pol shebbel
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(Und der Meister spricht weiter - er hört aber auch zu.)
Die Sonne stand brennend heiss an einem blankgeputzten Himmel; unter ihren Strahlen wurden alle Farben hell und leuchtend. Das Rot der Felsen kontrastierte mit dem dunklen Grün der Bäume, das trockene Gelb des Grases an den oberen Hängen mit dem saftigen Grün und den tausendfarbigen Blüten aller Arten von Kraut, das da und dort auf dem Grund des Tales um eine liegengebliebene Wasserpfütze herumwucherte. Für Parils Augen, bisher vor allem gedämpftes Grün gewohnt, war es entschieden zu viel - sie schmerzten schon nach kurzer Zeit; und doch war es schrecklich schön...
Ihr Aufenthalt in der Höhle hatte letztendlich über 5 Tage gedauert - viel zu lang, nach einmütiger Meinung. Seit dem heutigen Morgengrauen waren die Ausbrecher wieder auf ihrem Weg; auf dem Saumpfad, der auf halber Höhe am Hang klebte, folgten sie den Windungen der Schlucht. Es war der Weg nach Reibork-Uem, der südlichsten Stadt des Metallbundes - dort gedachten sie allerdings nicht hinzugehen. Zunächst würde er zu einem Pass, dem Iligchal-Pass, führen; und kurz vor dem Pass, etwa 50 Meilen südlich von Reibork-Uem, gab es, gemäss Shnoiw, eine Ortschaft, Iligchal Loemparl. Dies war der Ort, von dem sie die ganze Zeit gesprochen hatten; wie gesagt sollten dort Verwandte von ihm leben, und sie hofften, als dem Feind entronnene Gefangene fürs erste aufgenommen zu werden.
Und Paril - mangels Ideen, wo er sonst hin sollte - lief hinterher.
Bereits nach kurzer Zeit war die Ebene mit dem See ihren Blicken entschwunden gewesen; von allen Seiten umgaben sie reglose Bergriesen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen - weder Räuber noch Hochmeisterliche noch sonst jemand. Der Pfad wand sich mehr oder weniger Richtung Nordosten, mehr und mehr jedoch aufwärts. Und wieder machte Paril das ungewohnte Steigen zu schaffen; er war ziemlich langsam und meistens zuhinterst, zusammen mit dem wie ein Schatten aussehenden und sich ebenso bewegenden Temon. Es wurmte ihn etwas, dass selbst der Workash Kal besser zurechtzukommen schien als er - als Rechtfertigung konnte allenfalls die Tatsache dienen, dass Paril tatsächlich als einziger in der Gruppe keinerlei Gebirgserfahrung hatte.
Der Workash Kal nämlich war, wie er zu Parils Erstaunen erzählt hatte, in seiner Jugend manchmal durch diese Gegend gereist. Noch viel mehr erstaunliche Dinge hatte Paril inzwischen erfahren: nicht nur in den Bergen war Assing gewesen, sondern auch in anderen "ketzerhaften" Gegenden - in Onnikerr Ewshtrôm, wo es auch einen Sumpf gab wie am Fuss der Berge, welcher bei heiligen Handlungen, Beschwörungen, Voraussagen hinzugezogen wurde; weit im Süden in O'Reeaelgalbjn, dem "Räuberland", wo es gar keine Bäume gab und Herden von wilden Eseln durch das trockene Land galoppierten; ja, sogar in Zin-Âching war Assing gewesen. Zin-Âching hatte Paril besonders interessiert, denn von ihm war sowohl in seiner Jugend wie während des Krieges ständig die Rede gewesen, meistens in Form von Hasstiraden. Assing jedoch hatte dem Vorurteil, Zin-Âching sei ein Pfuhl des Lasters und der Unmoral und die Trockenheit sei die Strafe dafür, aufs schärfste widersprochen. Anschliessend hatte er die Dürrekatastrophe gemäss seiner Theorie "vom Standpunkt des Gegners aus" erklärt. Wenn man Pyramidalbäume fällte, so sagte er, dann fehlten erstens natürliche Wasserspeicher, zweitens ein vor der Sonne schützendes Blätterdach und drittens ein den Boden zusammenhaltendes Wurzelwerk. Das hatte zur Folge, dass es im Sommer unmenschlich heiss und regelmässig das Wasser knapp wurde - und genau dieses Problem wurde durch langanhaltende Trockenheit noch dramatisch verschärft - während umgekehrt jeder Regenguss den Boden unterspülte und fruchtbaren Humus wegschwemmte. Ssu und Kerr offenbarten ihre zerstörerische Gewalt; auf dem nackten Boden wuchs immer weniger; es wurde wie im "Räuberland", auf die Dauer unbewohnbar.
Paril war nie in Zin-Âching gewesen, deshalb hatte er den Bezug zur Realität nicht; aber das alles klang ihm genau wie Gedanken aus dem Grünen Buch, auf erstaunliche Weise in einfachen Worten ausgedrückt. Nur schon diese Leistung Assings war genial; und wiewohl sich Paril über sein Verhältnis zu Assing nicht ganz im klaren war - immer wieder ärgerte er sich über sich selbst, wenn er merkte, dass er wieder in die alte verklärende Anbetungshaltung zu fallen drohte - so liess er doch keine Gelegenheit aus, mehr zu erfahren. Im Moment freilich war ihm nicht sehr nach Denken zumute; das bisschen Energie, das er hatte, war aufs Steigen konzentriert. Im Grunde war es nicht sehr steil, es sah vollkommen unproblematisch aus - aber Stunde um Stunde immer steigen, das zermürbte. Dazu kam noch diese steile und gewaltige Landschaft, an die Paril sich nicht gewöhnen konnte - und die Angst vor Verfolgern, die einen hier oben von weitem sehen müssten. All diese Dinge traten allerdings im Laufe der Zeit vor dem schieren und handfesten Problem des Steigens zunehmend in den Hintergrund; das war auf eine Weise wieder ganz gut - und zumindest was die Verfolger anging, so hatte sich seit Tagen keiner von ihnen gezeigt.
Der Weg machte, dem Tal folgend, wieder eine Biegung. Paril hob erwartungsvoll den Kopf; war ihr Ziel schon nährgerückt? Aber hinter der Biegung sah es ähnlich - für Parils untrainierte Augen sogar haargenau gleich - aus wie vorher: man konnte den Weg nur ein Stück weit verfolgen, bis zur nächsten Biegung nämlich. Erst viel weiter entfernt war er wieder verfolgbar, wie er in engen Kurven an der steilen, den Horizont begrenzenden Felswand hinaufkroch. "Puh!" stöhnte Paril und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Ist das da oben eigentlich der Iligchal-Pass?"
Die Frage war an den stumm neben ihm hertrottenden Temon gerichtet. Dieser hob langsam den Blick und folgte Parils Augen. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf, wie es seine Art war. "Vergiss es - wir sind noch lange nicht da..."
"Brr..." Paril linste vorsichtig in Richtung Himmel und versuchte das aufkeimende Gefühl von Ohnmacht und Depression zu bekämpfen. Der Himmel war gleissend blau, und ein grosser Vogel zog in ihm seine Kreise. So schwindelnd hoch... Paril kniff die Augen zu und senkte den Kopf wieder. "Ah!" sagte er wenig später nach einem weiteren Blick auf den Weg. "Ich sehe, dass die anderen eine Pause machen. Sehr gute Idee. Sollte öfter sein, was?"
Aber Temon schüttelte wieder den Kopf. "No..." Seine Stimme war fast tonlos. "Es ist besser, nicht zu oft anzuhalten. Wenn man einmal sitzt, ist es schwerer, aufzustehen und weiterzulaufen, als wenn man sowieso schon auf den Beinen ist..."
