xavia
Mitglied
1. Frank
Mit diesen Haaren gehst du mir nicht zur Schule, du siehst ja aus wie eine Vogelscheuche!« – Sabrinas Mutter empört sich über den Anblick ihrer Tochter, die gerade zum Frühstück hereinkommt. »Und zieh' dir lieber den roten Pulli an, damit siehst du nicht so blass aus.
[ 5]Betreten geht Sabrina wieder nach oben in ihr Zimmer, wo sie schon eine ganze Weile vor dem Spiegel zugebracht hat. Traurig blickt sie auf eine zarte Gestalt mit langen, welligen, silberblonden Haaren und hellblauen Augen. Der blaue Pulli betont ihre helle Haut und die Farbe ihrer Augen. Sie hätte der Elbenkönigin Galadriel aus dem ›Herrn der Ringe‹ Konkurrenz machen können, aber das sieht sie nicht. Sie sieht nur ein blasses trauriges Mädchen, flicht ihre Haare zu einem Zopf und zieht den roten Pulli an. Sie versucht, es ihrer Mutter recht zu machen, weiß sie doch, dass diese es gut mir ihr meint. Aber manchmal kommt es ihr so vor, als könne vor den Augen ihrer Mutter nur das Anklang finden, was genau deren Vorstellungen, ja sogar deren Aussehen entspricht: Ihre Mutter hat rote, kinnlange Haare und trägt gerne kräftige Farben. – Hat man mit fünfzehn nicht langsam ein Recht auf eine eigene Meinung? Aber vielleicht liegt sie ja ganz falsch mit ihrer eigenen Meinung, vielleicht stehen ihr die hellen Farben, die sie so mag, tatsächlich nicht. Nachdenklich geht sie wieder hinunter und setzt sich zu Mutter und Schwester an den Frühstückstisch. Ihr Vater ist schon auf dem Weg ins Büro. Er legt Wert darauf, früh dort zu sein, hat es inzwischen zum Dienststellenleiter gebracht und ist den anderen ein Vorbild.
[ 5]Als sie, immer noch verunsichert und nachdenklich, auf ihrem Brot herumkaut, ermuntert ihre Mutter sie: »Vollkornbrot macht Wangen rot« und so versucht sie tapfer, es hinunterzuwürgen, obwohl sie lieber das ›ungesunde‹ helle Brot isst.
[ 5]Ihre jüngere Schwester ist von ganz anderer Natur: Paula ähnelt der Mutter, ist robuster und fröhlicher als sie selbst. Jetzt gibt sie eine weitere Lebensweisheit zum Besten: »An apple a day keeps the doctor away« und beißt herzhaft in ihren Apfel. Manchmal fragt Sabrina sich, ob sie im Krankenhaus verwechselt und in die falsche Familie gebracht worden ist.
[ 5]Die Schwestern radeln gemeinsam zur Schule, haben beide in der ersten Stunde Unterricht. Am Fahrradständer trennen sich ihre Wege, Paula rennt zum Schulgebäude und Sabrina folgt ihr langsam. Dann erklimmt sie die breite Steintreppe, die zu dem hohen Tor des imposanten Altbaus hinaufführt. Sabrina fühlt sich klein angesichts dieses mächtigen Gebäudes.
