18. Visionen

Amadis

Mitglied
Sie hetzte durch den Wald, den kleinen Jungen an der Hand hinter sich herziehend. Ihr Atem ging stoßweise und immer wieder schaute sie sich um, obwohl es in der herrschenden Dunkelheit nahezu unmöglich war, die Verfolger zu sehen, bevor sie auf höchstens zwei oder drei Meter heran waren.
Immer wieder stolperte sie über loses Geäst und Buschwerk, den Kleinen mit sich reißend, raffte sich mühsam wieder auf und setzte die Flucht vor den Unheimlichen fort. Sie spürte die Nähe der Feinde, spürte, dass sie immer näher kamen.
Ihr Blick versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen, einen Fluchtweg zu finden oder ein sicheres Versteck – aber ein sicheres Versteck gab es vor diesen Verfolgern nicht!
Dann waren sie plötzlich da, drei finstere Gestalten, hoch aufgeschossen und Furcht erregend. Gesichter, die an finsteren Nebel erinnerten, keine Konturen hatten, unter Kapuzen kaum zu erkennen. Sie stellte sich zum Kampf, wusste um dessen Aussichtslosigkeit …

… und erwachte mit einem Aufschrei. Ruckartig richtete sich Ariste in ihrem Bett auf. Sie war schweißgebadet. Zitternd wischte sie sich über die Stirn. Erst dann gewahrte sie die kleine Gestalt, die neben ihrem Bett stand und sie besorgt anschaute.
„Hast du schlecht geträumt?“
Ariste versuchte ein Lächeln und nickte.
„Ja, sehr schlecht.“ Ihre Stimme klang belegt. „Warum schläfst du nicht?“
Sie setzte sich auf die Bettkante.
„Du hast geschrien!“ Mickel sah verstört aus. Ariste lächelte ihn beruhigend an.
„Keine Sorge!“ Sie strich über sein Haar. „Nur ein schlechter Traum. Leg dich wieder schlafen.“
Mickel nickte und als die Seherin einige Minuten später nach ihm schaute, schlief er bereits wieder tief und fest.
Ariste dachte nach. Dieser Traum war eindeutig eine Vision gewesen. Eine Vision, die ihr mehr Angst machte, als sie es Mickel gegenüber eingestehen würde.
Sie legte sich auf ihr Bett und konzentrierte sich. Sekunden später spürte sie, wie die Kraft des Apaethon sie durchströmte.
„Harbon!“ Ihre geistige Stimme durcheilte das Kraftfeld. Sie wartete eine Weile und wiederholte ihren Ruf.
„Ich höre dich, Seherin!“ Harbons Antwort schien mitten in ihrem Kopf zu entstehen. „Ist alles in Ordnung?“
„Dem Jungen geht es gut“, antwortete Ariste. „Aber ich hatte eine Vision, die mir Sorgen macht.“
Sie berichtete dem Zauberer von ihrem Traum. Der schwieg eine Weile.
„Ich kann nicht fort von hier. Wir müssen uns um die beiden Gefangenen kümmern. Aber ich versuche, dir Hilfe zu schicken!“
Ariste nickte unbewusst.
„In Ordnung“, gab sie dann zurück. „Ich warte noch einen Tag. Dann brechen wir zum Treffpunkt auf. Viel Glück für euch!“
„Für euch auch!“
Die Verbindung brach ab.
In der Feste von Shin Kalad öffnete Verline die Augen und lächelte zufrieden. Dann wandte sie sich der groß gewachsenen Gestalt zu, die ruhig neben ihr gewartet hatte.
„Du gehst auf die Jagd, mein alter Freund!“
Die Zauberin lächelte. Ihr Gegenüber stieß ein zufrieden klingendes Brummen aus.
„Sehr wohl, Herrin!“ Die Stimme war wie ein eiskalter Lufthauch, der einem Gesicht entsprang, das nur aus finsteren Nebelschwaden zu bestehen schien.
 