"Ah..." brummte Paril etwas ärgerlich, "ich sehe schon, ich bin der ignorante Flachländer..." Temon gab keine Antwort mehr, sondern fuhr in seinem Trott fort; es war nicht ersichtlich, ob er Paril überhaupt gehört hatte - was diesen noch mehr verstimmte. Mehr denn je fühlte er sich als Fremdkörper, als nicht passend in dieser Welt. Was sollte er überhaupt hier? Zu schweigen davon, wie er sich erst unter Menschen fühlen würde - unter Menschen, die ja wohl alle diesen unbegreiflichen Dialekt sprachen?
Sie erreichten die Stelle, wo die anderen Rast machten - einen Platz etwas seitwärts vom Weg, durch Bäume etwas vor diesem verborgen; weiterhin galt es jede Möglichkeit auszunutzen, unbemerkt zu bleiben. Uemonni verteilte gerade winzige Essrationen. Die Vorräte der Höhle waren von ihnen schon über Gebühr genutzt worden, deshalb hatten sie nur wenig mitgenommen (sowieso würden sie die Kosten in Iligchal Loemparl zurückerstatten müssen). Andai grinste Paril ermunternd an. "Na, Babygesicht? Es scheint dir nicht so gut zu gehen. Fühlst dich nicht so wohl im verfluchten Land, wie?"
Assing blickte missbilligend auf. "Bêng Kal!" rief er in zurechtweisendem Tone - worauf Andai einmal mehr den Verwunderten spielte. "Was heisst da Bêng Kal? So sagt man doch im Pyramidalwald. Hier gibt es keine heiligen Bäume, also können die Leute nicht meditieren; somit können sie keine Verbindung mit dem Höchsten Wesen aufnehmen, folglich bleiben sie verflucht! Quintessenz also im Pyramidalwald: wir sind gut, alles andere gehört ins Meer geschmissen. Steht doch so im Grünen Buch, oder nicht?"
Der Workash Kal machte eine gequälte Armbewegung. "Er höre nicht auf ihn, Bêng Paril, er macht sich lustig über mich. Dabei weiss er sehr gut, dass ich mit derlei Reden, wenngleich sie in meinem Namen gehalten wurden, nie etwas zu tun hatte!"
"Ach... äh..." Paril blickte etwas verwirrt von einem zum anderen. "Ich... ich verstehe nicht ganz - aber ich würde mich glücklich schätzen, wenn Er es mir erklären könnte..." Gab es wieder einen kleinen Teil von Assings Weisheit zu erhaschen?
"Hmm? So, so", Assing zog eine Augenbraue hoch. "Ich hatte schon lange keine so aufmerksamen Zuhörer mehr... Nun denn, das Problem, das Bêng Andai angesprochen hat, ist, dass im Grünen Buch tatsächlich beinahe nur vom Pyramidalwald die Rede ist. Die Berge, das Südland, das Hinterbergland und so weiter werden überhaupt nicht oder nur am Rande erwähnt - auf jeden Fall niemals als Ônnigalbjn, als Ort, wo Menschen wohnen. Manche Schriftausleger ziehen nun daraus den Schluss, diese Gegenden seien minderwertig und die dort lebenden Menschen notwendigerweise schlecht. Aber genau das steht nicht im Grünen Buch, es ist eine Interpretation. Ausserdem bin ich durch die Berge und den Süden gereist, und die Leute, die ich traf, waren nicht schlechter oder besser als bei mir zu Hause - und dass es auch im Pyramidalwald schlechte und gemeine Menschen gibt, das wusste ich schon, bevor ich es am eigenen Leib erfuhr..." Ein kaum wahrnehmbares Zittern ging durch den Leib Assings, wie der Schatten einer unangenehmen Erinnerung.
"Nein, der Grund, warum diese Gegenden im Grünen Buch nicht erwähnt werden, liegt woanders. Das Grüne Buch ist schon alt; die älteste bekannte Abschrift ist über 400 Jahre alt, und schon vorher waren die Texte heilig und über Generationen mündlich überliefert worden. Und in den ganz alten Zeiten waren die Berge und der Süden unbewohnt - der altehrwürdige Metallbund existiert ja 'erst' seit 165 Jahren, und die ältesten Aufzeichnungen in dessen Städten datieren kaum 300 Jahre zurück. Da erscheint es mir nur logisch, dass im Grünen Buch nichts darüber steht!"
Paril starrte ihn mit offenem Mund an. So eine Erklärung wäre ihm nicht im Traum eingefallen! "Und... Er meint... wenn damals dort Menschen gelebt hätten..."
"Dann würde auch etwas im Grünen Buch stehen. Ganz gewiss! Natürlich nicht dasselbe wie über Ssai, das ist klar. Aber ganz eindeutig ist auch der Süden ein lebendes Wesen; auch der Wald hier in den Bergen ist lebendig und hat eine Seele genau wie Ssai, der Pyramidalwald. Die Berge, die Savanne im Süden, das Hinterbergland, selbst das Räuberland, sind genau wie Ssai Glieder des Höchsten Wesens, die man nicht verachten sollte..."
So etwas! Parils Mund blieb offen stehen, während er versuchte, den Gedanken nachzuvollziehen. Es war so naheliegend und so einleuchtend - warum, verschimmelt noch mal, war das nicht schon längst jemandem eingefallen?! Klar, auch der Bergwald war ein lebendes Wesen - das war bekannt; aber ihn mit Ssai zu vergleichen, wäre in Parils Heimat niemandem in den Sinn gekommen. Die Welt der Menschen war der Pyramidalwald, und alles ausserhalb war am Rande, unbedeutend, marginal - das war das unumstössliche Weltverständnis. Und da kam dieser Assing daher und hob den Bergwald auf dieselbe Stufe - sich vorzustellen, dass für die Menschen in den Bergen der Pyramidalwald am Rande lag - das war, als stellte sich die Welt auf den Kopf! Zum Schwindligwerden...
Ein leichter Stups Uemonnis, welcher Paril eine Handwurzknolle hinhielt, beendete die schwierigen Gedankengänge fürs erste. Es war zu wenig zu essen und zu wenig zu trinken, natürlich; aber dennoch war es ungleich viel besser als am Anfang ihrer Flucht...
Kurze Zeit später ging das Steigen weiter. Die Sonne näherte sich dem Zenit, und die Wanderer waren nass vor Schweiss; dies, obwohl die Luft - für den nicht weitgereisten Paril unerklärlicherweise - deutlich kühler war als unten, was sie beim Rasten im Schatten beinahe empfindlich gespürt hatten. Das Tal wurde enger, im Grund unten wuchsen massenhaft niedrige, dunkelgrüne Sträucher mit rosaroten, rosenähnlichen Blüten. Einmal fuhr Paril der Schreck durch die Glieder - jemand bewegte sich im Tal unten! Aber es war nur ein Tier, eine krummhornige, behende kletternde Bergziege. Wenig später sahen sie wieder eine Ziege, und danach noch ein paarmal. Einmal sahen sie sogar eine grosse, hochbeinige Antilope mit langen, spiralförmig gewundenen Hörnern. Es war ein respekteinflössender Anblick, ganz besonders für Paril, der solch ein Tier noch nie gesehen hatte. Aber selbst Temon erwachte für kurze Zeit aus seiner Lethargie. "Ork!" seufzte er plötzlich auf, "jetzt auf die Jagd gehen! Alle Tiere laufen runter, um Wasser zu trinken - das tollste Wild auf einem Haufen! Das muss ich unbedingt den Leuten von Iligchal sagen..."
"Ah - du jagst auch gern?" fragte Paril erfreut - doch Temon antwortete schon wieder nicht...