[ 5]Als sie den breiten Flur mit dem schwarz-weißen Fliesenmuster am Boden betritt, beschleunigt sie ihre Schritte. Der Physikraum liegt im ersten Stock, sie will zum Treppenhaus am Ende des Flurs. Als sie aufblickt, sieht sie Ihn, der entgegen dem Strom der Schülerinnen und Schüler in Richtung Ausgang geht. Mit samtenen braunen Augen hält er ihren Blick fest. Es dauert nur einen Moment, fühlt sich aber an wie eine Ewigkeit und ihr Herz schlägt wie wild. Er lächelt sie kurz an und geht an ihr vorbei. Ihr ist, als hätte er auf den Grund ihrer Seele geschaut, an eine Stelle, die sie selbst noch nicht kannte. Sie hat ihn noch nie gesehen, guckt ihm verwirrt hinterher: Hoch gewachsen, eher mager, wahrscheinlich etwas älter als sie selbst. Sein dunkles, glattes Haar trägt er länger als die anderen in seinem Alter. Um sie anzusehen, hat er es mit einer kurzen Kopfbewegung aus der Stirn geworfen. Blue Jeans und eine braune Wildlederjacke weisen ihn nicht gerade als einen Kenner der aktuellen Mode aus: Damit hätte auch Sabrinas Vater einen Hund spazierenführen können. – Aber was spielt das für eine Rolle? Er ist der Eine! Ihre Mutter hat ihr und Paula oft davon erzählt, wie es ist, wenn man Ihm begegnet. Sie haben versucht, es sich vorzustellen, sind wirklich kühn gewesen in ihren Träumen, aber dieses bricht alle Rekorde. So etwas kann man sich nicht vorstellen, das muss man erleben!
[ 5]»Hey, was ist, bist du einem Geist begegnet?«, reißt eine Stimme sie aus ihrer Trance und ein Arm legt sich um ihre Schulter. Es ist Sandra, ihre Freundin.
[ 5]Erst jetzt wird ihr klar, dass sie mitten im Gang stehengeblieben ist und die Ankommenden rechts und links an ihr vorbeiströmten, den Klassenräumen entgegen. Eilig bemüht sie sich, ihre Fassung zurückzugewinnen, um sich hier nicht öffentlich zum Narren zu machen. Mit einem tiefen Atemzug inhaliert sie nicht nur den üblichen Schul-Muff, sondern auch die Luft, die Er ausgeatmet haben muss, als er hier vorbeigegangen ist! Es kommt ihr vor, als könne sie ihn noch riechen, als hätte sie Superkräfte wie die Leute in den Vampirfilmen, nachdem sie gebissen worden sind. Sandra geleitet sie sicher in den Physikraum, wo sie die erste Stunde haben würden, fragt nicht weiter.
[ 5]Erst in der großen Pause ist Sabrina wieder einigermaßen bei sich und berichtet ihrer Freundin, was passiert ist. Sandra ist eine zuverlässige und bodenständige Person, die man nicht so leicht erschüttern kann. Sie erwartet keine großen Überraschungen vom Leben und mag keine Abenteuer. Vor einem Jahr hat sie Sabrina erzählt, dass sie Tiermedizin studieren und bis dahin keinen festen Freund haben will, der sie von ihren Plänen ablenkt. Bis heute hat sich daran nichts geändert, während Sabrinas eher unspezifische Berufswünsche mindestens monatlich wechseln, falls sie überhaupt welche hat und ihre Träume von Partnerschaft sich bislang auf Ian Tracey, den Huckleberry Finn aus der Fernsehserie, gerichtet haben.
[ 5]»Na, das ist ja ein schöner Schlamassel, in den du da geraten bist«, ist Sandras Reaktion.
[ 5]Sabrina hört sie schon nicht mehr, denn sie hat den verträumt dreinblickenden Jungen, der so gar nicht wie Ian Tracey aussieht, bereits auf dem Schulhof entdeckt, wo er in einer Gruppe Gleichaltriger steht, die den Neuen offenbar schon aufgenommen haben. Besonders eine, Jasmin, eine ziemlich schrille Person mit reichen Eltern, sexy Klamotten, perfektem Make-up und einem gigantischen Selbstwertgefühl, scheint es auf ihn abgesehen zu haben. Anscheinend wenig beeindruckt von ihrem hellen Gelächter blickt er zu Sabrina herüber, der sofort wieder sämtliche Lebensfunktionen zu versagen drohen. »D-d-da drüben, das ist Er, bei Jasmin, guck jetzt bloß nicht hin«, haucht sie und die Knie werden ihr weich.
