xavia
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3. Ausflug
Es war so einfach: Sabrinas Mutter hat die Reitstunden genehmigt und die Nacht bei Sandra ebenfalls. Für Sabrinas Geschmack ist die Freude ihrer Mutter ziemlich übertrieben. Es war überhaupt nicht nötig, zu argumentieren: Sie sei ihr in letzter Zeit so abwesend erschienen und brauchte doch dringend ein Hobby neben der Schule, die Reitstunden seien genau das Richtige für sie! Ob sie Paula nicht auch mitnehmen wollten? – Nein, das wollten sie nicht, hat Sandra ihr versichert, das sei eine Sache unter Freundinnen.
[ 5]Nach dem Mittagessen holt Sandra sie ab und Sabrina macht sich mit einer gepackten Sporttasche unter den üblichen Ermahnungen ihrer Mutter auf den Weg. Die Freundin wünscht ihr an der nächsten Straßenecke viel Spaß und verschwindet. Sabrina ist allein. Sie kann es immer noch nicht glauben, dass sie das hier wirklich tut. Zwei Straßen weiter erreicht sie mit klopfendem Herzen den verabredeten Treffpunkt noch vor dem VW-Bus, der aber nicht lange auf sich warten lässt.
[ 5]Mit quietschenden Reifen und lauter Musik, die aus den heruntergekurbelten Fenstern dringt, hält er direkt neben ihr, die seitliche Schiebetür öffnet sich und Frank springt heraus. Er umarmt sie liebevoll unter den johlenden Anfeuerungen der Insassen. Ein Kuss wäre angemessen gewesen, aber sie haben sich noch nie geküsst und hier, vor aller Augen, wäre es Sabrina auch nicht angenehm. Er merkt das und hilft ihr, ihre Sporttasche zu verstauen.
[ 5]Hinten im Wagen gibt es keine Sitze, alle kauern auf Matratzen und nehmen Sabrina gut gelaunt in Empfang. Der fehlende Begrüßungskuss ist schnell vergessen. Der Beifahrer reckt mühsam seine Hand nach hinten, um die ihre kraftvoll zu schütteln: »Hallo, ich bin Daniel und dieser hier ist Butch.« Der erwähnte Fahrer grinst ihr zu, präsentiert eine Zahnlücke. Er ist älter als die anderen, hat als einziger einen Bart und einen Führerschein und genießt deswegen höchstes Ansehen. Mit seiner Jeans-Weste mit ausgefransten Armlöchern und einem goldenen Ring im Ohr sieht er ziemlich verwegen aus.
[ 5]Aus dem Kassettenradio erklingt ›Eye of the Tiger‹ von Survivor, Pepe singt mit und sieht Sabrina dabei in die Augen. Er ist ein kleiner drahtiger Typ mit lustig blitzenden braunen Augen und rabenschwarzem Haar. Sie findet es mutig von ihm, so laut zu singen. Sabrina kennt alle bisher nur vom Sehen und versucht nun, die Namen zu rekapitulieren, die sie gerade gehört hat. Timo ist ein hübscher blondgelockter Sport-Typ, Katrin eine stark geschminkte mollige Brünette mit schwarzen Stiefeletten und einer schwarzen Strumpfhose unter hellblauen Hot Pants. Sabrina fühlt sich, ungeschminkt und unauffällig gekleidet, sofort unterlegen. Sie versucht, diese Gedanken zu verscheuchen: Heute will sie nicht über ihren Wert und ihre Wirkung nachdenken sondern das Leben genießen. Immerhin hat Frank sie eingeladen, sie und keine andere. Von der Kassette ertönt ›Heart of Gold‹: So muss Leben sein! Die fünf machen es sich so gut es geht auf den Matratzen bequem, einige große Kissen und Wolldecken helfen dabei, sich gegen die kalten Außenwände und die Ladung zu polstern. Sabrina kuschelt sich an Frank und ist glücklich.
[ 5]Pepe trinkt seine Flasche leer, verstaut sie in einem der Kästen, zieht zwei neue heraus und bietet ihr eine an.