Schliesslich erreichten sie die Stelle, wo der Weg im Zickzack die Felswand hinaufzukriechen begann - und von nun an wurde es erst richtig hart. Der Aufstieg wurde steiler, und ausserdem war der Weg teilweise zerstört; häufiger als vorher kam es vor, dass ihnen ein Geröllhaufen, ein Felsbrocken oder ein grosses Loch den Weg versperrte. Dann waren manchmal schwierige Kletterpartien nötig, die Paril nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Angst schwitzen liessen. Andere Ängste gesellten sich dazu: wenn hier schon ein Felsbrocken lag, dann konnte doch jederzeit noch einer herunterkommen? Es gab keine Deckung durch Bäume mehr; jeder Verfolger konnte sie nun von weitem sehen hier oben? Paril fühlte sich wieder am Rande des Wahnsinns. Wozu überhaupt das alles? Dann riss er sich wieder zusammen mit einem Blick auf Assing. Wo Assing hinging. da würde auch Paril hingehen, beschloss er; im nächsten Moment jedoch dachte er an die Obrigkeit von Asîmchômsaia, und die Motivation, irgend einer wie auch immer gearteten Obrigkeit nachzufolgen, war wieder weg.
Er versuchte sich auch die endlos sich dehnende Zeit zu vertreiben, indem er über Assings Worte nachdachte. Was dieser in der Pause vorhin gesagt hatte, war für Paril zuerst völlig fremd und schwer verständlich gewesen, aber mit der Zeit wurde es immer klarer. Die Berge und der Süden waren nicht Ssai, aber sie waren genauso lebendig und genauso Teile des Höchsten Wesens - das war schön und wahrlich in frommem Geiste gesprochen. Dieser Mann konnte nicht nur die Wahrheiten des Grünen Buches verständlich erklären, sondern deckte sogar zusätzliche Wahrheiten auf - immer wieder erlebte man hier Überraschungen!
Dergestalt überlegend, dazwischen wieder lange Zeit schwitzend und zitternd, nach Halt greifend, andere Leute stützend, von wieder anderen gestützt - nahte schliesslich der Moment, wo sie den höchsten Punkt erreichen würden. Na endlich, dachte Paril. Was wird auf der anderen Seite sein? Ich nehme an, es geht wieder runter. Und das Dorf - kommt das bald? Das hier ist doch sicher der Pass, von dem sie gesprochen haben, Iligchal oder wie der hei...
Sein Denken stoppte abrupt. Denn in diesem Augenblick waren sie oben.
Es ging nicht hinunter - oder doch nur ein kleines Stück. Eine Hochebene lag vor ihnen, aus unregelmässig geformten Felsen gebaut und dunkelgrün bewachsen, so dass sie aussah wie eine rauhe, moosige Baumrinde. Und jenseits der Ebene - wieder Berge. Berge! Da türmten sich Berge, die ihm das Gefühl gaben, diese ganze Steigerei habe ihn keinen Zoll höher gebracht!
Und das Dorf? "He - wo ist das... Dorf..." Kaum brachte Paril den Satz zu Ende.
Shnoiw grinste beruhigend. "Nicht mehr weit. Höchstens 10 Meilen..."
Ein halbes Dutzend schmutzige, völlig erschöpfte Gestalten lagerte in der Nähe des Weges im Schatten eines Felsblocks. Der Weg führte weiter in Richtung der glühenden Berge; etwa eine halbe Meile entfernt jedoch waren die Umrisse einer Dorfmauer zu sehen.
Gerade hatten sie die letzten Vorräte aus der Höhle unter sich verteilt und eingenommen. Sie hatten keine Eile mehr; ihr Ziel war in Sicht, dessen Erreichen erschien nur noch als eine Frage der Zeit. So konnte man ihre Stimmung trotz der Erschöpfung als entspannt bezeichnen.
Ausser bei einem von ihnen - Paril Sherritex. Dessen Nerven standen, entgegen seinem Charakter, kurz vor dem Zerreissen.
Diese Dorfmauer dort - sie war nicht aus Holz wie bei ihm daheim, sondern aus Stein. Damit war sogar offen sichtbar, was diese Mauer für Paril symbolisierte - das Fremdartige, Unbekannte, Unsichere. Was erwartete ihn innerhalb dieser Mauern? Wie würden die Leute sein? Vielleicht wollten sie mit dem Krieg nichts zu tun haben und liessen sie gar nicht hinein? Und wenn, was geschah mit ihm - dem Mann aus dem Pyramidalwald? Nur schon sein Akzent würde ihn verraten. Würden sie ihm feindlich gesinnt sein? Solche Fragen jagten ihm andauernd durch den Kopf, und es machte ihn fast wahnsinnig, dass die anderen so ruhig und scheinbar sorglos dalagen. Shnoiw hatte etwas beleidigt reagiert, als ihn Paril gefragt hatte, ob sein Onkel ihn wirklich aufnehmen würde - was Paril keinesfalls beruhigt hatte, denn es hatte einmal mehr die Befürchtung genährt, dass er auch durch in diesem Land als ketzerisch geltendes Verhalten anecken würde. Er konnte es deshalb nicht lassen, dauernd weitere (und teils wieder dieselben) Fragen zu stellen, die Shnoiw mit bewundernswerter Geduld beantwortete.
"Nein, ich glaube nicht, dass mein Onkel im Krieg ist. Iligchal selbst ist nicht Mitglied des Metallbundes, vergiss das nicht. Und auch wenn, jemand von der Familie ist bestimmt da. Ja, hab ich doch schon gesagt, dein Akzent ist kein Problem. Höchstens..." Er schaute plötzlich auf. "Diese Jacke, die du anhast, solltest du besser verschwinden lassen."
"Meine Jacke? Wieso?" fragte Paril erschrocken.
"Na, das ist doch eine Uniform, oder nicht?" Shnoiw rückte etwas näher heran. "Die Uniform der Krieger von Asîmchômsaia! Steht sogar angeschrieben!" Er deutete auf den schwarz eingebrannten Schriftzug auf Parils Lederrock. "Ich kann zwar nicht lesen, aber soviel ich weiss, bedeutet das da 'Assing'. Nun gut, die meisten im Dorf können auch nicht lesen, und ich weiss auch nicht genau, wie wichtig sie den Krieg nehmen, aber sicherer ist es viellecht doch, wenn du nicht sofort als Krieger des Feindes erkennbar bist. Zumindest das Schriftzeichen sollte weg..."
Das stimmte. Widerstrebend zog Paril die Jacke aus. War es auf dem Weg gelegentlich empfindlich kühl gewesen, so war es jetzt richtiggehend kalt.
"Die Idee, alle Krieger mit meinem Namen anzuschreiben, hat mir sowieso nie gefallen", liess sich Assing vernehmen, während Uemonni mit Parils Messer die Jacke zerschnitt. "Es ging schliesslich um Ssai und nicht um meine Person... Ach, übrigens, diesen Namen wünsche ich nicht mehr zu benutzen. Ab jetzt heisse ich... sagen wir... Pellssai. Es geht um Ssai..."
"Workash... Pellssai", begann Paril, nachdem er seine zerstückelte Jacke mit Erleichterung wieder angezogen hatte, "was hat Er jetzt vor zu tun?"