[ 5]Nach einer angemessenen Pause verschafft sich Sandra einen ersten Eindruck und stellt sachlich fest: »Ja, der ist heiß. Aber da musst du dich beeilen, wenn du Jasmin noch zuvorkommen willst.«
[ 5]Die Schulstunden schleichen dahin, Sabrina kann sich nicht konzentrieren. Sie denkt an Ihn, träumt von Ihm. In einer der Pausen schlägt Sandra vor, einen Plan zu schmieden, wie sie dem Angebeteten näherkommen könnte, aber selbst für so etwas hat sie keinen Raum in ihrem Kopf. Im Grunde ist da nur noch ein großer Hohlraum, in den das ganze Universum hineinpasst, aber kein einziger klarer Gedanke. Dafür spürt sie ihr Herz umso mehr: Es hat sich noch nie so lebendig angefühlt, scheint ein Eigenleben zu führen und findet nicht mehr genug Platz in ihrem Brustkorb. Ihr gesamtes Innenleben scheint zu vibrieren. Und immer wieder ist da sein Bild, dieses edle Gesicht, die schmale Nase, der lächelnde, wohlgeformte Mund und diese Augen! Dieser Blick, der sie um den Verstand gebracht hat. Sandra merkt, dass sie ihrer Freundin in diesem Zustand nicht helfen kann und schlägt nur ganz beiläufig vor, dass diese sich beim Verlassen des Schulgebäudes heute mittag nicht allzu sehr beeilen sollte, man wisse ja nie, was da noch an Begegnungen möglich sei …
[ 5]Es ist nicht der Rat der Freundin, der sie daran hindert, mittags sofort wie gewohnt den Heimweg anzutreten, sondern die Tatsache, dass sie sich damit von Ihm entfernen würde. Es scheint ihr, als müsse sie sich durch eine zähe Masse kämpfen, um den Fahrradständer oder gar das Schultor zu erreichen. Schließlich gelingt es ihr doch und sie will sich gerade auf's Rad schwingen, als sie Ihn von Weitem über den Hof gehen sieht. Und er schaut sie an. Kommt er auf sie zu? Die Erde hört auf, sich zu drehen, der Aufruhr in Sabrinas Innenleben steigert sich noch. Sie bleibt wie angewurzelt stehen und versinkt in seinem Blick, selbst auf diese Entfernung.
[ 5]Da ertönt hinter ihm eine helle Stimme: »Aaah, das ist ja wunderbar, dass ich dich hier treffe, Frank! Die anderen sind schon vorgegangen, ich hab' dich gesucht. Wir wollen Eis essen gehen.« Jasmin hakt sich bei ihm ein, lenkt ihn sanft aber bestimmt in Richtung Schultor und plaudert munter auf ihn ein. Dann stolpert sie
geschickt mit ihren Stöckelschuhen und ihm bleibt nichts anderes übrig, als mit dem freien Arm nach ihr zu greifen, damit sie nicht hinfällt. Er nimmt ihre Schultasche und sie stöckelt mit wiegenden Hüften an seinem Arm mit ihm davon.
[ 5]Resigniert denkt Sabrina, dass ein Junge wie er halt nicht für ein Mädchen wie sie erschaffen worden ist. Ihm steht die Welt offen, er kann jede haben, warum sollte er sich für sie interessieren? – Sie beschließt, sich damit zufrieden zu geben, dass er überhaupt existiert und dass sie ihm begegnen durfte, dass er sie sogar bemerkt hat. Schon dadurch fühlt sie sich unendlich bereichert. Verträumt tritt sie den Heimweg an. – Plötzlich: Lautes Hupen! Sie springt vom Rad und steht vor einem großen schwarzen Auto, das ihretwegen gebremst hat und nun lautstark protestiert gegen ihren Verstoß. Das holt sie in die Wirklichkeit zurück.