[ 5]»Nein, danke, im Moment nicht«, weicht Sabrina seinem Angebot aus: Die trinken schon am Nachmittag? Jetzt fällt ihr auf, dass jeder eine Flasche Bier hat. – Sollte Sandra doch Recht behalten? Sabrina fühlt sich ein wenig beklommen und trinkt einen Schluck aus Franks Flasche, um nicht als Spaßbremse dazustehen. Sie unterdrückt den Impuls, sich zu schütteln: Bier ist definitiv ein grausiges Gebräu! Wie können die das nur mögen? Aber dann zieht die Musik sie wieder in ihren Bann, die aus allen vier Ecken des Busses dringt. Daniel, der Beifahrer, erklärt ihr, dass sie sich unter den Decken verstecken müssen, falls sie kontrolliert werden, weil der Wagen hinten nicht für Fahrgäste zugelassen ist und dass sie die Vorhänge zugezogen lassen sollen.
[ 5]»Geht klar, wir werden mucksch-mäusch-schen-still sein«, lallt Katrin spaßeshalber.
[ 5]›Weia‹, denkt Sabrina, ›wo bin ich hier nur hineingeraten?‹ Sie wäre lieber mit Frank allein gewesen als mit dieser wilden Meute unterwegs zu sein. Aber besser so als gar nicht.
[ 5]Es gibt keine Verkehrskontrolle und so erreichen sie ausgelassen und unkontrolliert ihr Ziel. Butch hält auf einem Parkplatz, aber als Sabrina aussteigen will, hindern die anderen sie daran. Statt dessen kommen Daniel und Butch nach hinten.
[ 5]»Jetzt gehört der Strand den Spießern mit ihren Kindern und Hunden und die Strandkörbe gehören ihren Mietern. Unsere Zeit kommt, sobald die in ihre Quartiere abwandern. So lange bleiben wir hier«, belehrt Butch sie und greift nach einer Flasche. (Plopp!) »Es geht doch nichts über ein schönes Flasch Flens«, verkündet er, »ich hab' einiges aufzuholen, die erste Kiste ist ja schon fast leer.«
[ 5]Alle loben die Akustik in dem alten Bus und die Auswahl der Musik. Aus den Lautsprechern erklingt »I am sailing stormy waters to be near you, to be free.« Butch erzählt ihnen, wo der Bus schon überall gewesen ist. Nicht nur sein Opa, sondern auch seine Eltern sind damit bereits durch die Lande gereist: England, Frankreich, Italien, Norwegen, … Die Liste nimmt kein Ende. »Und die alte Karre hat niemals schlapp gemacht«, versichert er.
[ 5]So sitzen sie beisammen, hören Musik, plaudern, trinken und warten darauf, dass es dunkel wird. Als Butch endlich meint, dass die Zeit gekommen ist, zu den Strandkörben aufzubrechen, sind schon alle ziemlich betrunken. Katrin kann sich kaum auf den Beinen halten und wird von Pepe und Daniel gestützt. Butch greift sich eine volle Kiste Bier und gibt Timo eine Flasche Wodka. Sabrina ist entsetzt: Nun soll die Sauferei erst richtig losgehen?
[ 5]»Frank, ich will hier weg«, flüstert sie ihm zu.
[ 5]Erst tut er so, als höre er sie nicht, dann versucht er, sie zu beschwichtigen: »Ach komm, die sind okay, das wird schön in den Strandkörben!« Er hat nicht so viel getrunken wie die anderen, ihr Ansinnen scheint ihm aber ganz und gar nicht zu gefallen. – Wer weiß, vielleicht musste er die Freunde überreden, eine Fünfzehnjährige mitzunehmen?
[ 5]Pepe und Daniel haben Katrin in den Sand fallen lassen und schleifen nun ein paar Strandkörbe zusammen, kümmern sich nicht um die Sandmauern, die deren Besitzer angehäuft haben, sondern stellen die Körbe um die Bierkiste herum auf, so dass man gerade noch in den Kreis hineinschlüpfen kann.
[ 5]»Wie wollt ihr denn da den Sonnenuntergang sehen, wenn ihr euch so einigelt?«, fragt Sabrina und erntet schallendes Gelächter von allen; Frank lacht nur halb mit und blickt verlegen umher. Daniel schleppt Katrin zur Strandkorb-Burg und lässt sie in einen der Körbe fallen. Sofort greift sie nach der Wodka-Flasche, die Pepe ihr hinhält.
