23. und 24. Dezember

23. Dezember
Bereits beim ersten Klingeln ihres Weckers, sprang Sabrina hellwach aus dem Bett. Erstens war heute der letzte Schultag vor den Ferien und außerdem, würde sie heute das vorletzte Türchen öffnen. Sie hatte den Kalender schon in der Hand, als sie überlegte, zu warten, bis Hanna und Hendrik heute Mittag kamen.
Also stellte sie ihn wieder auf seinen Platz, zog sich an, frühstückte und lief zur Schule. Hanna verzog zwar das Gesicht, weil sie sich vor Neugier wahrscheinlich nicht recht konzentrieren konnte, doch das ließ sich jetzt nicht ändern.
Um elf Uhr dreißig gab der Schulgong zum letzten Mal in diesem Jahr das Unterrichtsende bekannt. Die beiden Mädchen eilten die Treppe hinunter und warteten voller Ungeduld auf Hendrik. Zu dritt machten sie sich auf den Weg zu Sabrinas Haus. Sie waren sehr gespannt und konnten es kaum noch erwarten, bis Sabrina endlich das Türchen aufmachte. Wieder einmal fiel ein kleiner Zettel heraus. Sabrina faltete ihn auseinander. In die Vergangenheit führt die Tür, was war soll bleiben, das merke Dir! Veränderst Du, kommst zurück Du nimmer, verschlossen bleibt die Tür, für immer. Enttäuscht ließ sie die Hand mit dem Zettel in ihren Schoß sinken. Hanna nahm den Zettel und las ihn nochmals laut vor.
»Welche Türe ist denn gemeint? Klingt ja sehr geheimnisvoll!«
Hendrik dachte eine Weile nach, bevor er sagte:
»Na, vielleicht die von gestern?« Sabrina schlug sich an die Stirn.
»Da hätte ich auch selbst drauf kommen können!“ Und als sie Hendriks grinsendes Gesicht sah, fügte sie noch schnell hinzu: »Sag jetzt ja nichts, von wegen Frauen und Logik oder irgendeinem anderen geistreichen Spruch!« Hanna unterbrach die beiden.
»Los! Könntet Ihr euch vielleicht mal auf das Wesentliche konzentrieren?« Sie reichte ihrer Freundin den Kalender.
Sabrinas Hand steuerte langsam auf die Türe zu. Plötzlich meinte sie, den Türgriff zu spüren. Erschrocken zog sie ihre Hand wieder zurück.
»Habt ihr das gesehen?«
Hanna und Hendrik nickten.
»Versuch es noch einmal«, sagte Hendrik, »aber diesmal halten wir uns alle an den Händen und ich«, er hielt eine Digitalkamera hoch, »ich halte das Ganze fest. Zum Dokumentieren sozusagen.« Er nahm eine Hand von Sabrina und eine von Hanna das heißt Hanna fasste sein Handgelenk an, damit er fotografieren konnte, dann probierte Sabrina es wieder. Und wirklich! Es sah aus, als ob ihre Hand im Kalender verschwinden würde. Sie hatte ein komisches Gefühl im Magen. Das gab es doch nicht. Vorsichtig machte sie einen Schritt nach vorne. Sie hielt die Türklinke ganz fest umklammert und drückte sie nach unten.
Und wie jede normale Türe auch, ging diese langsam auf. Sabrina hielt noch immer den Griff in der Hand, als sie bemerkte, dass Hendrik und Hanna immer noch dicht hinter ihr standen. Der Adventskalender lag vor ihr im Staub. Sie hob ihn auf und vorsichtig betraten sie den Raum. Sie befanden sich auf einem Dachboden. Überall hingen Spinnweben von den Dachbalken und auf dem Fußboden standen Kisten und Schachteln herum. Es gab nur eine kleine Luke, durch die spärliches Tageslicht den Raum nur wenig erhellte. Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, begannen die drei sich leise umzusehen und einige Kisten zu öffnen. Vielleicht fand sich hier der Vertrag?
»Wo sind wir hier?«, flüsterte Hanna ängstlich, »Kommen wir jemals wieder nach Hause?«
»Bestimmt«, versuchte Sabrina die Freundin zu trösten, obwohl ihr in Wirklichkeit auch etwas mulmig zu mute war. Doch bei ihr siegte die Neugierde und sie deutete auf eine schmale Türe. »Ich werde mal nachsehen, wo die hinführt!“ Hanna hielt sie zurück.
»Und wenn es gefährlich ist? Du weißt doch überhaupt nicht, wessen Haus das ist.«
»Doch!“ Sabrina war sich mit einem Mal ganz sicher. »Hier wohnt Emelie und es ist der dreiundzwanzigste Dezember 1864.«
»Unsere Eltern werden sich furchtbare Sorgen machen!« Hanna hielt nur mit Mühe die Tränen zurück. Sabrina legte den Arm um sie.
»Ja, das werden sie wohl, aber wir sind bald wieder zurück und erklären ihnen dann alles. Sie werden bestimmt bald feststellen, dass wir alle drei verschwunden sind.«
Hendrik stöhnte leise. Verwundert sahen die Mädchen ihn an.
»Onkel Kasimir wird meinen Vater benachrichtigen und der ist, wie ich ja bereits erwähnt habe, bei der Polizei. Wisst ihr was das bedeutet?« Er schaute die Mädchen erwartungsvoll an.
»Nein«, antworteten diese gleichzeitig, »was denn?«
»Er wird natürlich die ortsansässige Polizei um Amtshilfe bitten. Wenn wir zurückkommen, wird es überall von Polizisten wimmeln. Und wie soll ich ihm dann bitte erklären, wo wir gewesen sind?« Er machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass Sabrina nun den anderen Arm um Hendrik legte.
»Jetzt sind wir schon einmal hier. Ich werde nachsehen wohin diese Türe geht. Ihr könnt ja hier auf mich warten«“ Während Hanna erleichtert nickte, schüttelte Hendrik heftig den Kopf.
»Ich komme mit dir!« Hanna blickte seufzend von einem zum anderen.
»Dann muss ich wohl auch mit, denn alleine bleiben möchte ich auf gar keinen Fall.«