[ 5]Die ›Wirklichkeit‹: Jasmin ist mit Frank losgezogen. Sie hat sich offensichtlich in ihren schönen Kopf gesetzt, ihn für sich zu behalten, hat ihre perfekt manikürten Krallen in Ihn hineingeschlagen und wird ihn nicht freiwillig wieder loslassen. Erst jetzt dringt das ganze Elend ihrer Situation in ihr Bewusstsein: Gegen Jasmin hat sie nicht den Hauch einer Chance. So leidet sie still und widerstandslos, tagelang, wochenlang, lebt nur für die kurzen Momente, in denen er sie ansieht. Sieht er traurig aus oder bildet sie sich das nur ein? Eine gewisse Tragik liegt immer in seinem Blick, das ist einer der vielen Gründe, warum sie ihn so anziehend findet. Jedes Mal, wenn er sie angesehen hat, kann sie stundenlang davon zehren und beinahe glücklich sein. Manchmal hat sie sogar das Gefühl, dass wieder etwas wie ›Normalität‹ bei ihr eintritt. Dann übernimmt ihr Verstand die Regie und sie sagt sich, dass alles gut und richtig ist so, wie es eben ist: Jasmin ist perfekt, sie ist alles, was Sabrina gerne wäre und sie findet es angemessen, dass dieses Mädchen seine Freundin ist. Sie sieht die beiden auf dem Schulhof, erfreut sich an dem Anblick. Dann fragt sie sich, wie sie überhaupt so leiden konnte.
[ 5]Aber sobald er ihr begegnet, sie ansieht, womöglich sogar anlächelt, sind alle vernünftigen Gedanken dahin und der Aufruhr in ihrem Inneren ist mit unverminderter Heftigkeit wieder da.
[ 5]Sandras Kommentar: »Abwarten. Jasmin mag die Abwechslung.«
[ 5]Das ist leichter gesagt als getan. Warten, worauf? Sie ist nicht eifersüchtig auf Jasmin. Eifersucht würde ja Besitzdenken voraussetzen und Konkurrenz. Mit jemandem wie Jasmin kann sie aber nicht konkurrieren, das ist mal klar. Und wenn sie ihn schon nicht haben kann, so sagt sie sich, soll ihn wenigstens die Schönste von allen haben. Also kann sie unmöglich auf etwas warten. Sie versucht, das Geschenk zu würdigen, auf demselben Planeten zu leben wie Er, mehr noch: in dieselbe Schule zu gehen! Wenn sie selbst ein Junge wäre, wäre sie auch froh, wenn jemand wie Jasmin sie mögen würde. Und es sieht so aus, als hätte die sonst so flatterhafte Jasmin sich wirklich verliebt.
[ 5]Irgendwann – waren es Wochen, Monate, Jahre? – schlägt Sandra, scheinbar ohne weitere Einleitung, vor, gemeinsam Reitstunden zu nehmen. Sabrina kann es nicht fassen, dass sie ihr mit einem so profanen Vorschlag kommt, ihr, die sie verliebt ist! Sandra meint, der Kontakt mit einem Pferd würde ihr gut tun, außerdem wolle sie selbst es gerne lernen und hätte mehr Lust, zu zweit dorthin zu gehen. Sie hat schon eine Reitschule ausfindig gemacht und ihre Eltern davon überzeugt, dass sich die Investition für eine künftige Tierärztin lohnen würde.
[ 5]Sabrina kann sich nicht dafür erwärmen. Sie kann sich für gar nichts mehr begeistern außer für Ihn. So lebt sie die meiste Zeit quasi ›auf Autopilot‹, bis eines Tages eine unverhoffte Änderung eintritt: Nicht nur, dass sich die Clique um Frank und Jasmin auf dem Pausenhof geteilt hat und die beiden in verschiedenen Gruppen stehen, nein: Als die Schule aus ist, sieht es so aus, als warte Frank am Fahrradständer nicht auf Jasmin, sondern auf sie, Sabrina!
