Roger Izzy
Mitglied
Es war Sommer. Gefühlte 122 Grad Fahrenheit im Höschen. Ich wartete vor der Kneipe auf Peter. Ich sah ihn von weitem, wie er langsam seinen Rollator vor sich herschob. Ein Schritt nach dem andern. Die Sonne schiss ihm ins Gesicht. An seinem rechten Fuss trug er eine weisse Socke. Sein halber Fuss war ihm schon abgefault. Er litt unter alkoholbedingter Diabetes. Armes Schwein. Die Bürde, sein Schicksal, sein Mühsal schob er tapfer vor sich her. Ein Schritt nach dem andern.
„Hallo Peter, wie geht‘s?“
„Schön Dich zu sehen, Roger. Gehen wir rein?“
Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten zwei Espressi.
„Scheisse, in einer Woche nehmen sie mir den ganzen rechten Fuss ab.“
Ich schaute auf seinen Fuss. Die weisse Socke war blutig, vergilbt, der Gestank der Verwesung kam mir entgegen.
„Beim linken Fuss fängt es auch schon an. Ich spüre an den Zehen nichts mehr.“
„Bald brauchst Du einen Rollstuhl“, versuchte ihn aufzumuntern, „keine Sorge, ich schieb Dich gerne in den Puff, Dein Schwanz hat sicher noch keinen Diabetesbefall.“
Er lachte: „Wie ich Deinen Humor liebe, Roger!“
„Ja, mein Sarkasmus ist nicht von schlechten Eltern. Humor ist Medikation.“
Jean gesellte sich zu uns. Er war Franzose und hatte in der Fremdenlegion gedient.
Im Libanonkrieg war ihm sein linkes Ohr zerfetzt worden. Der libanesische Sniper hatte wohl den Tremor oder war besoffen. Er hats überlebt. Nur das zählte für ihn.
Gary, ein englischer Barkeeper, setzte sich auch zu uns. Er hatte einen schweren Kater. Ich bestellte für ihn einen doppelten Espresso. Da sassen wir nun bei einem Kaffeekränzchen: Peter mit seinem halben Fuss, Jean, der Fremdenlegionär mit nur einem Ohr, Gary mit seinem Kater und schliesslich ich…
Wir sprachen nicht viel. Vielleicht waren wir gar nicht da, hatten uns zuhause vergessen bei 122 Grad Fahrenheit im Schlüpfer.
„Nietzsche und Dostojewsky waren nicht schlecht. Ich hab ‚Also sprach Zarathustra‘ gelesen,“ schiss Peter so nebenbei in unser gemütliches Tutorat bei 122 Grad Fahrenheit in der Ritze...
„So, so, also spricht jetzt mal Roger Izzy“, warf ich pathetisch mit einem Schmunzeln in die Runde. Der Espresso brachte mich ganz nach vorn.
Also sprach ich:
„Dostojewski interessierte nur der Exzess und der Kontrollverlust.
Die Kreativität und die benötigte Leidenschaft gedeiht nur in diesem Milieu.
Und: Nur im Unglück liegt die Wahrheit.“
Nietzsche schrieb: „Nur im Chaos kann man einen tanzenden Stern gebären.”
Ich spreche:
„Der leidenschaftliche Exzess und Kontrollverlust führt aber auch auf die Intensivstation oder geradewegs in die Holzkiste. Das einzig Kreative daran mögen drei verwelkte Lilien in den Händen eines Toten sein. Vielleicht auch die erhabenen Worte eines Klerikers und die Seligsprechung...
Bei mir wäre die Heiligsprechung schon bei meiner Abdankung. Kreativ wären vielleicht auch die Gedenkworte der Verwandten und Freunde. Wenn man denn welche hat…
Das wahrhafte Unglück und das Chaos erschüttern den existenziellen Kern eines jeden. Was man daraus macht, gebärt, ist der Tanz des Lebens oder der sinnliche Tanz der Toten.“
Bei mir trifft wohl beides zu...
Dostojewski war dem Wahn verfallen. Nietzsches Hirn war wegen seiner Syphilis zerfressen. Meine Birne hat vielleicht den Tripper. Man weiss es nicht....
Das waren meine Salbungsworte...
„Hattest Du schon mal einen Tripper?“, fragte mich Peter. „Da quält man sich durch das Purgatorium!“
„Aber rein kommt man nur mit einem Ablassbrief,“ fügte ich hinzu.