[ 5]Sabrina ist schockiert von der groben Fröhlichkeit in der Gruppe. So etwas ist ihr fremd, so etwas hat sie noch nie erlebt. Je länger sie bleiben würde, desto schlimmer könnte es werden. Sie hat Angst. Leise und um Fassung bemüht sagt sie »Ich hau' jetzt ab. Tschüß!«
[ 5]»Tschüß und gute Reise!«, grölen einige ihr hinterher und lachen, als sie den Strand hinunter zum Wasser läuft. Sie erwartet, dass Frank hinterherkommt, aber das tut er nicht. So ein Drückeberger! Sie sitzt eine Weile leise weinend am Strand im Sand und hört hinter sich das ausgelassene Grölen der Gruppe. Sie haben jetzt wieder ›Eye of the Tiger‹ laufen und singen fröhlich mit. Sabrina fühlt sich noch einsamer als sonst.
[ 5]Als ihr klar ist, dass niemand sie aus ihrem Schmollwinkel holen wird, überlegt sie, was Sandra tun würde: Sie könnte mit dem Zug nach Hause fahren, aber ob es hier einen Bahnhof gibt? Ihre Tasche ist noch im VW-Bus, aber ihr Geld hat sie in der Jackentasche, glücklicherweise. Langsam, zögerlich und in einem großen Bogen um die Strandkorb-Burg geht sie hinauf zur Straße.
[ 5]Vor dem Campingplatz ist eine Frau damit beschäftigt, einen großen Bollerwagen, in dem neben allerlei Strand-Utensilien auch ein kleines quengelndes Kind verstaut ist, zur Einfahrt zu zerren. Zwei weitere Kinder außerhalb des Gefährts nörgeln ebenfalls herum und ein Hund knurrt Sabrina misstrauisch an. Sie will schon ausweichen, da kommt ihr der Gedanke, dass die Frau ihr vielleicht weiterhelfen kann und sie nimmt allen Mut zusammen: »Entschuldigung, ich hätte da mal eine Frage …«, beginnt sie vorsichtig.
[ 5]Die Frau hält inne, zerrt den Hund zurück und sieht sie ungläubig an: »Was??«
[ 5]Tapfer fragt Sabrina nach dem Bahnhof. Erfährt, dass der in Varel ist. Die Frau weiß sogar, wo der Bus abfährt, obwohl sie, wie sie betont, noch nie damit gefahren ist. Die Haltestelle ist gleich vorne am Stand, man kann sie sehen.
[ 5]Ein kurzer Moment der Erleichterung, der Gedanke, es könne doch alles gut gehen, aber an der Haltestelle erwartet sie schon die nächste Enttäuschung: Der letzte Bus ist um halb sechs gefahren, der nächste fährt morgen um halb zehn. Niedergeschlagen macht sie sich zu Fuß auf den Weg. Sie geht in die Richtung, in die der Bus gefahren wäre, die Hauptstraße entlang, weg vom Strand. Irgendwann würde sie sicherlich in Varel ankommen, garantiert vor morgen um halb zehn. – Zu dumm, dass sie keine Ahnung hat, wie weit es ist! Sie traut sich nicht, jemanden zu fragen, hat Angst, dass der sie dann festhält. Sie sieht sicherlich nicht älter aus als sie ist und sollte hier nicht allein unterwegs sein. So hofft sie, nicht aufzufallen, läuft und läuft und läuft. Es dämmert, wird dunkel und für einen kurzen Moment kommt ihr der Sonnenuntergang wieder in den Sinn. Aber sie läuft weiter: Hier ist ohnehin nichts davon zu sehen: Häuser, Bäume, endlose Landstraße. Gelegentlich gibt es ein Schild, das Varel ankündigt. Die Zahl der Kilometer bis dorthin wird unmerklich kleiner. Autos fahren an ihr vorbei. Ihre Mutter hat ihr schlimme Dinge erzählt über böse Männer, die Anhalterinnen mitnehmen, also versucht sie, so auszusehen, als hätte sie alles im Griff.
[ 5]Nach stundenlangem Marsch erreicht sie Bahnschienen, die sie überquert und dann ist es nicht mehr schwierig, den Bahnhof zu finden: Man kann zwar nicht an den Schienen entlanggehen, weil es dort keinen Weg gibt, aber sie nimmt die Straßen, die sie am wenigsten von den Schienen wegführen und findet schließlich sogar ein Hinweisschild zum Bahnhof.