Mit diesen Haaren gehst du mir nicht zur Schule, du siehst ja aus wie eine Vogelscheuche!« – Sabrinas Mutter empört sich über den Anblick ihrer Tochter, die gerade zum Frühstück hereinkommt. »Und zieh' dir lieber den roten Pulli an, damit siehst du nicht so blass aus.
[ 5]Betreten geht Sabrina wieder nach oben in ihr Zimmer, wo sie schon eine ganze Weile vor dem Spiegel zugebracht hat. Traurig blickt sie auf eine zarte Gestalt mit langen, welligen, silberblonden Haaren und hellblauen Augen. Der blaue Pulli betont ihre helle Haut und die Farbe ihrer Augen. Sie hätte der Elbenkönigin Galadriel aus dem ›Herrn der Ringe‹ Konkurrenz machen können, aber das sieht sie nicht. Sie sieht nur ein blasses trauriges Mädchen, flicht ihre Haare zu einem Zopf und zieht den roten Pulli an. Sie versucht, es ihrer Mutter recht zu machen, weiß sie doch, dass diese es gut mir ihr meint. Aber manchmal kommt es ihr so vor, als könne vor den Augen ihrer Mutter nur das Anklang finden, was genau deren Vorstellungen, ja sogar deren Aussehen entspricht: Ihre Mutter hat rote, kinnlange Haare und trägt gerne kräftige Farben. – Hat man mit fünfzehn nicht langsam ein Recht auf eine eigene Meinung? Aber vielleicht liegt sie ja ganz falsch mit ihrer eigenen Meinung, vielleicht stehen ihr die hellen Farben, die sie so mag, tatsächlich nicht. Nachdenklich geht sie wieder hinunter und setzt sich zu Mutter und Schwester an den Frühstückstisch. Ihr Vater ist schon auf dem Weg ins Büro. Er legt Wert darauf, früh dort zu sein, hat es inzwischen zum Dienststellenleiter gebracht und ist den anderen ein Vorbild.
[ 5]Als sie, immer noch verunsichert und nachdenklich, auf ihrem Brot herumkaut, ermuntert ihre Mutter sie: »Vollkornbrot macht Wangen rot« und so versucht sie tapfer, es hinunterzuwürgen, obwohl sie lieber das ›ungesunde‹ helle Brot isst.
[ 5]Ihre jüngere Schwester ist von ganz anderer Natur: Paula ähnelt der Mutter, ist robuster und fröhlicher als sie selbst. Jetzt gibt sie eine weitere Lebensweisheit zum Besten: »An apple a day keeps the doctor away« und beißt herzhaft in ihren Apfel. Manchmal fragt Sabrina sich, ob sie im Krankenhaus verwechselt und in die falsche Familie gebracht worden ist.
[ 5]Die Schwestern radeln gemeinsam zur Schule, haben beide in der ersten Stunde Unterricht. Am Fahrradständer trennen sich ihre Wege, Paula rennt zum Schulgebäude und Sabrina folgt ihr langsam. Dann erklimmt sie die breite Steintreppe, die zu dem hohen Tor des imposanten Altbaus hinaufführt. Sabrina fühlt sich klein angesichts dieses mächtigen Gebäudes.