Sabrina öffnete behutsam die Türe einen Spalt und linste hinaus. Eine schmale Stiege führte hinunter. Leise schlichen die drei die Treppe Stufe für Stufe hinab. Als sie sich nähernde Stimmen hörten, schlüpften sie einfach in das nächste Zimmer. Sabrina versuchte durch das Türschloss hindurch einen Blick auf die Leute werfen zu können, während Hanna vor Furcht die Luft anhielt. Nur Hendrik fühlte sich hier sichtlich wohl. Als sie merkwürdige Geräusche hinter sich hörten, drehten sich die Mädchen zu ihm um.
»Was machst du denn da?«, zischte Sabrina. Da sie sich nicht trauten Licht zu machen, konnten sie nichts erkennen.
»Ist euch nicht aufgefallen, dass wir uns in einer Speisekammer befinden? Na, und da habe ich Hunger bekommen.« Verständnislos schüttelten die Mädchen den Kopf. Allerdings konnte Hendrik dies in der Dunkelheit nicht sehen und so futterte er seelenruhig weiter.
»Glaubt man’s?«, empörte sich Hanna.
»Wenn der gnädige Herr seine Mahlzeit beendet hat«, meinte Sabrina bissig, »könnten wir dann eventuell hier verschwinden?« Sie war sich sicher, dass er vor sich hingrinste. Aber er trat zu ihnen und sie standen wieder auf dem Gang.
»Was jetzt?«, wisperte Hanna.
»Wir schauen einfach erstmal in jedes Zimmer und gehen dann den Gang bis zu seinem Ende weiter.«

