist es nicht Kampf genug? Ist es nicht Träne genug? Nimm einfach, denn dir wird gegeben! Halt inne, komm zur Ruhe, werde still, schau ...!
Bin ich krank oder fühle ich nur, was gefühlt werden muß? Der Herbst – die Krise des Jahres ... Auch ich bin im Herbst, auch ich nehme Abschied, und vielleicht ist es nur mein Schreiben, das mir noch eine Erinnerung an den Sommer schenkt, bevor es endgültig und streng auf die letzten unvermeidlichen Augenblicke zugeht ...
Ach! Dem Herbst sollte man doch nur mit Schweigen begegnen! Der Herbst – ja, er ist feierliches Schweigen, er ist stumme Anbetung, trauriges Wissen, düstere Vorahnung, heitere Schwere, bronzener Lichterglanz ... Ach, Herbst, Du drängst mich zur Vereinigung, die ich vielleicht nie erlangen werde, Du bist mein göttlicher Freund, den ich nicht mehr in die Arme schließen darf ... Du bist ein mahnender Appell zur Vollendung, bist glückerfüllte Rückschau und unbarmherzige Totenglocke zugleich ... Ja, wie Du gehe auch ich schmerzlich dahin, ich vergehe schmerzlich, wie Du küsse auch ich die Welt, und in jedem Kuß küsse ich den lieben alten Tod ... Wie lächelnd Du mich verabschiedest, o fröhliche, schlichte Pracht! Wie schmerzhaft, wie unendlich schmerzhaft! Welch schmerzensreicher Kranz aus Rosen bist Du doch, Herbst! Wie melancholisch ist die Melodie, die Du spielst, so vorsichtig, fast unhörbar ... Wie unsagbar traurig! Wie unsagbar schön! Wie leise, wie weich ... Noch einmal laß sie mich hören, einmal noch laß mich mitsingen! Laß mich eingehen in dich, Herbst, laß mich Du sein ...
Der Herbst ist ein Kind – so schießt es mir eben durch den Kopf, und also schreibe ich. Der Sommer, das ist der prächtige, joviale Großvater des Kindes, und er reicht seiner Gemahlin bedeutungsschwer und wohlüberlegt die Hand; die Gemahlin ist der Winter, eine grimmige, kalte Großmutter, sie ist bereit, vom Sommer den ewig wiederkehrenden Auftrag entgegenzunehmen und streckt auch ihrerseits die zitternde Hand aus, aber zu Füßen der beiden Gewalten, noch bevor sich die alten, zärtlichen Hände berühren, da lacht das Enkelkind, da spielt der Herbst; er kennt und liebt sie beide, die lieben Großeltern, die alten Jahreskonstanten, das ewige Geben und Nehmen; und er selbst, er ist ein goldenes, göttliches, janusköpfiges Kind, und in seinem Haar blitzen die Lichtstrahlen ...
Ach, Herbst ...!
Ich aber bin stumpf und dunkel, mein wirres Leben ist fern von Einheit und Harmonie. Ich schwanke zwischen entgegengesetzten Polen und komme nicht zur Ruhe. An Tagen wie heute begreife ich in letzter vernichtender Konsequenz, wie dringend meinem rastlosen Dasein ein innerer Friede fehlt, welch unsteter Geist ich war und bin. Kein Ruhepol bin ich, sondern ein wüstenhafter Nordpol, eine wüste Kreatur ... Nein, ich bin vor aller Kreatur, denn ich bin wüst und leer ... ein Schemen ... ein Schatten?
Mit Bitternis und Seelenlasten zwingt mich die Gegenwart, so suche ich mein Glück an einem anderen Ort als im Jetzt. Während da draußen die alten Bäume mit ihren vielen unregelmäßigen Jahresringen und der groben, warmen Rinde einmal noch im Licht unseres tiefstehenden Lebenssterns genießerisch schweigen und endlose, helle Weite über aller Erde liegt, kehr ich mich nach innen, blicke zurück, weit zurück, und rufe mir einmal noch alles das wach, was einst mein Herz erfüllte. Ich blicke zurück und weiß: Ich habe einen Kreis zu schließen, muß der Zyklik allen Seins Rechnung tragen, alles holt mich wieder ein, alles beginnt von vorne, ich stehe plötzlich leuchtend im Mittelpunkt einer Sonnengeburt, draußen geht ein schöner, bunter, laubiger Weltentod vonstatten, das Jahr neigt sich demütig vor einer größeren Kraft, und mir kommt es so vor, als würd’ ich noch einmal geboren: Ich kehre zurück und bin ganz neu ...
Und plötzlich weiß ich auch wieder: Herbst ist nicht nur Abschied. Herbst, das heißt auch Heimkehr.
 

Inu

Mitglied
Der Brief des Freundes war nur der Widerhall eigener Gedanken.

Das Ganze ist ein geistiger Entwicklungsroman, eine Niederschrift der Gedanken, der Erkenntnisse eines reifen Menschen. Der Protagonist ist so furchtbar allein. Personen kommen ( außer dem Freund, der sich aber als Teil des eigenen Ego entpuppt), keine vor. Der Stil ist sehr gut, denke ich, die Gedanken und Aussagen sind klar verfasst.

Was Dein Ich-Erzähler über Bildende Kunst ( Malerei ) und vor allem am Schluss über Literatur und die Probleme eines Schriftstellers ( Dichters ) zusammenfassend sagt, hat für mich einen hohen Wiedererkennungswert. Diese Zusammenhänge habe ich oft ähnlich gedacht, habe sie derart gut und straff formuliert aber bisher noch nirgends gelesen.

Nur den letzten Abschnitt - die Herbstgedanken - konnte ich leider nicht recht nachvollziehen.

Ich tue mir sehr schwer mit der Einordnung der Texte. Ob es ein Roman ist oder eine Erzählung oder eine geschickte Aneinanderreihung einzelner Essays ... ich weiß es nicht.

Man muss viel Zeit und Ruhe zur Lektüre mitbringen.

Auf spektakuläre Ereignisse, auf einen ä u ß e r e n Handlungsstrang wartete ich vergebens.

FAZIT. Der Text ist w a h r und tief empfunden und berührt mich trotz der Längen.

LG
Inu
 



 
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