[ 5]Als sie den breiten Flur mit dem schwarz-weißen Fliesenmuster am Boden betritt, beschleunigt sie ihre Schritte. Der Physikraum liegt im ersten Stock, sie will zum Treppenhaus am Ende des Flurs. Als sie aufblickt, sieht sie Ihn, der entgegen dem Strom der Schülerinnen und Schüler in Richtung Ausgang geht. Mit samtenen braunen Augen hält er ihren Blick fest. Es dauert nur einen Moment, fühlt sich aber an wie eine Ewigkeit und ihr Herz schlägt wie wild. Er lächelt sie kurz an und geht an ihr vorbei. Ihr ist, als hätte er auf den Grund ihrer Seele geschaut, an eine Stelle, die sie selbst noch nicht kannte. Sie hat ihn noch nie gesehen, guckt ihm verwirrt hinterher: Hoch gewachsen, eher mager, wahrscheinlich etwas älter als sie selbst. Sein dunkles, glattes Haar trägt er länger als die anderen in seinem Alter. Um sie anzusehen, hat er es mit einer kurzen Kopfbewegung aus der Stirn geworfen. Blue Jeans und eine braune Wildlederjacke weisen ihn nicht gerade als einen Kenner der aktuellen Mode aus: Damit hätte auch Sabrinas Vater einen Hund spazierenführen können. – Aber was spielt das für eine Rolle? Er ist der Eine! Ihre Mutter hat ihr und Paula oft davon erzählt, wie es ist, wenn man Ihm begegnet. Sie haben versucht, es sich vorzustellen, sind wirklich kühn gewesen in ihren Träumen, aber dieses bricht alle Rekorde. So etwas kann man sich nicht vorstellen, das muss man erleben!
[ 5]»Hey, was ist, bist du einem Geist begegnet?«, reißt eine Stimme sie aus ihrer Trance und ein Arm legt sich um ihre Schulter. Es ist Sandra, ihre Freundin.
[ 5]Erst jetzt wird ihr klar, dass sie mitten im Gang stehengeblieben ist und die Ankommenden rechts und links an ihr vorbeiströmten, den Klassenräumen entgegen. Eilig bemüht sie sich, ihre Fassung zurückzugewinnen, um sich hier nicht öffentlich zum Narren zu machen. Mit einem tiefen Atemzug inhaliert sie nicht nur den üblichen Schul-Muff, sondern auch die Luft, die Er ausgeatmet haben muss, als er hier vorbeigegangen ist! Es kommt ihr vor, als könne sie ihn noch riechen, als hätte sie Superkräfte wie die Leute in den Vampirfilmen, nachdem sie gebissen worden sind. Sandra geleitet sie sicher in den Physikraum, wo sie die erste Stunde haben würden, fragt nicht weiter.
[ 5]Erst in der großen Pause ist Sabrina wieder einigermaßen bei sich und berichtet ihrer Freundin, was passiert ist. Sandra ist eine zuverlässige und bodenständige Person, die man nicht so leicht erschüttern kann. Sie erwartet keine großen Überraschungen vom Leben und mag keine Abenteuer. Vor einem Jahr hat sie Sabrina erzählt, dass sie Tiermedizin studieren und bis dahin keinen festen Freund haben will, der sie von ihren Plänen ablenkt. Bis heute hat sich daran nichts geändert, während Sabrinas eher unspezifische Berufswünsche mindestens monatlich wechseln, falls sie überhaupt welche hat und ihre Träume von Partnerschaft sich bislang auf Ian Tracey, den Huckleberry Finn aus der Fernsehserie, gerichtet haben.
[ 5]»Na, das ist ja ein schöner Schlamassel, in den du da geraten bist«, ist Sandras Reaktion.
[ 5]Sabrina hört sie schon nicht mehr, denn sie hat den verträumt dreinblickenden Jungen, der so gar nicht wie Ian Tracey aussieht, bereits auf dem Schulhof entdeckt, wo er in einer Gruppe Gleichaltriger steht, die den Neuen offenbar schon aufgenommen haben. Besonders eine, Jasmin, eine ziemlich schrille Person mit reichen Eltern, sexy Klamotten, perfektem Make-up und einem gigantischen Selbstwertgefühl, scheint es auf ihn abgesehen zu haben. Anscheinend wenig beeindruckt von ihrem hellen Gelächter blickt er zu Sabrina herüber, der sofort wieder sämtliche Lebensfunktionen zu versagen drohen. »D-d-da drüben, das ist Er, bei Jasmin, guck jetzt bloß nicht hin«, haucht sie und die Knie werden ihr weich.