Zwei der Zimmer wurden offensichtlich als Gästezimmer genutzt, standen aber momentan leer. Weiter befanden sich noch zwei Kinderzimmer und das Elternschlafzimmer hier oben. Hanna stupste Sabrina an.
»Sieh mal! Die vielen Spieluhren! Sind die nicht wunderschön?« Sabrina stimmte ihr zu und sie verließen das Zimmer. Sie schlichen den Gang entlang und standen plötzlich auf einem Treppenabsatz.
»Das ist die Stelle, wo ich das kleine Mädchen zuerst gesehen habe«, flüsterte Sabrina aufgeregt. Eine Kinderstimme schallte durch das Haus. Sie duckten sich schnell hinter der großen Truhe, die direkt an der Brüstung stand. Sabrina schob sich näher an die Stäbe heran und lugte vorsichtig nach unten. Sie sah Emelie. Das kleine Mädchen sah genauso aus, wie die Erscheinung, die sich Ihnen einige Male gezeigt hatte. Sie sprang einem großen Mann direkt in die Arme.
»Das ist ihr Vater«, erklärte Sabrina im Flüsterton, »er sieht genauso aus wie bei der Beerdigung.« Nun erschien noch eine junge Frau, die ein Baby auf dem Arm trug. Sabrina beschrieb genau was sie sah.
»Ich dachte«, fragte Hanna verwirrt, »die Mutter sei bei der Geburt des Babys gestorben?«
»Das«, entgegnete Sabrina leise, »ist bestimmt eine Verwandte oder eine Freundin der Familie! Im Schlafzimmer auf einem der Nachttischchen steht eine Fotographie einer jungen, hübschen Frau. Der Rahmen hat eine schwarze Binde. Das ist bestimmt die Mutter. Die Frau hier könnte eine Schwester der Verstorbenen sein, zumindest sieht sie der Frau auf dem Foto sehr ähnlich. Achtung, sie kommen die Treppe hoch!« Blitzschnell sprangen sie auf die Füße und liefen den Gang zurück.
»Hier hinein!« Hendrik schubste die Mädchen in eines der Gästezimmer und zog die Türe hinter sich zu. Mit klopfenden Herzen warteten sie ab, doch nichts geschah. Anscheinend ging die Familie zu Bett.
»Was machen wir denn jetzt?« Hanna war das nicht geheuer. »Lasst uns zurückgehen! Wir wissen auch nicht mehr, als zuvor.«
»So kurz vor dem Ziel aufgeben?« Sabrina war dagegen. »Wenn wir uns dünn machen, passen wir vielleicht alle hier in das Bett!«
»Nehmt ihr das Bett, ich lege mich auf den Teppich. Vielleicht gibt es ja noch irgendwo eine Ersatzdecke.« Mit diesen Worten tastete Hendrik vorsichtig das Zimmer ab und wirklich, in der unteren Schublade einer großen Kommode wurde er fündig. Erschöpft schliefen sie auf der Stelle ein.


24. Dezember
Die Sonne schien bereits durch das Fenster und malte Muster auf die Tapete, als Hanna als Erste erwachte. Verwundert blickte sie sich um, bis ihr alles wieder einfiel. Hastig weckte sie ihre Freunde auf.
»Es ist schon fast neun Uhr. Los aufstehen!“ Hendrik brummelte etwas Unverständliches vor sich hin und zog sich die Decke über den Kopf.
»Nichts da«, Sabrina war nun ebenfalls hellwach, »Hanna hat recht. Wir haben nicht mehr viel Zeit!« Verschlafen sah Hendrik die Mädchen an.
»Zuerst einmal habe ich Hunger!«
»Croissant oder Laugenstange?«, spöttelte Sabrina.
Doch Hendrik legte nur den Finger an die Lippen und bedeutete ihnen leise zu sein. Dann schlüpfte er aus dem Zimmer und kam kurze Zeit später wieder. Er hatte Obst, Wurst, Kuchen und eine Flasche Saft aus der Speisekammer gemopst. Er legte alles auf den Tisch und machte eine einladende Geste.
»Meine Damen! Es ist angerichtet!« Hungrig wie sie waren, blieb kein Krümelchen übrig und mit dem Saft löschten sie ihren Durst.
»Danke Hendrik«, Sabrina lächelte ihn an, »Das war genau richtig! Und jetzt an die Arbeit!«
Wieder gingen sie auf Zehenspitzen den Gang entlang, als sie von unten eine laute Männerstimme hörten. Neugierig schauten sie durch die Brüstungsstäbe und lauschten.

