15 (Kriminalnovelle) - 11. Härte

xavia

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11. Härte

Rutger war ein sehr kreatives Kind, der ganze Stolz seiner Eltern, die viele Jahre vergebens auf die Geburt ihres ersten Kindes hatten warten müssen. Er verwendete alles, was er im Haushalt finden konnte, um damit Musik zu machen. Stundenlang konnte er herumsitzen mit seinem selbst gebastelten Orchester und dazu selbst erfundene Lieder singen. Gerne half er seiner Mutter beim Kochen und kannte bald all ihre Gewürze beim Namen. Sein Vater konnte mit einem kleinen Kind nicht so recht umgehen, wartete darauf, dass sein Sohn älter werden würde und überließ alles seiner Frau.
[ 5]In der Schule erwies der Junge sich als sehr begabt. Allerdings interessierten ihn die Spiele seiner Mitschülerinnen mehr als die der Jungs in seiner Klasse. Auch für die Vorschläge seines Vaters, Angeln zu gehen, sich Fußballspiele anzusehen oder gar ein Wochenende mit Zelt in der Wildnis zu verbringen konnte er sich nicht begeistern. Es gefiel ihm gar nicht, sich schmutzig zu machen oder mit Insekten in Berührung zu kommen.
[ 5]Viel zu spät merkte Rutger, dass sein Vater sich von ihm zurückgezogen hatte. Er beobachtete, dass seine Klassenkameraden am Montag von Dingen berichteten, die sie mit ihren Vätern unternommen hatten und ihm wurde klar, dass bei ihm zu Hause etwas anders war.
[ 5]Kinder sehen ihren Eltern ähnlich, damit es denen leicht fällt, sie liebzuhaben. Rutger wusste nichts davon, dieses Wissen hätte ihm aber auch nichts genutzt: Er sah nicht nur Mutter und Vater nicht ähnlich, es gab in der gesamten Familie, weder auf der väterlichen noch auf der mütterlichen Linie, irgendwelche Verwandten, die ihm auch nur entfernt ähneln: Er hatte weißblonde Haare und blaue Augen, eine helle Haut und einen weichen Körper. Seine Bewegungen waren anmutig, eher wie die eines Mädchens.
[ 5]Je mehr sein Vater sich von ihm zurückzog, desto mehr litt Rutger unter der Distanz und wollte ihm nun ähnlicher werden. Er hätte mit zwölf wahrscheinlich sogar ein Wochenende im Wald ertragen, aber dieser Zug war bereits abgefahren: Sein Vater beschränkte den Kontakt mit seinem Sohn auf das Nötigste und das waren Vorschriften und Regeln – Schikanen, wie Rutger fand.
[ 5]»Sei ein Mann!«, riet ihm sein Opa, den er um Rat fragte. »Du siehst aus wie ein Mädchen, benimm dich nicht auch noch wie eines.« Harte Worte. Sein Opa hatte gut reden, der war im Krieg gewesen und ein richtiger Haudegen. Mit dem legte sich keiner an.
[ 5]Rutger war ratlos: Wie sollte er ein ›Mann‹ werden? Seine Mutter erzählte ihm, dass sie sich in seinen Vater verliebt habe, als er in einer Uniform vor ihr stand. Auch ihr Bruder sei als Mann vom Wehrdienst zurückgekommen. Also hoffte er darauf, dass das Soldatenleben ihm zeigen würde, wie er zu dem werden könnte, was sein Vater erwartete. Das Kochen und das Musizieren lehnte er nun ab. Es gehörte in die andere, die mütterliche Welt, die er hinter sich lassen wollte. Auch die Schule machte ihm keine Freude mehr. Das Lernen fiel ihm zwar leicht, aber es gab dort nichts, worauf er stolz sein konnte. Sein Vater hatte kein gutes Wort für gute Noten. Er würdigte die Zeugnisse seines Sohnes kaum eines Blickes, hatte er doch selbst in der Schule nicht so viel Erfolg gehabt.
[ 5]Rutgers Klassenlehrerin schlug vor, ihn eine Klasse überspringen zu lassen, damit er sich nicht langweile und die Eltern waren einverstanden: Dem Vater war es egal und die Mutter war mächtig stolz auf ihren klugen Sohn. Dadurch hatte Rutger die Mittlere Reife ein Jahr früher und zum Entsetzen von Mutter und Lehrpersonal, die ihn schon an der Universität gesehen hatten, entschied er, dass die Schule damit für ihn vorbei sei und er jetzt eine Lehre machen wolle, um Schlachtermeister zu werden. Dieser Beruf erschien ihm im zarten Alter von fünfzehn als Inbegriff der Macht und Männlichkeit. Er zog in ein Lehrlingswohnheim nach Hannover, wo er ein neues Leben als ›Mann‹ beginnen wollte, denn die Erwartungen des Vaters hatte er nun verinnerlicht und hielt sie für seine eigenen.