Es war so einfach: Sabrinas Mutter hat die Reitstunden genehmigt und die Nacht bei Sandra ebenfalls. Für Sabrinas Geschmack ist die Freude ihrer Mutter ziemlich übertrieben. Es war überhaupt nicht nötig, zu argumentieren: Sie sei ihr in letzter Zeit so abwesend erschienen und brauchte doch dringend ein Hobby neben der Schule, die Reitstunden seien genau das Richtige für sie! Ob sie Paula nicht auch mitnehmen wollten? – Nein, das wollten sie nicht, hat Sandra ihr versichert, das sei eine Sache unter Freundinnen.
[ 5]Nach dem Mittagessen holt Sandra sie ab und Sabrina macht sich mit einer gepackten Sporttasche unter den üblichen Ermahnungen ihrer Mutter auf den Weg. Die Freundin wünscht ihr an der nächsten Straßenecke viel Spaß und verschwindet. Sabrina ist allein. Sie kann es immer noch nicht glauben, dass sie das hier wirklich tut. Zwei Straßen weiter erreicht sie mit klopfendem Herzen den verabredeten Treffpunkt noch vor dem VW-Bus, der aber nicht lange auf sich warten lässt.
[ 5]Mit quietschenden Reifen und lauter Musik, die aus den heruntergekurbelten Fenstern dringt, hält er direkt neben ihr, die seitliche Schiebetür öffnet sich und Frank springt heraus. Er umarmt sie liebevoll unter den johlenden Anfeuerungen der Insassen. Ein Kuss wäre angemessen gewesen, aber sie haben sich noch nie geküsst und hier, vor aller Augen, wäre es Sabrina auch nicht angenehm. Er merkt das und hilft ihr, ihre Sporttasche zu verstauen.
[ 5]Hinten im Wagen gibt es keine Sitze, alle kauern auf Matratzen und nehmen Sabrina gut gelaunt in Empfang. Der fehlende Begrüßungskuss ist schnell vergessen. Der Beifahrer reckt mühsam seine Hand nach hinten, um die ihre kraftvoll zu schütteln: »Hallo, ich bin Daniel und dieser hier ist Butch.« Der erwähnte Fahrer grinst ihr zu, präsentiert eine Zahnlücke. Er ist älter als die anderen, hat als einziger einen Bart und einen Führerschein und genießt deswegen höchstes Ansehen. Mit seiner Jeans-Weste mit ausgefransten Armlöchern und einem goldenen Ring im Ohr sieht er ziemlich verwegen aus.
[ 5]Aus dem Kassettenradio erklingt ›Eye of the Tiger‹ von Survivor, Pepe singt mit und sieht Sabrina dabei in die Augen. Er ist ein kleiner drahtiger Typ mit lustig blitzenden braunen Augen und rabenschwarzem Haar. Sie findet es mutig von ihm, so laut zu singen. Sabrina kennt alle bisher nur vom Sehen und versucht nun, die Namen zu rekapitulieren, die sie gerade gehört hat. Timo ist ein hübscher blondgelockter Sport-Typ, Katrin eine stark geschminkte mollige Brünette mit schwarzen Stiefeletten und einer schwarzen Strumpfhose unter hellblauen Hot Pants. Sabrina fühlt sich, ungeschminkt und unauffällig gekleidet, sofort unterlegen. Sie versucht, diese Gedanken zu verscheuchen: Heute will sie nicht über ihren Wert und ihre Wirkung nachdenken sondern das Leben genießen. Immerhin hat Frank sie eingeladen, sie und keine andere. Von der Kassette ertönt ›Heart of Gold‹: So muss Leben sein! Die fünf machen es sich so gut es geht auf den Matratzen bequem, einige große Kissen und Wolldecken helfen dabei, sich gegen die kalten Außenwände und die Ladung zu polstern. Sabrina kuschelt sich an Frank und ist glücklich.
[ 5]Pepe trinkt seine Flasche leer, verstaut sie in einem der Kästen, zieht zwei neue heraus und bietet ihr eine an.