»Emelie«, hörten sie die tiefe Stimme von Emelies Vater schimpfen, »Wo hast du den Kaufvertrag versteckt? Du musst es mir verraten, es ist wichtig!« Emelie sauste die Treppe hinauf und stürmte in ihr Kinderzimmer, ohne Sabrina, Hanna oder Hendrik zu bemerken, die immer noch neben der Truhe kauerten.
»Ich muss in den Laden, wir unterhalten uns später darüber«, rief der Vater ihr hinterher. In Erwartung einer Antwort verharrte er noch einen Augenblick, dann verließ er mit schweren Schritten die Wohnung.
»Sie hat den Kaufvertrag bereits versteckt, wir sind zu spät«, wisperte Sabrina.
»Das glaube ich nicht«, gab Hanna ebenso leise zurück, „bisher hat alles hinter den Kalendertürchen irgendwann einen Sinn ergeben. Also muss es möglich sein, diesen dämlichen Vertrag zu finden.«
»He, so entschlossen kenne ich dich ja gar nicht«, wunderte sich Hendrik.
»Ich will nur endlich nach Hause«, flüsterte Hanna, »heute ist schließlich Heilig Abend!“ Nun mischte sich Sabrina ein.
»Wir sollten auf alle Fälle hier verschwinden! Gehen wir wieder in das Gästezimmer!« Leise schlichen sie zurück. Als Sabrina gerade die Türe hinter sich schließen wollte, fiel ihr der Adventskalender ein. „Ich muss noch einmal auf den Dachboden, ich bin gleich wieder da!« Und bevor die anderen beiden reagieren konnten, war sie fort und rannte so leise wie möglich zu der Dachbodenstiege.

Der Kalender lag noch genau da, wo sie ihn gestern fallen gelassen hatte. Sie schnappte ihn und eilte zurück. Als sie die Türe hinter sich ins Schloss zog, atmete sie erst einmal tief durch, bevor sie sich zu Hanna und Hendrik auf das Bett setzte.

»Los mach schon!«, drängelte Hendrik.
»Ja, ja immer mit der Ruhe«, antwortete Sabrina und öffnete behutsam das letzte Türchen. Eine Spieluhr! Schweigend starrten sie das Bildchen an, als sie draußen im Gang Stimmen vernahmen.
Eine laute Männerstimme und eine verängstigte Kinderstimme! Hendrik öffnete die Türe einen Spalt und lugte vorsichtig hinaus. An der Brüstung neben der Truhe stand Emelie. Ein dunkel gekleideter Mann hielt sie fest und schüttelte sie.
»Wo ist der verdammte Vertrag? Gib ihn mir! Hast du verstanden?«, schrie er sie an. Emelie blickte ihn mit angstvoll aufgerissenen Augen an, presste aber die Lippen fest auf einander.
»Er wird sie umbringen«, flüsterte Sabrina entsetzt, »wir müssen etwas unternehmen!« Sie wollte aus dem Zimmer schlüpfen, da hielt Hendrik sie am Arm zurück.
»Nein, das geht nicht. Das stand doch auf dem Zettel. Du darfst die Vergangenheit nicht verändern, sonst können wir nie wieder zurück.« Sabrina liefen die Tränen über das Gesicht, aber sie sah ein, dass er recht hatte. »Aber«, er zog seine Digitalkamera aus der Tasche, »wir können zumindest festhalten, was passiert. Damit können wir beweisen, dass Emelies Vater unschuldig ist.« Mit diesen Worten schob er sich langsam in den Gang und filmte das Geschehen. Auch Emelie liefen die Tränen über das Gesicht und sie rief kläglich um Hilfe. Doch ihre Rufe verhallten ungehört. Da versuchte sie es nochmals.
»Onkel Alfred, bitte lass mich los. Du tust mir weh!« Sie versuchte sich seinem Griff zu entwinden, schaffte es auch und lief zur Treppe. Blind vor Wut rannte er hinterher und gab ihr einen Stoss, so dass sie die Stufen herunter fiel. Laut fluchend stiefelte er nun ebenfalls ein Stockwerk tiefer und beugte sich über das Mädchen.
Sabrina, Hanna und Hendrik kauerten neben der Truhe und waren Zeugen des schrecklichen Geschehens. Die Mädchen hielten sich die Hand vor den Mund, um nicht aus Versehen zu schreien, und damit eventuell auf sich aufmerksam zu machen. Der Mann ließ das Kind einfach liegen, horchte kurz, ob jemand etwas gehört hatte, sah sich noch vorsichtig um, und ergriff dann eilig die Flucht.
»Können wir nicht wenigstens nach ihr sehen?«, wollte Hanna wissen. Doch Hendrik schüttelte den Kopf.
»Das ist zu gefährlich! Wir sollten lieber die Spieluhr suchen!« Sabrina dachte kurz nach, bevor sie antwortete:
»Ins Schlafzimmer! Wir müssen ins Elternschlafzimmer, dort steht eine Kommode, auf der ganz viele Spieluhren stehen.«
Sie rannten zurück und wirklich, Sabrina hatte richtig gesehen.
»Welche sollen wir nehmen?« Verzweifelt begannen die drei die Spieluhren aufzuziehen. Es standen mindestens zwanzig Spieluhren auf der Kommode. Da fiel Sabrina das Lied ein.
»Die Noten! Stille Nacht! Los zieht alle Spieluhren auf!« In Windeseile drehten sie an den, zum Teil winzigen Knöpfchen, bis alle Spieluhren ihre Melodie spielten. Hanna hörte als Erste aus dem Gewirr von Tönen diejenige heraus, bei der ‚Stille Nacht’ erklang. Vorsichtig hielt sie sie in den Händen.
Da warnte Hendrik leise die beiden Mädchen.
»Ich glaube, sie haben Emelie entdeckt. Wir sollten verschwinden!« Hanna sah ihre Freunde an.
»Aber wie kommen wir wieder zurück?« Ihre Stimme klang so verzweifelt, dass Sabrina sie spontan umarmte. Vorsichtig natürlich, damit die Spieluhr nicht kaputt ging. »Wir müssen wieder auf den Dachboden und dann versuchen wir es genau wie vorher, naja nur umgekehrt natürlich!“ Also schlichen sie, so leise sie konnten, den Gang entlang zur schmalen Stiege, die zum Dachboden hinaufführte.