[ 5]Im Wohnheim fühlte Rutger sich zum ersten Mal angenommen. Keiner wusste von seinen häuslichen Nöten und niemand hielt ihn für den Überflieger, der er in der Schule gewesen ist. Lediglich der Altersunterschied war ein kleines Hindernis, das er aber klug zu vertuschen wusste. Einmal hätten die Freunde dort fast seine Fassade neuen Selbstwertgefühls eingerissen, als er sie zu einem Ausflug in seine Heimatstadt Varel mitgenommen hatte. Sie standen am Bahnhof und fanden den Ort ziemlich öde, was Rutger verunsicherte. Als dann ein Mädel allein dort herumirrte, kam irgendeiner auf die Idee, dass sie ›flachgelegt werden müsse‹. Rutger durchschaute das Spiel nicht. Es wurde herumgealbert, zuerst scheinbar jeder gegen jeden, aber dann geriet er irgendwie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe und hörte sich sagen, dass das für ihn überhaupt kein Problem sei, notfalls mit Gewalt. Danach gab es kein Zurück mehr, alle blickten auf ihn. Auf keinen Fall wollte er erleben, dass sie ihn so ansehen, wie sein Vater und sein Großvater das getan hatten. Er dachte nicht darüber nach, dass es mehr Mut erfordert hätte, einen Rückzieher zu machen als den Provokationen seiner Freunde nachzukommen. Also tat er, was nötig war, um diese Bewährungsprobe zu bestehen. Er zog mit ihr los, hatte ein leichtes Spiel, denn sie war naiv und unerfahren. Es war so einfach gewesen, sie einzuschüchtern. Aber es war überhaupt kein Spaß für ihn gewesen. Sie hatte ihm leidgetan. Er wollte nicht mehr daran denken.
 

FrankK

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Hallo, Xavia
Es folgt der Aufklärungsteil, aufgesplittet in drei Abschnitte, hier wird zunächst die Geschichte und der Character Rutgers in drei Szenen beleuchtet.

Erzählperspektive:
Es erfolgt wieder ein Wechsel der Perspektive, der Leser ist nun auf die Figur Rutger ausgerichtet, konstant „personal auktorial“.

Figuren:
Hauptperson: Rutger, und bei ihm bleibt es eigentlich auch. Alle anderen Figuren interagieren nicht, von ihnen wird nur erzählt.

Sprache:
Angemessene Erzählsprache, kaum direkte Aktionen der Figur, nur ein Bericht darüber, wie er zu dem wurde was er war.

Spannungsbogen:
Gerade dies ist das Problem mit dem Bericht, hier wird überhaupt kein Spannungsbogen erzeugt, es wird ziemlich nüchtern „aufgeklärt“. Ein „Cliffhanger“ im Übergang zu diesem Kapitel wäre vielleicht sinnvoll gewesen. Später mehr dazu (im übernächsten Kapitel).

Szenendetails:
+ Szene 1: Kindheit

+ Szene 2: Schulzeit & Lehrlingswohnheim
Zu den jeweiligen Szeneninhalten gibt es nicht viel zu sagen, das ist aber nicht weiter schlimm.

+ Szene 3: Sabrina
Das Du in diesem Abschnitt bereits mit Sabrina kommst, hätte ich nicht erwartet, ich hätte dies für den zweiten Abschnitt über Rutger erwartet.

Allgemeines:
Hier fällt es mir besonders auf: Die Anderen haben Rutger überrumpelt, Sabrina „flach zu legen“, keiner verfolgt aber das weitere Geschehen? Überzeugt sich davon, dass „der Neue“ es auch tatsächlich macht?

Erbsenzählerei:
[blue]Kinder sehen ihren Eltern ähnlich, damit es denen leicht fällt, sie liebzuhaben[/blue]. Rutger wusste nichts davon, dieses Wissen hätte ihm aber auch nichts genutzt: Er sah nicht nur Mutter und Vater nicht ähnlich, es gab in der gesamten Familie, weder auf der väterlichen noch auf der mütterlichen Linie, irgendwelche Verwandten, die ihm auch nur entfernt ähneln:
Duden behauptet hartnäckig: „lieb zu haben“
Insgesamt klingt dieser Passus zu sehr nach „Lehrbuch“, passt nicht ganz in die Erzählsprache. Ich würde es weniger „akademisch“ einleiten.