Der Workash Kal machte eine vage Bewegung mit seinem Kopf. "Ich weiss nicht recht... Ursprünglich wollte ich in einer grossen Stadt auftreten, Onnikerr Ewshtrôm zum Beispiel, mich als Hochmeister von Asîmchômsaia zu erkennen geben und die Wahrheit erzählen - die Wahrheit würde den Lügnern und Kriegstreibern in meiner Stadt schlecht bekommen. Allerdings nicht denen in Zin-Âching... Und inzwischen sind mir andere Zweifel gekommen. Niemand weiss, wie ich aussehe, darum würde man mir vielleicht nicht glauben. Und ausserdem: wie weit wäre die Reise - das hat Er ja ganz am Anfang schon richtig gesehen. Hier und jetzt, scheint es, kann ich rein gar nichts bewirken. Aber irgend etwas werde ich tun, denn ich fühle mich teilweise mitschuldig am Ausbruch dieses Krieges... Wenn ich wieder bei Kräften bin, werden wir weitersehen."
Paril atmete tief durch. "Ich.. ich hätte einen Vorschlag..." Er stotterte ein wenig vor Aufregung. "Er sollte all Sein Wissen - alles, was Er herausgefunden hat - aufschreiben. Seine Weisheit, Seine Erklärung des Grünen Buches, Seine Erleuchtungen über die anderen Teile des Höchsten Wesens, die Berge, den Süden - alles sollte Er aufschreiben!"
Alle glotzten ihn erstaunt an. Assing - oder nein, Pellssai - runzelte zweifelnd die Stirn. "Aufschreiben?" wiederholte er. "Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll." Die Gesichter der anderen verrieten noch weniger Verständnis.
"Na, wenn alles aufgeschrieben ist", begann Paril eifrig zu erklären, "dann wirkt es auch, wenn Er nicht da ist, und an mehreren Orten zugleich! Alle, die lesen können, werden die Wahrheit erfahren, und sie werden die Berge nicht mehr hassen..."
"Alle, die lesen können?" Shnoiw rümpfte die Nase. "Das sind aber nicht sehr viele!"
Auch Uemonni schüttelte den Kopf. "Funktioniert doch nicht, so was! Dauert doch viel zu lange zu schreiben. Und dann muss man es noch viele Male abschreiben, wenn es verbreitet werden soll. Schreiben ist zu nichts gut, sowieso - selber verbreiten muss man, wenn schon! Wenn überhaupt..."
Paril warf ihm einen verärgerten Blick zu. Alle seine Ideen machte der ihm kaputt - und recht hatte er auch noch...
"Ja, das stimmt" - und auch noch der Workash Kal pflichtete den Zweiflern bei! "Das kann nicht funktionieren. Die Schreibkunst ist zwar eine schöne Kunst, doch wahrlich eine schwierige: viele tausend Zeichen und jedes einzelne ein kleines Kunstwerk, noch dazu sorgfältig in Holz einzukerben - das ist nur gut für das Grüne Buch, welches in jedem Dorf von Schreibstudenten abgeschrieben wird. Jedoch - ..." Er biss nachdenklich auf seine Lippe. "Mir fällt gerade eine Idee ein, die ich vor langer, langer Zeit einmal gehabt habe. Einer der Hauptgründe für Ärger im Gutsbetrieb meines Vaters war die Schreibarbeit. Verträge, Lieferscheine, Vorratshaltung - alles wurde behindert durch das mühsame Schriftsystem, und durch die Launen der Schreiber obendrein. Ich habe mir damals manchmal Gedanken gemacht, wie man die Schriftkunst vereinfachen könnte. Und wenn ich mir das jetzt so überlege... Gesetzt den Fall, es gelänge, eine neue Schrift zu entwickeln, die einfach zu lernen und schnell zu schreiben ist - dann wäre Bêng Parils Idee vielleicht machbar! Man könnte dann vielen Leuten schnell - vielleicht sogar in zwei Monaten - das Lesen beibringen. Und ich könnte kurze Sachen schreiben, vervielfältigen lassen und im Lande verteilen..."
Paril blieb einmal mehr die Luft weg. Auf was für atemberaubenden Bahnen liefen die Gedanken dieses Hochmeisters denn noch?! "Das... das ist etwas schwierig zu verstehen für mich", äusserte er nach einigem Nachdenken. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in nur 2 Monaten lesen lernen kann..."
"Na, ich weiss auch nicht recht", dämpfte Assing alias Pellssai ab. "Ich habe nur ein paar abstrakte Ideen im Kopf; es wird sich zeigen, was davon verwirklichbar ist. Aber das alles werden wir später sehen..."
"Ja!" schaltete Shnoiw sich wieder ein. "Passt auf: ich gehe jetzt ins Dorf. Ein paar Leute da müssen mich kennen; ich werde sie auf euch vorbereiten. Hmm... das wird einige Aufregung geben..."
Er stemmte sich in die Höhe, und die anderen sahen zu, wie er langsam, etwas unsicher auftretend, den Weg entlangschritt, auf jene steinerne Mauer zu. Die fünf blieben liegen, wo sie waren, und starrten wortlos. Jetzt musste Shnoiw die Mauer erreicht haben; man konnte es allerdings von hier aus nicht so genau sehen. Wurde er hineingelassen? Doch bestimmt nicht - welche sicherheitsliebende Ortschaft öffnete ihre Tore einem derart verwahrlosten Strolch? Und wenn er hineinkam, dann allenfalls als Gefangener... Einmal mehr begann Parils Kopf unfreundliche Szenarien zu produzieren, während er wie gebannt nach der Stelle schaute, wo er die winzige Gestalt zuletzt gesehen hatte.
Es geschah gar nichts - eine marternde Ewigkeit lang. War das Dorf überhaupt noch bewohnt?! Noch ein unfreundliches Szenario, noch eine schlimme Vorahnung - langsam wurde Paril es leid. Und wenn das Schlimmstmögliche passierte - was sollte ihn das noch erschüttern, nach all den greulichen Dingen, die er mittlerweile erlebt hatte? Paril war unglaublich müde, und seine gegenwärtige horizontale Position entsprach dieser Stimmung aufs vollkommenste, sie erschien ihm wichtiger als alles auf der Welt. Sein Kopf begann zu sinken, seine Augen klein zu werden - doch plötzlich riss er die letzteren wieder weit auf.
Eine Bewegung bei der Mauer! Nicht genau zu sehen zwar - doch jetzt noch eine Bewegung - viel Bewegung! Eine Masse begann aus der Mauer zu quellen.
"Na also, Freunde!" Das war Andais Stimme. "Ich nehme an, wir können jetzt gehen. Los, Temon, wach auf! Wir sind gerettet!"
Ach ja, sind wir das? ging durch Parils Kopf. Jene Masse sah ihm keinesfalls eindeutig freundlich aus. Aber wenn schon, wie gesagt... Als er sich mühsam erhob, wurde ihm schwindlig, die Landschaft schien sich drehen zu wollen. Er schwankte, machte ein paar Schritte, neigte sich in die andere Richtung. Lästig, immer musste man sich anstrengen... Halb im Traum stolperte er der quellenden Menschenmasse entgegen, liess sich von ihr auffangen. Eine Masse kleiner, gedrungener Gestalten. Aufgeregtes Gequassel im breitesten Breitmaul-Dialekt. An ihn gerichtete Fragen, von denen er kein Wort verstand. Freundliche Gesichter - die Sprache der Gesichter verstand er - aufgeregte, blasse Gesichter. So hellhäutig wie Gânssi...
Die steinerne Mauer. Ein steinernes Tor, eine steinerne Strasse und auf beiden Seiten steinerne Häuser. In einer Reihe, dicht nebeneinander - und auf dem Boden stehend.
Das Dorf hatte keine Ähnlichkeit mit irgend einer Paril bekannten Ortschaft. Das Dorf war genau wie alles andere hier: hart und kantig.
Eine harte und kantige Heimat - konnte es so etwas geben in Parils Leben?