[ 5]Nach einer angemessenen Pause verschafft sich Sandra einen ersten Eindruck und stellt sachlich fest: »Ja, der ist heiß. Aber da musst du dich beeilen, wenn du Jasmin noch zuvorkommen willst.«
[ 5]Die Schulstunden schleichen dahin, Sabrina kann sich nicht konzentrieren. Sie denkt an Ihn, träumt von Ihm. In einer der Pausen schlägt Sandra vor, einen Plan zu schmieden, wie sie dem Angebeteten näherkommen könnte, aber selbst für so etwas hat sie keinen Raum in ihrem Kopf. Im Grunde ist da nur noch ein großer Hohlraum, in den das ganze Universum hineinpasst, aber kein einziger klarer Gedanke. Dafür spürt sie ihr Herz umso mehr: Es hat sich noch nie so lebendig angefühlt, scheint ein Eigenleben zu führen und findet nicht mehr genug Platz in ihrem Brustkorb. Ihr gesamtes Innenleben scheint zu vibrieren. Und immer wieder ist da sein Bild, dieses edle Gesicht, die schmale Nase, der lächelnde, wohlgeformte Mund und diese Augen! Dieser Blick, der sie um den Verstand gebracht hat. Sandra merkt, dass sie ihrer Freundin in diesem Zustand nicht helfen kann und schlägt nur ganz beiläufig vor, dass diese sich beim Verlassen des Schulgebäudes heute mittag nicht allzu sehr beeilen sollte, man wisse ja nie, was da noch an Begegnungen möglich sei …
[ 5]Es ist nicht der Rat der Freundin, der sie daran hindert, mittags sofort wie gewohnt den Heimweg anzutreten, sondern die Tatsache, dass sie sich damit von Ihm entfernen würde. Es scheint ihr, als müsse sie sich durch eine zähe Masse kämpfen, um den Fahrradständer oder gar das Schultor zu erreichen. Schließlich gelingt es ihr doch und sie will sich gerade auf's Rad schwingen, als sie Ihn von Weitem über den Hof gehen sieht. Und er schaut sie an. Kommt er auf sie zu? Die Erde hört auf, sich zu drehen, der Aufruhr in Sabrinas Innenleben steigert sich noch. Sie bleibt wie angewurzelt stehen und versinkt in seinem Blick, selbst auf diese Entfernung.
[ 5]Da ertönt hinter ihm eine helle Stimme: »Aaah, das ist ja wunderbar, dass ich dich hier treffe, Frank! Die anderen sind schon vorgegangen, ich hab' dich gesucht. Wir wollen Eis essen gehen.« Jasmin hakt sich bei ihm ein, lenkt ihn sanft aber bestimmt in Richtung Schultor und plaudert munter auf ihn ein. Dann stolpert sie
geschickt mit ihren Stöckelschuhen und ihm bleibt nichts anderes übrig, als mit dem freien Arm nach ihr zu greifen, damit sie nicht hinfällt. Er nimmt ihre Schultasche und sie stöckelt mit wiegenden Hüften an seinem Arm mit ihm davon.
[ 5]Resigniert denkt Sabrina, dass ein Junge wie er halt nicht für ein Mädchen wie sie erschaffen worden ist. Ihm steht die Welt offen, er kann jede haben, warum sollte er sich für sie interessieren? – Sie beschließt, sich damit zufrieden zu geben, dass er überhaupt existiert und dass sie ihm begegnen durfte, dass er sie sogar bemerkt hat. Schon dadurch fühlt sie sich unendlich bereichert. Verträumt tritt sie den Heimweg an. – Plötzlich: Lautes Hupen! Sie springt vom Rad und steht vor einem großen schwarzen Auto, das ihretwegen gebremst hat und nun lautstark protestiert gegen ihren Verstoß. Das holt sie in die Wirklichkeit zurück.