Grüßend
Frank
 

xavia

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11. Härte

Rutger war ein sehr kreatives Kind, der ganze Stolz seiner Eltern, die viele Jahre vergebens auf die Geburt ihres ersten Kindes hatten warten müssen. Er verwendete alles, was er im Haushalt finden konnte, um damit Musik zu machen. Stundenlang konnte er herumsitzen mit seinem selbst gebastelten Orchester und dazu selbst erfundene Lieder singen. Gerne half er seiner Mutter beim Kochen und kannte bald all ihre Gewürze beim Namen. Sein Vater konnte mit einem kleinen Kind nicht so recht umgehen, wartete darauf, dass sein Sohn älter werden würde und überließ alles seiner Frau.
[ 5]In der Schule erwies der Junge sich als sehr begabt. Allerdings interessierten ihn die Spiele seiner Mitschülerinnen mehr als die der Jungs in seiner Klasse. Auch für die Vorschläge seines Vaters, Angeln zu gehen, sich Fußballspiele anzusehen oder gar ein Wochenende mit Zelt in der Wildnis zu verbringen konnte er sich nicht begeistern. Es gefiel ihm gar nicht, sich schmutzig zu machen oder mit Insekten in Berührung zu kommen.
[ 5]Viel zu spät wurde Rutger bewusst, dass sein Vater sich von ihm zurückgezogen hatte. Er beobachtete, dass seine Klassenkameraden am Montag von Dingen berichteten, die sie mit ihren Vätern unternommen hatten und ihm wurde klar, dass bei ihm zu Hause etwas anders war. Je mehr sein Vater sich von ihm zurückzog, desto mehr litt Rutger unter der Distanz und wollte ihm nun ähnlicher werden. Er hätte mit zwölf wahrscheinlich sogar ein Wochenende im Wald ertragen, aber dieser Zug war bereits abgefahren: Sein Vater beschränkte den Kontakt mit seinem Sohn auf das Nötigste und das waren Vorschriften und Regeln – Schikanen, wie Rutger fand.
[ 5]Der Junge war nun sehr unzufrieden mit seinem Aussehen. Niemand in seiner Familie hatte so hellblonde Haare, so hellblaue Augen, eine so zarte Haut und einen so weichen Körper. Seine Bewegungen waren anmutig, eher wie die eines Mädchens.
[ 5]»Sei ein Mann!«, riet ihm sein Opa, den er um Rat fragte. »Du siehst aus wie ein Mädchen, benimm dich nicht auch noch wie eines.« Harte Worte. Sein Opa hatte gut reden, der war im Krieg gewesen und ein richtiger Haudegen. Mit dem legte sich keiner an.
[ 5]Rutger war ratlos: Wie sollte er ein ›Mann‹ werden? Seine Mutter erzählte ihm, dass sie sich in seinen Vater verliebt habe, als er in einer Uniform vor ihr stand. Auch ihr Bruder sei als ›Mann‹ vom Wehrdienst zurückgekommen. Also hoffte er darauf, dass das Soldatenleben ihm zeigen würde, wie er zu dem werden könnte, was sein Vater erwartete. Das Kochen und das Musizieren lehnte er nun ab. Es gehörte in die andere, die mütterliche Welt, die er hinter sich lassen wollte. Auch die Schule machte ihm keine Freude mehr. Das Lernen fiel ihm zwar leicht, aber es gab dort nichts, worauf er stolz sein konnte. Sein Vater hatte kein gutes Wort für gute Noten. Er würdigte die Zeugnisse seines Sohnes kaum eines Blickes, hatte er doch selbst in der Schule nicht so viel Erfolg gehabt.
[ 5]Rutgers Klassenlehrerin schlug vor, ihn eine Klasse überspringen zu lassen, damit er sich nicht langweile und die Eltern waren einverstanden: Dem Vater war es egal und die Mutter war mächtig stolz auf ihren klugen Sohn. Dadurch hatte Rutger die Mittlere Reife ein Jahr früher und zum Entsetzen von Mutter und Lehrpersonal, die ihn schon an der Universität gesehen hatten, entschied er, dass die Schule damit für ihn vorbei sei und er jetzt eine Lehre machen wolle, um Schlachtermeister zu werden. Dieser Beruf erschien ihm im zarten Alter von fünfzehn als Inbegriff der Macht und Männlichkeit. Er zog in ein Lehrlingswohnheim nach Hannover, wo er ein neues Leben als ›Mann‹ beginnen wollte, denn die Erwartungen des Vaters hatte er nun verinnerlicht und hielt sie für seine eigenen.

