22. Bei Rudi

molly

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Bei Rudi

Zu Hause bettete die Mutter Michael aufs Sofa und setzte sich zu ihm.
„Rudi kannst du vorläufig nicht bezwingen, er ist viel zu stark und groß. Papa wird heute Abend mit ihm reden. Doch mit David musst du alleine fertig werden, und das schaffst du auch", sagte die Mutter.
„Aber Rolf und Heiner machen auch, was David sagt“, wandte Michael ein.
„Du kannst sie besiegen, nicht beide auf einmal, sondern einen nach dem anderen. An wen würdest du dich zuerst trauen?"
„An Rolf“, antwortete er. „Gut, dann überlege einmal, wo du ihn am besten alleine schnappen kannst! Ich habe da so eine Idee, wie du ihn dazu bringst, dass er dich nicht schlägt, auch wenn David das befiehlt.“
Und sie erklärte ihm, was sie meinte. Sie sprachen ausführlich darüber und am liebsten hätte Michael sich gleich in die Schlacht gestürzt.
„Heute gibt es keinen Kampf mehr“, sagte die Mutter, „denke daran, was der Doktor gesagt hat und jetzt gibt es was zu essen, du hast doch sicher Hunger!" Die Mutter brachte ihm Suppe und danach Eis. Bald darauf schlief Michael ein.

Als er aufwachte, stand der Vater im Wohnzimmer.
„Donnerwetter, dieser Rudi, der kann was erleben“, hörte Michael ihn schimpfen. Dann kam er zu ihm, gab ihm ganz vorsichtig einen Nasenstüber. Michael blinzelte ihn an.
„Endlich bist du wieder wach. Fühlst du dich stark genug für einen Spaziergang“, fragte er.
Michael sprang vom Sofa und hätte sich am liebsten wieder hingelegt. Sein Kopf tat weh und er stöhnte leise. Der Vater meinte, ein Bummel an der frischen Luft könne ihm nicht schaden. Er nahm Michael bei der Hand und so marschierten zu Rudi, der im Weiherweg wohnte. Michael dachte nicht gern an diese Begegnung und so überlegte er sich, dass ihm die Straßennamen im Dorf gut gefielen. Er wohnte im „Ackergrund“, David in der „Dorfstraße“. Demnächst wollte er einmal alle Straßen, Gassen und Wege seines Dorfes aufschreiben. Je näher sie zu Rudis Zuhause kamen, desto fester klammerte sich Michael an die Hand des Vaters. Plötzlich blieb der Vater stehen. Er löste kurz seine Hand, beugte sich zu Michael und umarmte ihn. Dabei flüsterte er: „Wird alles gut!“ Dann nahm er wieder Michaels Hand.

Rudi saß vor der Haustür und schnitzte an einem Stock.
„Ich will mit dir reden“, sagte der Vater ruhig. Michael kannte seine Stimme. Immer, wenn er so leise grollend sprach, war er sehr wütend. Rudi merkte das natürlich nicht. Er blickte Michaels Vater gleichgültig an und schaute dann auf die andere Seite.
„Steh auf“, sagte der Vater nun gefährlich leise. Doch Rudi reagierte nicht, er arbeitete an seinem Stock weiter. Blitzschnell schlug Michaels Vater ihn das Messer aus der Hand, packte ihn am Kragen und zog ihn hoch.

„Wenn du noch ein einziges Mal kleine Kinder schlägst, dann kannst du was erleben! Ich verschaffe dir Maulschellen, die du so schnell nicht vergisst! Deine Eltern und deine Lehrerein erfahren von mir, was du für ein grober Bursche bist. Hast du mich verstanden?" Rudi riss entsetzt die Augen auf und nickte. Maulschellen! Das hörte sich ja schrecklich an. Der Vater ließ ihn los, hob Rudis Messer auf und der Junge sackte auf die Treppe zurück.

„Ich warne dich nicht noch einmal und jetzt entschuldige dich bei Michael. Was du getan hast, ist Körperverletzung", sagte der Vater. Rudi schüttelte den Kopf.
„Dann bringe ich dein Messer zu deinem Vater.“
„Nein“, rief Rudi. Er stand wieder auf, ging auf Michael zu und murmelte: „tschuldigung.“
„Vergiss das nie“, sagte Michaels Vater und warf das Messer in den Briefkasten von Rudis Eltern.
Er nahm wieder Michaels Hand und gemeinsam schlenderten sie heimwärts.

„Was sind denn Maulschellen?" fragte Michael. Der Vater lächelte und strich mit der Hand über seine Haare. Dann antwortete er: „So hat man in Schlesien zu den Ohrfeigen gesagt.“

Als die beiden an Wagners Hof vorbei kamen, stand David neben der Großmutter beim Eingang. Sogleich versteckte er sich im Hausflur. Natürlich bemerkte die Großmutter seine Flucht. Sie fragte, ob der Bub schon wieder etwas angestellt hätte. Michaels Vater überhörte ihre Frage und erkundigte sich nach Davids Vater. Sie redeten sie noch eine Weile zusammen, Michael interessierte das nicht. Er träumte davon, wie er David vertrimmen würde. Er gäbe ihm zwei Ohrfeigen, links eine schwäbische Backpfeife, rechts eine schlesische Maulschelle. Einmal würde er ihn allein erwischen und dann ging es ihm richtig schlecht. Das schwor er sich. Aber vor Rudi brauchte er keine Angst mehr zu haben. Dankbar drückte Michael Vaters Hand. Sie verabschiedeten sich von Frau Wagner und der Vater nahm ihn Huckepack.

Am nächsten Morgen verließ Michael frühzeitig das Haus. Er ging aber nicht gleich zur Schule, sondern versteckte sich hinter dem Rathaus und wartete auf Rolf. Es dauerte nicht lange, bis er kam. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und pfiff sorglos. Als er an Michaels Versteck vorbei ging, schoss der vor und stürzte sich brüllend auf ihn. Rolf schaute ihn erschrocken an, Michael aber drückte ihn unaufhaltsam zum Brunnen. „Versuche nicht fortzulaufen, sonst landest du gleich im Wasser", drohte er. Rolf nickte nur.
„Du gehörst zur Davidbande, aber wenn du mich schlägst, weil David das befiehlt, geht es dir an den Kragen, hast du verstanden?"
Um ihm zu zeigen, wie ernst Michael seine Drohung meinte, trat er ihm kräftig auf einen Fuß. Das hatte die Mutter ihm geraten. Rolf schrie kurz auf. Dann beteuerte er, dass er Michael nie schlagen würde. "Vergiss das nur nicht“, sagte er und erzählte ihm noch, was sein Vater gestern zu Rudi gesagt hatte. Dann liefen sie gemeinsam zur Schule.

Jetzt musste Michael nur noch Heiner und David erwischen. In der Hofpause standen David, Rudi, Heiner und Rolf zusammen und tuschelten. Ab und zu schauten sie grimmig zu Michael her. Ihn störte das nicht sehr, er stand neben Reinhard und biss herzhaft in sein Vesperbrot. Doch als Michael hochblickte, kam die Bande, jedoch ohne Rudi, auf ihn zu. Seine Knie wurden schwach, er hielt sich an seinem Brot fest. Kurz vor ihm drehten sie grinsend ab und verschwanden in einer anderen Ecke. Michael und Reinhard atmeten erleichtert auf. Bald darauf begannen die Sommerferien, aber er hatte Heiner und David noch nicht erwischt.

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In der nächsten Geschichte gibt es ein Picknick in einer dunklen Hütte
 



 
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