Die Sonne stand brennend heiss an einem blankgeputzten Himmel; unter ihren Strahlen wurden alle Farben hell und leuchtend. Das Rot der Felsen kontrastierte mit dem dunklen Grün der Bäume, das trockene Gelb des Grases an den oberen Hängen mit dem saftigen Grün und den tausendfarbigen Blüten aller Arten von Kraut, das da und dort auf dem Grund des Tales um eine liegengebliebene Wasserpfütze herumwucherte. Für Parils Augen, bisher vor allem gedämpftes Grün gewohnt, war es entschieden zu viel - sie schmerzten schon nach kurzer Zeit; und doch war es schrecklich schön...
Ihr Aufenthalt in der Höhle hatte letztendlich über 5 Tage gedauert - viel zu lang, nach einmütiger Meinung. Seit dem heutigen Morgengrauen waren die Ausbrecher wieder auf ihrem Weg; auf dem Saumpfad, der auf halber Höhe am Hang klebte, folgten sie den Windungen der Schlucht. Es war der Weg nach Reibork-Uem, der südlichsten Stadt des Metallbundes - dort gedachten sie allerdings nicht hinzugehen. Zunächst würde er zu einem Pass, dem Iligchal-Pass, führen; und kurz vor dem Pass, etwa 50 Meilen südlich von Reibork-Uem, gab es, gemäss Shnoiw, eine Ortschaft, Iligchal Loemparl. Dies war der Ort, von dem sie die ganze Zeit gesprochen hatten; wie gesagt sollten dort Verwandte von ihm leben, und sie hofften, als dem Feind entronnene Gefangene fürs erste aufgenommen zu werden.
Und Paril - mangels Ideen, wo er sonst hin sollte - lief hinterher.
Bereits nach kurzer Zeit war die Ebene mit dem See ihren Blicken entschwunden gewesen; von allen Seiten umgaben sie reglose Bergriesen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen - weder Räuber noch Hochmeisterliche noch sonst jemand. Der Pfad wand sich mehr oder weniger Richtung Nordosten, mehr und mehr jedoch aufwärts. Und wieder machte Paril das ungewohnte Steigen zu schaffen; er war ziemlich langsam und meistens zuhinterst, zusammen mit dem wie ein Schatten aussehenden und sich ebenso bewegenden Temon. Es wurmte ihn etwas, dass selbst der Workash Kal besser zurechtzukommen schien als er - als Rechtfertigung konnte allenfalls die Tatsache dienen, dass Paril tatsächlich als einziger in der Gruppe keinerlei Gebirgserfahrung hatte.
Der Workash Kal nämlich war, wie er zu Parils Erstaunen erzählt hatte, in seiner Jugend manchmal durch diese Gegend gereist. Noch viel mehr erstaunliche Dinge hatte Paril inzwischen erfahren: nicht nur in den Bergen war Assing gewesen, sondern auch in anderen "ketzerhaften" Gegenden - in Onnikerr Ewshtrôm, wo es auch einen Sumpf gab wie am Fuss der Berge, welcher bei heiligen Handlungen, Beschwörungen, Voraussagen hinzugezogen wurde; weit im Süden in O'Reeaelgalbjn, dem "Räuberland", wo es gar keine Bäume gab und Herden von wilden Eseln durch das trockene Land galoppierten; ja, sogar in Zin-Âching war Assing gewesen. Zin-Âching hatte Paril besonders interessiert, denn von ihm war sowohl in seiner Jugend wie während des Krieges ständig die Rede gewesen, meistens in Form von Hasstiraden. Assing jedoch hatte dem Vorurteil, Zin-Âching sei ein Pfuhl des Lasters und der Unmoral und die Trockenheit sei die Strafe dafür, aufs schärfste widersprochen. Anschliessend hatte er die Dürrekatastrophe gemäss seiner Theorie "vom Standpunkt des Gegners aus" erklärt. Wenn man Pyramidalbäume fällte, so sagte er, dann fehlten erstens natürliche Wasserspeicher, zweitens ein vor der Sonne schützendes Blätterdach und drittens ein den Boden zusammenhaltendes Wurzelwerk. Das hatte zur Folge, dass es im Sommer unmenschlich heiss und regelmässig das Wasser knapp wurde - und genau dieses Problem wurde durch langanhaltende Trockenheit noch dramatisch verschärft - während umgekehrt jeder Regenguss den Boden unterspülte und fruchtbaren Humus wegschwemmte. Ssu und Kerr offenbarten ihre zerstörerische Gewalt; auf dem nackten Boden wuchs immer weniger; es wurde wie im "Räuberland", auf die Dauer unbewohnbar.
Paril war nie in Zin-Âching gewesen, deshalb hatte er den Bezug zur Realität nicht; aber das alles klang ihm genau wie Gedanken aus dem Grünen Buch, auf erstaunliche Weise in einfachen Worten ausgedrückt. Nur schon diese Leistung Assings war genial; und wiewohl sich Paril über sein Verhältnis zu Assing nicht ganz im klaren war - immer wieder ärgerte er sich über sich selbst, wenn er merkte, dass er wieder in die alte verklärende Anbetungshaltung zu fallen drohte - so liess er doch keine Gelegenheit aus, mehr zu erfahren. Im Moment freilich war ihm nicht sehr nach Denken zumute; das bisschen Energie, das er hatte, war aufs Steigen konzentriert. Im Grunde war es nicht sehr steil, es sah vollkommen unproblematisch aus - aber Stunde um Stunde immer steigen, das zermürbte. Dazu kam noch diese steile und gewaltige Landschaft, an die Paril sich nicht gewöhnen konnte - und die Angst vor Verfolgern, die einen hier oben von weitem sehen müssten. All diese Dinge traten allerdings im Laufe der Zeit vor dem schieren und handfesten Problem des Steigens zunehmend in den Hintergrund; das war auf eine Weise wieder ganz gut - und zumindest was die Verfolger anging, so hatte sich seit Tagen keiner von ihnen gezeigt.
Der Weg machte, dem Tal folgend, wieder eine Biegung. Paril hob erwartungsvoll den Kopf; war ihr Ziel schon nährgerückt? Aber hinter der Biegung sah es ähnlich - für Parils untrainierte Augen sogar haargenau gleich - aus wie vorher: man konnte den Weg nur ein Stück weit verfolgen, bis zur nächsten Biegung nämlich. Erst viel weiter entfernt war er wieder verfolgbar, wie er in engen Kurven an der steilen, den Horizont begrenzenden Felswand hinaufkroch. "Puh!" stöhnte Paril und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Ist das da oben eigentlich der Iligchal-Pass?"
Die Frage war an den stumm neben ihm hertrottenden Temon gerichtet. Dieser hob langsam den Blick und folgte Parils Augen. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf, wie es seine Art war. "Vergiss es - wir sind noch lange nicht da..."
"Brr..." Paril linste vorsichtig in Richtung Himmel und versuchte das aufkeimende Gefühl von Ohnmacht und Depression zu bekämpfen. Der Himmel war gleissend blau, und ein grosser Vogel zog in ihm seine Kreise. So schwindelnd hoch... Paril kniff die Augen zu und senkte den Kopf wieder. "Ah!" sagte er wenig später nach einem weiteren Blick auf den Weg. "Ich sehe, dass die anderen eine Pause machen. Sehr gute Idee. Sollte öfter sein, was?"
Aber Temon schüttelte wieder den Kopf. "No..." Seine Stimme war fast tonlos. "Es ist besser, nicht zu oft anzuhalten. Wenn man einmal sitzt, ist es schwerer, aufzustehen und weiterzulaufen, als wenn man sowieso schon auf den Beinen ist..."