Uuh, die einzelnen Geschichtsfäden überschneiden sich jetzt auch in gruselig! :D

Ich muss trotzdem noch mal meckern:

Ihr Blick versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen, einen Fluchtweg zu finden oder ein sicheres Versteck – aber ein sicheres Versteck gab es vor diesen Verfolgern nicht!
Die Wortdoppelung finde ich hier nicht so schlimm, dafür klingt der Satz nach dem Bindestrich in meinen Ohren etwas ungelenk. Wie wäre es mit doch waren sie vor diesen Verfolgern nirgends sicher? Dir fällt bestimmt noch was Besseres ein ;)

Dann waren sie plötzlich da, drei finstere Gestalten, hoch aufgeschossen und Furcht erregend(e) Gesichter...
Mmh ich frage mich, wie die Gesichter Furcht einflößend sein können, wenn sie doch kaum unter den Kapuzen zu erkennen sind, oder ist das mehr eine Bauchsignalsache als eine Kopfsignalsache?


Herzliche Grüße
Julia
 

Amadis

Mitglied
Hallo Julia,

da schaue ich nochmal, was die erste Anmerkung betrifft.

Bei der zweiten hast Du nicht richtig gelesen:

Dann waren sie plötzlich da, drei finstere Gestalten, hoch aufgeschossen und Furcht erregend. Gesichter, die an finsteren Nebel erinnerten
Wie Du siehst, ist zwischen erregend und Gesichter ein Punkt. Das Furcht erregend bezieht sich auf die Gestalten. Im nächsten Satz erst werden die Gesichter beschrieben :).

LG Michael
 

FrankK

Mitglied
Hallo Amadis

Aufregende Zwischenepisode, die fast so bleiben könnte, wäre da nicht der Erbsenzähler:

Sie [blue]spürte[/blue] die [blue]Nähe[/blue] der Feinde, [blue]spürte[/blue], dass sie immer [blue]näher[/blue] kamen.
Nähe / näher, spürte / spürte, unschöne Dopplungen. Wie wäre es mit
Sie spürte die [blue]Anwesenheit[/blue] der Feinde, [blue]fühlte[/blue], dass sie immer näher kamen.

Dann waren sie plötzlich da, drei finstere Gestalten, hoch aufgeschossen und [blue]Furcht erregend[/blue].
Korrektur: furchterregend

Sie stellte sich zum Kampf, wusste um dessen Aussichtslosigkeit …
… und erwachte mit einem Aufschrei
Diese vielen besonderen Satzzeichen (Doppelpunkte, Gedankenstriche, Auslassungszeichen) empfinde ich Streckenweise als störend bzw. als ungewohnt. Okay, in diesem Kapitel gibt es nicht so viele davon, aber hier lässt sich exemplarisch am besten zeigen, dass es auch anders geht:
Sie stellte sich zum Kampf, wusste um dessen Aussichtslosigkeit.
Mit einem Schrei erwachte Ariste und richtete sich ruckartig in ihrem Bett auf, sie war schweißgebadet.


„Ich höre dich, Seherin!“ Harbons Antwort [blue]schien[/blue] mitten in ihrem Kopf zu entstehen. „Ist alles in Ordnung?“
Es ist Deine Geschichte, Du weißt ganz genau, wie das Apaethon funktioniert, Du darfst also konkret werden:
Harbons Antwort entstand mitten in ihrem Kopf.

Die Verbindung brach ab.
In der Feste von Shin Kalad öffnete Verline die Augen und lächelte zufrieden.
Hier gibt es einen drastischen Szenenwechsel, für meinen Geschmack wäre eine Leerzeile durchaus angemessen.


Aristes gefühlvolles Verhalten dem Jungen gegenüber hast Du sympatisch dargestellt, die kurze Umblendung auf Verline wirkt eindrucksvoll düster. Als Leser erfährt man bereits hier, dass die Verbindung über das Apaethon nicht mehr sicher ist.


Grüße aus Westfalen
Frank
 



 
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