Der Tag schlich so dahin, vier Kumpels, die füreinander da waren, aber an diesem Tag einander nichts zu sagen hatten. Stille, aber keine Resignation, des Lebens willen.
Keine Ohnmacht am Tisch, nur vertrautes Schweigen. Mittlerweile schien die Sonne wie eine Erleuchtung durch die Jalousien und warf ein seliges Licht auf ein Bild von Ferdinand Hodler, das an der Wand hing. Eine schlechte Reproduktion natürlich…
„Jean, ich habe was für Dich. Den Scheiss habe ich geschrieben,“ bemerkte ich nicht ohne Stolz.
LE DESTIN QUI SE BOUGE VERS L’ÉTÉRNITÉ,
EN MOURANT AU CHEMIN DU MILIEU,
DONT JE FAIS MA VIE, ATTENDANT LA FÉLICITÉ AU CIEL DU DIEU.
„C’est jolie, mais je ne comprends rien,“ brummte Jean.
“Moi non plus,” stimmte ich ihm lächelnd zu.
Gary bestellte ein Bier. Jean einen Pernot. Peter und ich blieben beim Espresso.
„Bevor ich weiterziehe, habe ich noch einen für Dich, Gary,” zwinkerte ich ihm zu, „dedicated to Gary, a smart Unionist and the Queen’s best friend!”
SOME ARE FUCKING CUNTS TO DIE
WHEN I STAGGERED DOWN LONESOME HIGHWAY
WITH SOME DISGUST SEE MARY WITH MY WALLET OF GOLD
SHE STOLE WHEN SHE GAVE ME HEAD IN A ROTTEN SHED
WHERE EVERYONE PREPARED TO JUICE UP DEATH
Er lachte. “You’re a cunt and a fucking poet, too.”
„Ist dieser lyrische Auswurf von Dir aus ‚Blut&Gin‘, Roger?”, fragte Peter.
“Yep, leider...”
Ich verabschiedete mich und umarmte meine mates. „Nichts für ungut, lads, je pars. Take care, bonne journée, tschüss, das wars, Gabriela wartet auf mich.”
Ohne Schlagseite machte ich mich vom Acker und fiel Gabriela in meiner Stammbar in ihren warmen und gütigen Schoss.
Vielleicht sollte ich im Sommer bei gefühlten 122 Grad Fahrenheit in meiner Unterhose nur noch mit Espresso unterwegs sein… Und den Gin lassen...
Sicher...
„Hallo Peter, wie geht‘s?“
„Schön Dich zu sehen, Roger. Gehen wir rein?“
Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten zwei Espressi.
„Scheisse, in einer Woche nehmen sie mir den ganzen rechten Fuss ab.“
Ich schaute auf seinen Fuss. Die weisse Socke war blutig, vergilbt, der Gestank der Verwesung kam mir entgegen.
„Beim linken Fuss fängt es auch schon an. Ich spüre an den Zehen nichts mehr.“
„Bald brauchst Du einen Rollstuhl“, versuchte ihn aufzumuntern, „keine Sorge, ich schieb Dich gerne in den Puff, Dein Schwanz hat sicher noch keinen Diabetesbefall.“
Er lachte: „Wie ich Deinen Humor liebe, Roger!“
„Ja, mein Sarkasmus ist nicht von schlechten Eltern. Humor ist Medikation.“
Jean gesellte sich zu uns. Er war Franzose und hatte in der Fremdenlegion gedient.
Im Libanonkrieg war ihm sein linkes Ohr zerfetzt worden. Der libanesische Sniper hatte wohl den Tremor oder war besoffen. Er hats überlebt. Nur das zählte für ihn.
Gary, ein englischer Barkeeper, setzte sich auch zu uns. Er hatte einen schweren Kater. Ich bestellte für ihn einen doppelten Espresso. Da sassen wir nun bei einem Kaffeekränzchen: Peter mit seinem halben Fuss, Jean, der Fremdenlegionär mit nur einem Ohr, Gary mit seinem Kater und schliesslich ich…
Wir sprachen nicht viel. Vielleicht waren wir gar nicht da, hatten uns zuhause vergessen bei 122 Grad Fahrenheit im Schlüpfer.