[ 5]»Nein, danke, im Moment nicht«, weicht Sabrina seinem Angebot aus: Die trinken schon am Nachmittag? Jetzt fällt ihr auf, dass jeder eine Flasche Bier hat. – Sollte Sandra doch Recht behalten? Sabrina fühlt sich ein wenig beklommen und trinkt einen Schluck aus Franks Flasche, um nicht als Spaßbremse dazustehen. Sie unterdrückt den Impuls, sich zu schütteln: Bier ist definitiv ein grausiges Gebräu! Wie können die das nur mögen? Aber dann zieht die Musik sie wieder in ihren Bann, die aus allen vier Ecken des Busses dringt. Daniel, der Beifahrer, erklärt ihr, dass sie sich unter den Decken verstecken müssen, falls sie kontrolliert werden, weil der Wagen hinten nicht für Fahrgäste zugelassen ist und dass sie die Vorhänge zugezogen lassen sollen.
[ 5]»Geht klar, wir werden mucksch-mäusch-schen-still sein«, lallt Katrin spaßeshalber.
[ 5]›Weia‹, denkt Sabrina, ›wo bin ich hier nur hineingeraten?‹ Sie wäre lieber mit Frank allein gewesen als mit dieser wilden Meute unterwegs zu sein. Aber besser so als gar nicht.
[ 5]Es gibt keine Verkehrskontrolle und so erreichen sie ausgelassen und unkontrolliert ihr Ziel. Butch hält auf einem Parkplatz, aber als Sabrina aussteigen will, hindern die anderen sie daran. Statt dessen kommen Daniel und Butch nach hinten.
[ 5]»Jetzt gehört der Strand den Spießern mit ihren Kindern und Hunden und die Strandkörbe gehören ihren Mietern. Unsere Zeit kommt, sobald die in ihre Quartiere abwandern. So lange bleiben wir hier«, belehrt Butch sie und greift nach einer Flasche. (Plopp!) »Es geht doch nichts über ein schönes Flasch Flens«, verkündet er, »ich hab' einiges aufzuholen, die erste Kiste ist ja schon fast leer.«
[ 5]Alle loben die Akustik in dem alten Bus und die Auswahl der Musik. Aus den Lautsprechern erklingt »I am sailing stormy waters to be near you, to be free.« Butch erzählt ihnen, wo der Bus schon überall gewesen ist. Nicht nur sein Opa, sondern auch seine Eltern sind damit bereits durch die Lande gereist: England, Frankreich, Italien, Norwegen, … Die Liste nimmt kein Ende. »Und die alte Karre hat niemals schlapp gemacht«, versichert er.
[ 5]So sitzen sie beisammen, hören Musik, plaudern, trinken und warten darauf, dass es dunkel wird. Als Butch endlich meint, dass die Zeit gekommen ist, zu den Strandkörben aufzubrechen, sind schon alle ziemlich betrunken. Katrin kann sich kaum auf den Beinen halten und wird von Pepe und Daniel gestützt. Butch greift sich eine volle Kiste Bier und gibt Timo eine Flasche Wodka. Sabrina ist entsetzt: Nun soll die Sauferei erst richtig losgehen?
[ 5]»Frank, ich will hier weg«, flüstert sie ihm zu.
[ 5]Erst tut er so, als höre er sie nicht, dann versucht er, sie zu beschwichtigen: »Ach komm, die sind okay, das wird schön in den Strandkörben!« Er hat nicht so viel getrunken wie die anderen, ihr Ansinnen scheint ihm aber ganz und gar nicht zu gefallen. – Wer weiß, vielleicht musste er die Freunde überreden, eine Fünfzehnjährige mitzunehmen?
[ 5]Pepe und Daniel haben Katrin in den Sand fallen lassen und schleifen nun ein paar Strandkörbe zusammen, kümmern sich nicht um die Sandmauern, die deren Besitzer angehäuft haben, sondern stellen die Körbe um die Bierkiste herum auf, so dass man gerade noch in den Kreis hineinschlüpfen kann.
[ 5]»Wie wollt ihr denn da den Sonnenuntergang sehen, wenn ihr euch so einigelt?«, fragt Sabrina und erntet schallendes Gelächter von allen; Frank lacht nur halb mit und blickt verlegen umher. Daniel schleppt Katrin zur Strandkorb-Burg und lässt sie in einen der Körbe fallen. Sofort greift sie nach der Wodka-Flasche, die Pepe ihr hinhält.