Im Wohnheim fühlte Rutger sich zum ersten Mal angenommen. Keiner wusste von seinen häuslichen Nöten und niemand hielt ihn für den Überflieger, der er in der Schule gewesen war. Lediglich der Altersunterschied war ein kleines Hindernis, das er aber klug zu vertuschen wusste. Einmal hätten die Freunde dort fast seine Fassade neuen Selbstwertgefühls eingerissen, als er sie zu einem Ausflug in seine Heimatstadt Varel mitgenommen hatte. Sie standen am Bahnhof und fanden den Ort ziemlich öde, was Rutger verunsicherte. Als dann ein Mädel allein dort herumirrte, kam irgendeiner auf die Idee, dass sie ›flachgelegt werden müsse‹. Rutger durchschaute das Spiel nicht. Es wurde herumgealbert, zuerst scheinbar jeder gegen jeden, aber dann geriet er irgendwie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe und hörte sich sagen, dass das für ihn überhaupt kein Problem sei, notfalls mit Gewalt. Danach gab es kein Zurück mehr, alle blickten auf ihn. Auf keinen Fall wollte er erleben, dass sie ihn so ansehen, wie sein Vater und sein Großvater das getan hatten. Er dachte nicht darüber nach, dass es mehr Mut erfordert hätte, einen Rückzieher zu machen als den Provokationen seiner Freunde nachzukommen. Also tat er, was nötig war, um diese Bewährungsprobe zu bestehen. Er zog mit ihr los, hatte ein leichtes Spiel, denn sie war naiv und unerfahren. Es war so einfach gewesen, sie einzuschüchtern. Aber es war überhaupt kein Spaß für ihn gewesen. Sie hatte ihm leid getan. Er wollte nicht mehr daran denken.
 

xavia

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Hallo Frank,

deine Bemerkung zum gewünschten Cliffhanger werde ich später überdenken, die finde ich gerade nicht. Ich verarbeite deine Bemerkungen am Schluss, sobald ich sie erreicht habe.

In Rutgers Geschichte brauche ich doch keine Spannung, oder? Allenfalls die, welche Rolle er in den vorigen Geschichten spielt. Deswegen beginne ich schon mit dem Hinweis auf Sabrina.

Ob Rutgers Freunde das Geschehen verfolgen oder nicht ist weder aus Sabrinas noch aus Rutgers Sicht wichtig, deswegen bin ich nicht darauf eingegangen. Wenn sie zusehen, dann im Verborgenen. Sabrina denkt nun kurz daran.

Den »akademischen« Ausflug zu den Kindern, die ihren Eltern ähneln habe ich nun gestrichen.

Dankend und grüßend
Xavia.
 