"Ah..." brummte Paril etwas ärgerlich, "ich sehe schon, ich bin der ignorante Flachländer..." Temon gab keine Antwort mehr, sondern fuhr in seinem Trott fort; es war nicht ersichtlich, ob er Paril überhaupt gehört hatte - was diesen noch mehr verstimmte. Mehr denn je fühlte er sich als Fremdkörper, als nicht passend in dieser Welt. Was sollte er überhaupt hier? Zu schweigen davon, wie er sich erst unter Menschen fühlen würde - unter Menschen, die ja wohl alle diesen unbegreiflichen Dialekt sprachen?
Sie erreichten die Stelle, wo die anderen Rast machten - einen Platz etwas seitwärts vom Weg, durch Bäume etwas vor diesem verborgen; weiterhin galt es jede Möglichkeit auszunutzen, unbemerkt zu bleiben. Uemonni verteilte gerade winzige Essrationen. Die Vorräte der Höhle waren von ihnen schon über Gebühr genutzt worden, deshalb hatten sie nur wenig mitgenommen (sowieso würden sie die Kosten in Iligchal Loemparl zurückerstatten müssen). Andai grinste Paril ermunternd an. "Na, Babygesicht? Es scheint dir nicht so gut zu gehen. Fühlst dich nicht so wohl im verfluchten Land, wie?"
Assing blickte missbilligend auf. "Bêng Kal!" rief er in zurechtweisendem Tone - worauf Andai einmal mehr den Verwunderten spielte. "Was heisst da Bêng Kal? So sagt man doch im Pyramidalwald. Hier gibt es keine heiligen Bäume, also können die Leute nicht meditieren; somit können sie keine Verbindung mit dem Höchsten Wesen aufnehmen, folglich bleiben sie verflucht! Quintessenz also im Pyramidalwald: wir sind gut, alles andere gehört ins Meer geschmissen. Steht doch so im Grünen Buch, oder nicht?"
Der Workash Kal machte eine gequälte Armbewegung. "Er höre nicht auf ihn, Bêng Paril, er macht sich lustig über mich. Dabei weiss er sehr gut, dass ich mit derlei Reden, wenngleich sie in meinem Namen gehalten wurden, nie etwas zu tun hatte!"
"Ach... äh..." Paril blickte etwas verwirrt von einem zum anderen. "Ich... ich verstehe nicht ganz - aber ich würde mich glücklich schätzen, wenn Er es mir erklären könnte..." Gab es wieder einen kleinen Teil von Assings Weisheit zu erhaschen?
"Hmm? So, so", Assing zog eine Augenbraue hoch. "Ich hatte schon lange keine so aufmerksamen Zuhörer mehr... Nun denn, das Problem, das Bêng Andai angesprochen hat, ist, dass im Grünen Buch tatsächlich beinahe nur vom Pyramidalwald die Rede ist. Die Berge, das Südland, das Hinterbergland und so weiter werden überhaupt nicht oder nur am Rande erwähnt - auf jeden Fall niemals als Ônnigalbjn, als Ort, wo Menschen wohnen. Manche Schriftausleger ziehen nun daraus den Schluss, diese Gegenden seien minderwertig und die dort lebenden Menschen notwendigerweise schlecht. Aber genau das steht nicht im Grünen Buch, es ist eine Interpretation. Ausserdem bin ich durch die Berge und den Süden gereist, und die Leute, die ich traf, waren nicht schlechter oder besser als bei mir zu Hause - und dass es auch im Pyramidalwald schlechte und gemeine Menschen gibt, das wusste ich schon, bevor ich es am eigenen Leib erfuhr..." Ein kaum wahrnehmbares Zittern ging durch den Leib Assings, wie der Schatten einer unangenehmen Erinnerung.
"Nein, der Grund, warum diese Gegenden im Grünen Buch nicht erwähnt werden, liegt woanders. Das Grüne Buch ist schon alt; die älteste bekannte Abschrift ist über 400 Jahre alt, und schon vorher waren die Texte heilig und über Generationen mündlich überliefert worden. Und in den ganz alten Zeiten waren die Berge und der Süden unbewohnt - der altehrwürdige Metallbund existiert ja 'erst' seit 165 Jahren, und die ältesten Aufzeichnungen in dessen Städten datieren kaum 300 Jahre zurück. Da erscheint es mir nur logisch, dass im Grünen Buch nichts darüber steht!"
Paril starrte ihn mit offenem Mund an. So eine Erklärung wäre ihm nicht im Traum eingefallen! "Und... Er meint... wenn damals dort Menschen gelebt hätten..."
"Dann würde auch etwas im Grünen Buch stehen. Ganz gewiss! Natürlich nicht dasselbe wie über Ssai, das ist klar. Aber ganz eindeutig ist auch der Süden ein lebendes Wesen; auch der Wald hier in den Bergen ist lebendig und hat eine Seele genau wie Ssai, der Pyramidalwald. Die Berge, die Savanne im Süden, das Hinterbergland, selbst das Räuberland, sind genau wie Ssai Glieder des Höchsten Wesens, die man nicht verachten sollte..."
So etwas! Parils Mund blieb offen stehen, während er versuchte, den Gedanken nachzuvollziehen. Es war so naheliegend und so einleuchtend - warum, verschimmelt noch mal, war das nicht schon längst jemandem eingefallen?! Klar, auch der Bergwald war ein lebendes Wesen - das war bekannt; aber ihn mit Ssai zu vergleichen, wäre in Parils Heimat niemandem in den Sinn gekommen. Die Welt der Menschen war der Pyramidalwald, und alles ausserhalb war am Rande, unbedeutend, marginal - das war das unumstössliche Weltverständnis. Und da kam dieser Assing daher und hob den Bergwald auf dieselbe Stufe - sich vorzustellen, dass für die Menschen in den Bergen der Pyramidalwald am Rande lag - das war, als stellte sich die Welt auf den Kopf! Zum Schwindligwerden...
Ein leichter Stups Uemonnis, welcher Paril eine Handwurzknolle hinhielt, beendete die schwierigen Gedankengänge fürs erste. Es war zu wenig zu essen und zu wenig zu trinken, natürlich; aber dennoch war es ungleich viel besser als am Anfang ihrer Flucht...
Kurze Zeit später ging das Steigen weiter. Die Sonne näherte sich dem Zenit, und die Wanderer waren nass vor Schweiss; dies, obwohl die Luft - für den nicht weitgereisten Paril unerklärlicherweise - deutlich kühler war als unten, was sie beim Rasten im Schatten beinahe empfindlich gespürt hatten. Das Tal wurde enger, im Grund unten wuchsen massenhaft niedrige, dunkelgrüne Sträucher mit rosaroten, rosenähnlichen Blüten. Einmal fuhr Paril der Schreck durch die Glieder - jemand bewegte sich im Tal unten! Aber es war nur ein Tier, eine krummhornige, behende kletternde Bergziege. Wenig später sahen sie wieder eine Ziege, und danach noch ein paarmal. Einmal sahen sie sogar eine grosse, hochbeinige Antilope mit langen, spiralförmig gewundenen Hörnern. Es war ein respekteinflössender Anblick, ganz besonders für Paril, der solch ein Tier noch nie gesehen hatte. Aber selbst Temon erwachte für kurze Zeit aus seiner Lethargie. "Ork!" seufzte er plötzlich auf, "jetzt auf die Jagd gehen! Alle Tiere laufen runter, um Wasser zu trinken - das tollste Wild auf einem Haufen! Das muss ich unbedingt den Leuten von Iligchal sagen..."
"Ah - du jagst auch gern?" fragte Paril erfreut - doch Temon antwortete schon wieder nicht...