Sorgfältig schlossen sie die Türe und fassten sich an den Händen. Sabrina stellte den Adventskalender auf eine der verstaubten Kisten und streckte die Hand aus. Sogleich spürte sie den Türgriff und drückte ihn herunter. Und genau wie gestern befanden sie sich wieder in Sabrinas Zimmer.

Erleichtert fielen sie sich in die Arme. Dann liefen sie die Treppe herunter. Enttäuscht stellten sie fest, dass das Haus leer war.
»Es ist Heilig Abend! Wo sind denn alle?« Sabrina wunderte sich. Hendrik überlegte laut:
»Unsere Eltern haben doch inzwischen bestimmt die Polizei eingeschaltet. Also, wenn sie nicht hier sind, dann entweder bei Hanna oder bei Onkel Kasimir. Darf ich mal euer Telefon benutzen?«
Sabrina nickte und reichte es ihm. Er wählte und gespannt warteten sie ab. Bereits nach dem zweiten Klingelton ertönte Herr Baltasars Stimme. Da Sabrina auf die Lautsprechertaste gedrückt hatte, konnten sie alle mithören.
»Onkel Kasimir? Hallo, hier ist Hendrik! Ich wollte nur sagen, dass es uns gut geht. Sabrina und Hanna sind auch hier! Wir...« Bevor er weitersprechen konnte, ertönte im Hintergrund ein lauter Aufschrei und jemand stürzte ans Telefon.

»Hendrik? Hier ist Mama! Geht es euch wirklich gut? Mein Gott! Ich bin so froh...« Ihre Stimme brach ab, anscheinend weinte sie. Hendrik musste schlucken. Da meldete sich plötzlich Hendriks Vater.
»Hendrik, hier spricht dein Vater! Wo seid ihr?«
»Wir sind bei Sabrina zu Hause!«, antwortete Hendrik.
»Ihr bleibt dort! Rührt euch ja nicht von der Stelle. Ich schicke euch einen Streifenwagen vorbei, der euch herbringt. Hast du mich verstanden?“ Hendrik nickte. Sabrina stieß ihn leicht an und flüsterte:
»Du musst schon richtig antworten. Dein Nicken sieht er doch nicht!«
»Ja, Papa, ich habe dich verstanden. Wir warten hier!« Während sie auf die Polizei warteten, sahen sie rasch im Kühlschrank nach. Erst jetzt merkten sie, wie hungrig sie waren. Sabrina schnitt rasch ein paar Scheiben Brot ab und jeder belegte sie sich, wie er wollte. Da klingelte es auch schon. Sie stopften schnell die Reste in den Mund und öffneten noch kauend die Tür.