[ 5]Die ›Wirklichkeit‹: Jasmin ist mit Frank losgezogen. Sie hat sich offensichtlich in ihren schönen Kopf gesetzt, ihn für sich zu behalten, hat ihre perfekt manikürten Krallen in Ihn hineingeschlagen und wird ihn nicht freiwillig wieder loslassen. Erst jetzt dringt das ganze Elend ihrer Situation in ihr Bewusstsein: Gegen Jasmin hat sie nicht den Hauch einer Chance. So leidet sie still und widerstandslos, tagelang, wochenlang, lebt nur für die kurzen Momente, in denen er sie ansieht. Sieht er traurig aus oder bildet sie sich das nur ein? Eine gewisse Tragik liegt immer in seinem Blick, das ist einer der vielen Gründe, warum sie ihn so anziehend findet. Jedes Mal, wenn er sie angesehen hat, kann sie stundenlang davon zehren und beinahe glücklich sein. Manchmal hat sie sogar das Gefühl, dass wieder etwas wie ›Normalität‹ bei ihr eintritt. Dann übernimmt ihr Verstand die Regie und sie sagt sich, dass alles gut und richtig ist so, wie es eben ist: Jasmin ist perfekt, sie ist alles, was Sabrina gerne wäre und sie findet es angemessen, dass dieses Mädchen seine Freundin ist. Sie sieht die beiden auf dem Schulhof, erfreut sich an dem Anblick. Dann fragt sie sich, wie sie überhaupt so leiden konnte.
[ 5]Aber sobald er ihr begegnet, sie ansieht, womöglich sogar anlächelt, sind alle vernünftigen Gedanken dahin und der Aufruhr in ihrem Inneren ist mit unverminderter Heftigkeit wieder da.
[ 5]Sandras Kommentar: »Abwarten. Jasmin mag die Abwechslung.«
[ 5]Das ist leichter gesagt als getan. Warten, worauf? Sie ist nicht eifersüchtig auf Jasmin. Eifersucht würde ja Besitzdenken voraussetzen und Konkurrenz. Mit jemandem wie Jasmin kann sie aber nicht konkurrieren, das ist mal klar. Und wenn sie ihn schon nicht haben kann, so sagt sie sich, soll ihn wenigstens die Schönste von allen haben. Also kann sie unmöglich auf etwas warten. Sie versucht, das Geschenk zu würdigen, auf demselben Planeten zu leben wie Er, mehr noch: in dieselbe Schule zu gehen! Wenn sie selbst ein Junge wäre, wäre sie auch froh, wenn jemand wie Jasmin sie mögen würde. Und es sieht so aus, als hätte die sonst so flatterhafte Jasmin sich wirklich verliebt.
[ 5]Irgendwann – waren es Wochen, Monate, Jahre? – schlägt Sandra, scheinbar ohne weitere Einleitung, vor, gemeinsam Reitstunden zu nehmen. Sabrina kann es nicht fassen, dass sie ihr mit einem so profanen Vorschlag kommt, ihr, die sie verliebt ist! Sandra meint, der Kontakt mit einem Pferd würde ihr gut tun, außerdem wolle sie selbst es gerne lernen und hätte mehr Lust, zu zweit dorthin zu gehen. Sie hat schon eine Reitschule ausfindig gemacht und ihre Eltern davon überzeugt, dass sich die Investition für eine künftige Tierärztin lohnen würde.
[ 5]Sabrina kann sich nicht dafür erwärmen. Sie kann sich für gar nichts mehr begeistern außer für Ihn. So lebt sie die meiste Zeit quasi ›auf Autopilot‹, bis eines Tages eine unverhoffte Änderung eintritt: Nicht nur, dass sich die Clique um Frank und Jasmin auf dem Pausenhof geteilt hat und die beiden in verschiedenen Gruppen stehen, nein: Als die Schule aus ist, sieht es so aus, als warte Frank am Fahrradständer nicht auf Jasmin, sondern auf sie, Sabrina!