Schliesslich erreichten sie die Stelle, wo der Weg im Zickzack die Felswand hinaufzukriechen begann - und von nun an wurde es erst richtig hart. Der Aufstieg wurde steiler, und ausserdem war der Weg teilweise zerstört; häufiger als vorher kam es vor, dass ihnen ein Geröllhaufen, ein Felsbrocken oder ein grosses Loch den Weg versperrte. Dann waren manchmal schwierige Kletterpartien nötig, die Paril nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Angst schwitzen liessen. Andere Ängste gesellten sich dazu: wenn hier schon ein Felsbrocken lag, dann konnte doch jederzeit noch einer herunterkommen? Es gab keine Deckung durch Bäume mehr; jeder Verfolger konnte sie nun von weitem sehen hier oben? Paril fühlte sich wieder am Rande des Wahnsinns. Wozu überhaupt das alles? Dann riss er sich wieder zusammen mit einem Blick auf Assing. Wo Assing hinging. da würde auch Paril hingehen, beschloss er; im nächsten Moment jedoch dachte er an die Obrigkeit von Asîmchômsaia, und die Motivation, irgend einer wie auch immer gearteten Obrigkeit nachzufolgen, war wieder weg.
Er versuchte sich auch die endlos sich dehnende Zeit zu vertreiben, indem er über Assings Worte nachdachte. Was dieser in der Pause vorhin gesagt hatte, war für Paril zuerst völlig fremd und schwer verständlich gewesen, aber mit der Zeit wurde es immer klarer. Die Berge und der Süden waren nicht Ssai, aber sie waren genauso lebendig und genauso Teile des Höchsten Wesens - das war schön und wahrlich in frommem Geiste gesprochen. Dieser Mann konnte nicht nur die Wahrheiten des Grünen Buches verständlich erklären, sondern deckte sogar zusätzliche Wahrheiten auf - immer wieder erlebte man hier Überraschungen!
Dergestalt überlegend, dazwischen wieder lange Zeit schwitzend und zitternd, nach Halt greifend, andere Leute stützend, von wieder anderen gestützt - nahte schliesslich der Moment, wo sie den höchsten Punkt erreichen würden. Na endlich, dachte Paril. Was wird auf der anderen Seite sein? Ich nehme an, es geht wieder runter. Und das Dorf - kommt das bald? Das hier ist doch sicher der Pass, von dem sie gesprochen haben, Iligchal oder wie der hei...
Sein Denken stoppte abrupt. Denn in diesem Augenblick waren sie oben.
Es ging nicht hinunter - oder doch nur ein kleines Stück. Eine Hochebene lag vor ihnen, aus unregelmässig geformten Felsen gebaut und dunkelgrün bewachsen, so dass sie aussah wie eine rauhe, moosige Baumrinde. Und jenseits der Ebene - wieder Berge. Berge! Da türmten sich Berge, die ihm das Gefühl gaben, diese ganze Steigerei habe ihn keinen Zoll höher gebracht!
Und das Dorf? "He - wo ist das... Dorf..." Kaum brachte Paril den Satz zu Ende.
Shnoiw grinste beruhigend. "Nicht mehr weit. Höchstens 10 Meilen..."
***
Eine goldene Sonne stand tief in einem ebenso goldenen Westen und liess die Schatten in der Ebene lang werden. Der Himmel im Nordosten begann schon zu dunkeln; um so leuchtender glühte das Rot der Berge, eine solide Wand aus loderndem Feuer von Horizont zu Horizont.Ein halbes Dutzend schmutzige, völlig erschöpfte Gestalten lagerte in der Nähe des Weges im Schatten eines Felsblocks. Der Weg führte weiter in Richtung der glühenden Berge; etwa eine halbe Meile entfernt jedoch waren die Umrisse einer Dorfmauer zu sehen.
Gerade hatten sie die letzten Vorräte aus der Höhle unter sich verteilt und eingenommen. Sie hatten keine Eile mehr; ihr Ziel war in Sicht, dessen Erreichen erschien nur noch als eine Frage der Zeit. So konnte man ihre Stimmung trotz der Erschöpfung als entspannt bezeichnen.
Ausser bei einem von ihnen - Paril Sherritex. Dessen Nerven standen, entgegen seinem Charakter, kurz vor dem Zerreissen.
Diese Dorfmauer dort - sie war nicht aus Holz wie bei ihm daheim, sondern aus Stein. Damit war sogar offen sichtbar, was diese Mauer für Paril symbolisierte - das Fremdartige, Unbekannte, Unsichere. Was erwartete ihn innerhalb dieser Mauern? Wie würden die Leute sein? Vielleicht wollten sie mit dem Krieg nichts zu tun haben und liessen sie gar nicht hinein? Und wenn, was geschah mit ihm - dem Mann aus dem Pyramidalwald? Nur schon sein Akzent würde ihn verraten. Würden sie ihm feindlich gesinnt sein? Solche Fragen jagten ihm andauernd durch den Kopf, und es machte ihn fast wahnsinnig, dass die anderen so ruhig und scheinbar sorglos dalagen. Shnoiw hatte etwas beleidigt reagiert, als ihn Paril gefragt hatte, ob sein Onkel ihn wirklich aufnehmen würde - was Paril keinesfalls beruhigt hatte, denn es hatte einmal mehr die Befürchtung genährt, dass er auch durch in diesem Land als ketzerisch geltendes Verhalten anecken würde. Er konnte es deshalb nicht lassen, dauernd weitere (und teils wieder dieselben) Fragen zu stellen, die Shnoiw mit bewundernswerter Geduld beantwortete.
"Nein, ich glaube nicht, dass mein Onkel im Krieg ist. Iligchal selbst ist nicht Mitglied des Metallbundes, vergiss das nicht. Und auch wenn, jemand von der Familie ist bestimmt da. Ja, hab ich doch schon gesagt, dein Akzent ist kein Problem. Höchstens..." Er schaute plötzlich auf. "Diese Jacke, die du anhast, solltest du besser verschwinden lassen."
"Meine Jacke? Wieso?" fragte Paril erschrocken.
"Na, das ist doch eine Uniform, oder nicht?" Shnoiw rückte etwas näher heran. "Die Uniform der Krieger von Asîmchômsaia! Steht sogar angeschrieben!" Er deutete auf den schwarz eingebrannten Schriftzug auf Parils Lederrock. "Ich kann zwar nicht lesen, aber soviel ich weiss, bedeutet das da 'Assing'. Nun gut, die meisten im Dorf können auch nicht lesen, und ich weiss auch nicht genau, wie wichtig sie den Krieg nehmen, aber sicherer ist es viellecht doch, wenn du nicht sofort als Krieger des Feindes erkennbar bist. Zumindest das Schriftzeichen sollte weg..."
Das stimmte. Widerstrebend zog Paril die Jacke aus. War es auf dem Weg gelegentlich empfindlich kühl gewesen, so war es jetzt richtiggehend kalt.
"Die Idee, alle Krieger mit meinem Namen anzuschreiben, hat mir sowieso nie gefallen", liess sich Assing vernehmen, während Uemonni mit Parils Messer die Jacke zerschnitt. "Es ging schliesslich um Ssai und nicht um meine Person... Ach, übrigens, diesen Namen wünsche ich nicht mehr zu benutzen. Ab jetzt heisse ich... sagen wir... Pellssai. Es geht um Ssai..."
"Workash... Pellssai", begann Paril, nachdem er seine zerstückelte Jacke mit Erleichterung wieder angezogen hatte, "was hat Er jetzt vor zu tun?"