xavia

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11. Härte

Rutger war ein sehr kreatives Kind, der ganze Stolz seiner Eltern, die viele Jahre vergebens auf die Geburt ihres ersten Kindes hatten warten müssen. Er verwendete alles, was er im Haushalt finden konnte, um damit Musik zu machen. Stundenlang konnte er herumsitzen mit seinem selbst gebastelten Orchester und dazu selbst erfundene Lieder singen. Gerne half er seiner Mutter beim Kochen und kannte bald all ihre Gewürze beim Namen. Sein Vater konnte mit einem kleinen Kind nicht so recht umgehen, wartete darauf, dass sein Sohn älter werden würde und überließ alles seiner Frau.
[ 5]In der Schule erwies der Junge sich als sehr begabt. Allerdings interessierten ihn die Spiele seiner Mitschülerinnen mehr als die der Jungs in seiner Klasse. Auch für die Vorschläge seines Vaters, Angeln zu gehen, sich Fußballspiele anzusehen oder gar ein Wochenende mit Zelt in der Wildnis zu verbringen konnte er sich nicht begeistern. Es gefiel ihm gar nicht, sich schmutzig zu machen oder mit Insekten in Berührung zu kommen.
[ 5]Viel zu spät wurde Rutger bewusst, dass sein Vater sich von ihm zurückgezogen hatte. Er beobachtete, dass seine Klassenkameraden am Montag von Dingen berichteten, die sie mit ihren Vätern unternommen hatten und ihm wurde klar, dass bei ihm zu Hause etwas anders war. Je mehr sein Vater sich von ihm zurückzog, desto mehr litt Rutger unter der Distanz und wollte ihm nun ähnlicher werden. Er hätte mit zwölf wahrscheinlich sogar ein Wochenende im Wald ertragen, aber dieser Zug war bereits abgefahren: Sein Vater beschränkte den Kontakt mit seinem Sohn auf das Nötigste und das waren Vorschriften und Regeln – Schikanen, wie Rutger fand.
[ 5]Der Junge war nun sehr unzufrieden mit seinem Aussehen. Niemand in seiner Familie hatte so hellblonde Haare, so hellblaue Augen, eine so zarte Haut und einen so weichen Körper. Seine Bewegungen waren anmutig, eher wie die eines Mädchens.
[ 5]»Sei ein Mann!«, riet ihm sein Opa, den er um Rat fragte. »Du siehst aus wie ein Mädchen, benimm dich nicht auch noch wie eines.« – Harte Worte. Sein Opa hatte gut reden, der war im Krieg gewesen und ein richtiger Haudegen. Mit dem legte sich keiner an.
[ 5]Rutger war ratlos: Wie sollte er ein ›Mann‹ werden? Seine Mutter erzählte ihm, dass sie sich in seinen Vater verliebt habe, als er in einer Uniform vor ihr stand. Auch ihr Bruder sei als ›Mann‹ vom Wehrdienst zurückgekommen. Also hoffte er darauf, dass das Soldatenleben ihm zeigen würde, wie er zu dem werden könnte, was sein Vater erwartete. Das Kochen und das Musizieren lehnte er nun ab. Es gehörte in die andere, die mütterliche Welt, die er hinter sich lassen wollte. Auch die Schule machte ihm keine Freude mehr. Das Lernen fiel ihm zwar leicht, aber es gab dort nichts, worauf er stolz sein konnte. Sein Vater hatte kein gutes Wort für gute Noten. Er würdigte die Zeugnisse seines Sohnes kaum eines Blickes, hatte er doch selbst in der Schule nicht so viel Erfolg gehabt.
[ 5]Rutgers Klassenlehrerin schlug vor, ihn eine Klasse überspringen zu lassen, damit er sich nicht langweile und die Eltern waren einverstanden: Dem Vater war es egal und die Mutter war mächtig stolz auf ihren klugen Sohn. Dadurch hatte Rutger die Mittlere Reife ein Jahr früher und zum Entsetzen von Mutter und Lehrpersonal, die ihn schon an der Universität gesehen hatten, entschied er, dass die Schule damit für ihn vorbei sei und er jetzt eine Lehre machen wolle, um Schlachtermeister zu werden. Dieser Beruf erschien ihm im zarten Alter von fünfzehn als Inbegriff der Macht und Männlichkeit. Er zog in ein Lehrlingswohnheim nach Hannover, wo er ein neues Leben als ›Mann‹ beginnen wollte, denn die Erwartungen des Vaters hatte er nun verinnerlicht und hielt sie für seine eigenen.

Im Wohnheim fühlte Rutger sich zum ersten Mal angenommen. Keiner wusste von seinen häuslichen Nöten und niemand hielt ihn für den Überflieger, der er in der Schule gewesen war. Lediglich der Altersunterschied war ein kleines Hindernis, das er aber klug zu vertuschen wusste. Einmal hätten die Freunde dort fast seine Fassade neuen Selbstwertgefühls eingerissen, als er sie zu einem Ausflug in seine Heimatstadt Varel mitgenommen hatte. Sie standen am Bahnhof und fanden den Ort ziemlich öde, was Rutger verunsicherte. Als dann ein Mädel allein dort herumirrte, kam irgendeiner auf die Idee, dass sie ›flachgelegt werden müsse‹. Rutger durchschaute das Spiel nicht. Es wurde herumgealbert, zuerst scheinbar jeder gegen jeden, aber dann geriet er irgendwie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe und hörte sich sagen, dass das für ihn überhaupt kein Problem sei, notfalls mit Gewalt. Danach gab es kein Zurück mehr, alle blickten auf ihn. Auf keinen Fall wollte er erleben, dass sie ihn so ansehen, wie sein Vater und sein Großvater das getan hatten. Er dachte nicht darüber nach, dass es mehr Mut erfordert hätte, einen Rückzieher zu machen als den Provokationen seiner Freunde nachzukommen. Also tat er, was nötig war, um diese Bewährungsprobe zu bestehen. Er zog mit ihr los, hatte ein leichtes Spiel, denn sie war naiv und unerfahren. Es war so einfach gewesen, sie einzuschüchtern. Aber es war überhaupt kein Spaß für ihn gewesen. Sie hatte ihm leid getan. Er wollte nicht mehr daran denken.
 



 
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