[ 5]Sabrina ist schockiert von der groben Fröhlichkeit in der Gruppe. So etwas ist ihr fremd, so etwas hat sie noch nie erlebt. Je länger sie bleiben würde, desto schlimmer könnte es werden. Sie hat Angst. Leise und um Fassung bemüht sagt sie »Ich hau' jetzt ab. Tschüß!«
[ 5]»Tschüß und gute Reise!«, grölen einige ihr hinterher und lachen, als sie den Strand hinunter zum Wasser läuft. Sie erwartet, dass Frank hinterherkommt, aber das tut er nicht. So ein Drückeberger! Sie sitzt eine Weile leise weinend am Strand im Sand und hört hinter sich das ausgelassene Grölen der Gruppe. Sie haben jetzt wieder ›Eye of the Tiger‹ laufen und singen fröhlich mit. Sabrina fühlt sich noch einsamer als sonst.
[ 5]Als ihr klar ist, dass niemand sie aus ihrem Schmollwinkel holen wird, überlegt sie, was Sandra tun würde: Sie könnte mit dem Zug nach Hause fahren, aber ob es hier einen Bahnhof gibt? Ihre Tasche ist noch im VW-Bus, aber ihr Geld hat sie in der Jackentasche, glücklicherweise. Langsam, zögerlich und in einem großen Bogen um die Strandkorb-Burg geht sie hinauf zur Straße.
[ 5]Vor dem Campingplatz ist eine Frau damit beschäftigt, einen großen Bollerwagen, in dem neben allerlei Strand-Utensilien auch ein kleines quengelndes Kind verstaut ist, zur Einfahrt zu zerren. Zwei weitere Kinder außerhalb des Gefährts nörgeln ebenfalls herum und ein Hund knurrt Sabrina misstrauisch an. Sie will schon ausweichen, da kommt ihr der Gedanke, dass die Frau ihr vielleicht weiterhelfen kann und sie nimmt allen Mut zusammen: »Entschuldigung, ich hätte da mal eine Frage …«, beginnt sie vorsichtig.
[ 5]Die Frau hält inne, zerrt den Hund zurück und sieht sie ungläubig an: »Was??«
[ 5]Tapfer fragt Sabrina nach dem Bahnhof. Erfährt, dass der in Varel ist. Die Frau weiß sogar, wo der Bus abfährt, obwohl sie, wie sie betont, noch nie damit gefahren ist. Die Haltestelle ist gleich vorne am Stand, man kann sie sehen.
[ 5]Ein kurzer Moment der Erleichterung, der Gedanke, es könne doch alles gut gehen, aber an der Haltestelle erwartet sie schon die nächste Enttäuschung: Der letzte Bus ist um halb sechs gefahren, der nächste fährt morgen um halb zehn. Niedergeschlagen macht sie sich zu Fuß auf den Weg. Sie geht in die Richtung, in die der Bus gefahren wäre, die Hauptstraße entlang, weg vom Strand. Irgendwann würde sie sicherlich in Varel ankommen, garantiert vor morgen um halb zehn. – Zu dumm, dass sie keine Ahnung hat, wie weit es ist! Sie traut sich nicht, jemanden zu fragen, hat Angst, dass der sie dann festhält. Sie sieht sicherlich nicht älter aus als sie ist und sollte hier nicht allein unterwegs sein. So hofft sie, nicht aufzufallen, läuft und läuft und läuft. Es dämmert, wird dunkel und für einen kurzen Moment kommt ihr der Sonnenuntergang wieder in den Sinn. Aber sie läuft weiter: Hier ist ohnehin nichts davon zu sehen: Häuser, Bäume, endlose Landstraße. Gelegentlich gibt es ein Schild, das Varel ankündigt. Die Zahl der Kilometer bis dorthin wird unmerklich kleiner. Autos fahren an ihr vorbei. Ihre Mutter hat ihr schlimme Dinge erzählt über böse Männer, die Anhalterinnen mitnehmen, also versucht sie, so auszusehen, als hätte sie alles im Griff.
[ 5]Nach stundenlangem Marsch erreicht sie Bahnschienen, die sie überquert und dann ist es nicht mehr schwierig, den Bahnhof zu finden: Man kann zwar nicht an den Schienen entlanggehen, weil es dort keinen Weg gibt, aber sie nimmt die Straßen, die sie am wenigsten von den Schienen wegführen und findet schließlich sogar ein Hinweisschild zum Bahnhof.