„Nietzsche und Dostojewsky waren nicht schlecht. Ich hab ‚Also sprach Zarathustra‘ gelesen,“ schiss Peter so nebenbei in unser gemütliches Tutorat bei 122 Grad Fahrenheit in der Ritze...
„So, so, also spricht jetzt mal Roger Izzy“, warf ich pathetisch mit einem Schmunzeln in die Runde. Der Espresso brachte mich ganz nach vorn.
Also sprach ich:
„Dostojewski interessierte nur der Exzess und der Kontrollverlust.
Die Kreativität und die benötigte Leidenschaft gedeiht nur in diesem Milieu.
Und: Nur im Unglück liegt die Wahrheit.“
Nietzsche schrieb: „Nur im Chaos kann man einen tanzenden Stern gebären.”
Ich spreche:
„Der leidenschaftliche Exzess und Kontrollverlust führt aber auch auf die Intensivstation oder geradewegs in die Holzkiste. Das einzig Kreative daran mögen drei verwelkte Lilien in den Händen eines Toten sein. Vielleicht auch die erhabenen Worte eines Klerikers und die Seligsprechung...
Bei mir wäre die Heiligsprechung schon bei meiner Abdankung. Kreativ wären vielleicht auch die Gedenkworte der Verwandten und Freunde. Wenn man denn welche hat…
Das wahrhafte Unglück und das Chaos erschüttern den existenziellen Kern eines jeden. Was man daraus macht, gebärt, ist der Tanz des Lebens oder der sinnliche Tanz der Toten.“
Bei mir trifft wohl beides zu...
Dostojewski war dem Wahn verfallen. Nietzsches Hirn war wegen seiner Syphilis zerfressen. Meine Birne hat vielleicht den Tripper. Man weiss es nicht....
Das waren meine Salbungsworte...
„Hattest Du schon mal einen Tripper?“, fragte mich Peter. „Da quält man sich durch das Purgatorium!“
„Aber rein kommt man nur mit einem Ablassbrief,“ fügte ich hinzu.
Der Tag schlich so dahin, vier Kumpels, die füreinander da waren, aber an diesem Tag einander nichts zu sagen hatten. Stille, aber keine Resignation, des Lebens willen.
Keine Ohnmacht am Tisch, nur vertrautes Schweigen. Mittlerweile schien die Sonne wie eine Erleuchtung durch die Jalousien und warf ein seliges Licht auf ein Bild von Ferdinand Hodler, das an der Wand hing. Eine schlechte Reproduktion natürlich…
„Jean, ich habe was für Dich. Den Scheiss habe ich geschrieben,“ bemerkte ich nicht ohne Stolz.
LE DESTIN QUI SE BOUGE VERS L’ÉTÉRNITÉ,
EN MOURANT AU CHEMIN DU MILIEU,
DONT JE FAIS MA VIE, ATTENDANT LA FÉLICITÉ AU CIEL DU DIEU.
„C’est jolie, mais je ne comprends rien,“ brummte Jean.
“Moi non plus,” stimmte ich ihm lächelnd zu.
Gary bestellte ein Bier. Jean einen Pernot. Peter und ich blieben beim Espresso.
„Bevor ich weiterziehe, habe ich noch einen für Dich, Gary,” zwinkerte ich ihm zu, „dedicated to Gary, a smart Unionist and the Queen’s best friend!”
SOME ARE FUCKING CUNTS TO DIE
WHEN I STAGGERED DOWN LONESOME HIGHWAY
WITH SOME DISGUST SEE MARY WITH MY WALLET OF GOLD
SHE STOLE WHEN SHE GAVE ME HEAD IN A ROTTEN SHED
WHERE EVERYONE PREPARED TO JUICE UP DEATH
Er lachte. “You’re a cunt and a fucking poet, too.”
„Ist dieser lyrische Auswurf von Dir aus ‚Blut&Gin‘, Roger?”, fragte Peter.
“Yep, leider...”
Ich verabschiedete mich und umarmte meine mates. „Nichts für ungut, lads, je pars. Take care, bonne journée, tschüss, das wars, Gabriela wartet auf mich.”
Ohne Schlagseite machte ich mich vom Acker und fiel Gabriela in meiner Stammbar in ihren warmen und gütigen Schoss.
Vielleicht sollte ich im Sommer bei gefühlten 122 Grad Fahrenheit in meiner Unterhose nur noch mit Espresso unterwegs sein… Und den Gin lassen...
Sicher...