Der Workash Kal machte eine vage Bewegung mit seinem Kopf. "Ich weiss nicht recht... Ursprünglich wollte ich in einer grossen Stadt auftreten, Onnikerr Ewshtrôm zum Beispiel, mich als Hochmeister von Asîmchômsaia zu erkennen geben und die Wahrheit erzählen - die Wahrheit würde den Lügnern und Kriegstreibern in meiner Stadt schlecht bekommen. Allerdings nicht denen in Zin-Âching... Und inzwischen sind mir andere Zweifel gekommen. Niemand weiss, wie ich aussehe, darum würde man mir vielleicht nicht glauben. Und ausserdem: wie weit wäre die Reise - das hat Er ja ganz am Anfang schon richtig gesehen. Hier und jetzt, scheint es, kann ich rein gar nichts bewirken. Aber irgend etwas werde ich tun, denn ich fühle mich teilweise mitschuldig am Ausbruch dieses Krieges... Wenn ich wieder bei Kräften bin, werden wir weitersehen."
Paril atmete tief durch. "Ich.. ich hätte einen Vorschlag..." Er stotterte ein wenig vor Aufregung. "Er sollte all Sein Wissen - alles, was Er herausgefunden hat - aufschreiben. Seine Weisheit, Seine Erklärung des Grünen Buches, Seine Erleuchtungen über die anderen Teile des Höchsten Wesens, die Berge, den Süden - alles sollte Er aufschreiben!"
Alle glotzten ihn erstaunt an. Assing - oder nein, Pellssai - runzelte zweifelnd die Stirn. "Aufschreiben?" wiederholte er. "Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll." Die Gesichter der anderen verrieten noch weniger Verständnis.
"Na, wenn alles aufgeschrieben ist", begann Paril eifrig zu erklären, "dann wirkt es auch, wenn Er nicht da ist, und an mehreren Orten zugleich! Alle, die lesen können, werden die Wahrheit erfahren, und sie werden die Berge nicht mehr hassen..."
"Alle, die lesen können?" Shnoiw rümpfte die Nase. "Das sind aber nicht sehr viele!"
Auch Uemonni schüttelte den Kopf. "Funktioniert doch nicht, so was! Dauert doch viel zu lange zu schreiben. Und dann muss man es noch viele Male abschreiben, wenn es verbreitet werden soll. Schreiben ist zu nichts gut, sowieso - selber verbreiten muss man, wenn schon! Wenn überhaupt..."
Paril warf ihm einen verärgerten Blick zu. Alle seine Ideen machte der ihm kaputt - und recht hatte er auch noch...
"Ja, das stimmt" - und auch noch der Workash Kal pflichtete den Zweiflern bei! "Das kann nicht funktionieren. Die Schreibkunst ist zwar eine schöne Kunst, doch wahrlich eine schwierige: viele tausend Zeichen und jedes einzelne ein kleines Kunstwerk, noch dazu sorgfältig in Holz einzukerben - das ist nur gut für das Grüne Buch, welches in jedem Dorf von Schreibstudenten abgeschrieben wird. Jedoch - ..." Er biss nachdenklich auf seine Lippe. "Mir fällt gerade eine Idee ein, die ich vor langer, langer Zeit einmal gehabt habe. Einer der Hauptgründe für Ärger im Gutsbetrieb meines Vaters war die Schreibarbeit. Verträge, Lieferscheine, Vorratshaltung - alles wurde behindert durch das mühsame Schriftsystem, und durch die Launen der Schreiber obendrein. Ich habe mir damals manchmal Gedanken gemacht, wie man die Schriftkunst vereinfachen könnte. Und wenn ich mir das jetzt so überlege... Gesetzt den Fall, es gelänge, eine neue Schrift zu entwickeln, die einfach zu lernen und schnell zu schreiben ist - dann wäre Bêng Parils Idee vielleicht machbar! Man könnte dann vielen Leuten schnell - vielleicht sogar in zwei Monaten - das Lesen beibringen. Und ich könnte kurze Sachen schreiben, vervielfältigen lassen und im Lande verteilen..."
Paril blieb einmal mehr die Luft weg. Auf was für atemberaubenden Bahnen liefen die Gedanken dieses Hochmeisters denn noch?! "Das... das ist etwas schwierig zu verstehen für mich", äusserte er nach einigem Nachdenken. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in nur 2 Monaten lesen lernen kann..."
"Na, ich weiss auch nicht recht", dämpfte Assing alias Pellssai ab. "Ich habe nur ein paar abstrakte Ideen im Kopf; es wird sich zeigen, was davon verwirklichbar ist. Aber das alles werden wir später sehen..."
"Ja!" schaltete Shnoiw sich wieder ein. "Passt auf: ich gehe jetzt ins Dorf. Ein paar Leute da müssen mich kennen; ich werde sie auf euch vorbereiten. Hmm... das wird einige Aufregung geben..."
Er stemmte sich in die Höhe, und die anderen sahen zu, wie er langsam, etwas unsicher auftretend, den Weg entlangschritt, auf jene steinerne Mauer zu. Die fünf blieben liegen, wo sie waren, und starrten wortlos. Jetzt musste Shnoiw die Mauer erreicht haben; man konnte es allerdings von hier aus nicht so genau sehen. Wurde er hineingelassen? Doch bestimmt nicht - welche sicherheitsliebende Ortschaft öffnete ihre Tore einem derart verwahrlosten Strolch? Und wenn er hineinkam, dann allenfalls als Gefangener... Einmal mehr begann Parils Kopf unfreundliche Szenarien zu produzieren, während er wie gebannt nach der Stelle schaute, wo er die winzige Gestalt zuletzt gesehen hatte.
Es geschah gar nichts - eine marternde Ewigkeit lang. War das Dorf überhaupt noch bewohnt?! Noch ein unfreundliches Szenario, noch eine schlimme Vorahnung - langsam wurde Paril es leid. Und wenn das Schlimmstmögliche passierte - was sollte ihn das noch erschüttern, nach all den greulichen Dingen, die er mittlerweile erlebt hatte? Paril war unglaublich müde, und seine gegenwärtige horizontale Position entsprach dieser Stimmung aufs vollkommenste, sie erschien ihm wichtiger als alles auf der Welt. Sein Kopf begann zu sinken, seine Augen klein zu werden - doch plötzlich riss er die letzteren wieder weit auf.
Eine Bewegung bei der Mauer! Nicht genau zu sehen zwar - doch jetzt noch eine Bewegung - viel Bewegung! Eine Masse begann aus der Mauer zu quellen.
"Na also, Freunde!" Das war Andais Stimme. "Ich nehme an, wir können jetzt gehen. Los, Temon, wach auf! Wir sind gerettet!"
Ach ja, sind wir das? ging durch Parils Kopf. Jene Masse sah ihm keinesfalls eindeutig freundlich aus. Aber wenn schon, wie gesagt... Als er sich mühsam erhob, wurde ihm schwindlig, die Landschaft schien sich drehen zu wollen. Er schwankte, machte ein paar Schritte, neigte sich in die andere Richtung. Lästig, immer musste man sich anstrengen... Halb im Traum stolperte er der quellenden Menschenmasse entgegen, liess sich von ihr auffangen. Eine Masse kleiner, gedrungener Gestalten. Aufgeregtes Gequassel im breitesten Breitmaul-Dialekt. An ihn gerichtete Fragen, von denen er kein Wort verstand. Freundliche Gesichter - die Sprache der Gesichter verstand er - aufgeregte, blasse Gesichter. So hellhäutig wie Gânssi...
Die steinerne Mauer. Ein steinernes Tor, eine steinerne Strasse und auf beiden Seiten steinerne Häuser. In einer Reihe, dicht nebeneinander - und auf dem Boden stehend.
Das Dorf hatte keine Ähnlichkeit mit irgend einer Paril bekannten Ortschaft. Das Dorf war genau wie alles andere hier: hart und kantig.
Eine harte und kantige Heimat - konnte es so etwas geben in Parils Leben?