Draußen standen zwei Polizisten in Uniform und ein großer, dunkelhaariger Mann. Sabrina erkannte ihn sofort. Er sah genau aus wie der Mann hinter dem zwanzigsten Türchen. Das musste Hendriks Vater sein. Hendrik fiel ihm auch sogleich um den Hals.
»Hallo Papa«, murmelte er.
»Hallo Hendrik! Ich nehme an, ihr seid Sabrina und Hanna?“ Hendrik stellte sie vor, dann zogen sie ihre Jacken an und trotteten hinter Hendriks Vater zusammen auf einen Streifenwagen zu, der mangels freier Parkplätze mit Blaulicht mitten auf der Straße stand. Da fuhr noch ein Polizeiauto vor und die beiden Polizisten, die gerade geklingelt hatten, stiegen dort ein, während Hendriks Vater die drei zu dem parkenden Streifenwagen bugsierte. Er überzeugte sich, dass alle angeschnallt waren, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Die Fahrt dauerte nicht lange, da sie nur bis zu Herrn Baltasars Schreibwarenladen ging.

Die Eltern von Sabrina und Hanna waren ebenfalls da und nahmen überglücklich ihre Töchter in die Arme. Irgendwann war es genug und Sabrina befreite sich aus der Umarmung ihrer Mutter.
»Warum sind hier eigentlich so viele Leute?«, fragte sie verwundert und blickte sich um.
»Ganz einfach junge Dame«, antwortete Hendriks Vater, »wir dachten, ihr wärt entführt worden. Herr Marberg hat nämlich gestern hier angerufen und gedroht, dass euch etwas passieren würde, wenn Onkel Kasimir, also Hendriks Onkel hier nicht bald auszieht. Daraufhin rief er, also Onkel Kasimir, bei mir an und berichtete mir davon, auch dass ihr euch auf die Suche nach dem verschwundenen Kaufvertrag gemacht habt, dass Hendrik beschattet wurde und so weiter. Und in so einem Fall wird immer eine Sonderkommission gebildet. Das sind die ganzen Leute, die ihr hier seht.«
»Was wird jetzt eigentlich aus dem Marberg und seinem Früchtchen von Sohn?«
»Nachdem Onkel Kasimir mich benachrichtigt hatte, habe ich veranlasst, dass Marberg Junior observiert wird. Und bei der Gelegenheit ist er gestern Abend bei einem Einbruch erwischt worden.«
»Künstlerpech«, fügte er grinsend hinzu. »Herrn Marberg Senior wird zunächst eine Anzeige wegen Erpressung ins Haus flattern. Er ist dem Wirtschaftskriminaldienst schon lange bekannt, konnte sich aber bisher immer mit Hilfe einiger tüchtiger Anwälte aus der Affäre ziehen. Doch jetzt würde ich gerne erfahren, wo ihr die letzten vierundzwanzig Stunden gesteckt habt?«
Sabrina, Hanna und Hendrik blickten sich an. Dann holte Sabrina tief Luft und begann zu erzählen. Wenn sie etwas ausließ, ergänzten die beiden anderen es. »Und dann standen wir plötzlich wieder in meinem Zimmer«, beendete Sabrina ihren Bericht.
»Und wo ist jetzt dieser Vertrag«, wollte ihre Mutter wissen. Sabrina neigte den Kopf ein wenig zur Seite und dachte angestrengt nach.
»Ich bräuchte mal die Spieluhr!«
Da schlug sich Hanna die Hand an die Stirn.
»Mist! Ich bin ein Idiot, die habe ich in deinem Zimmer stehen lassen.« Hendrik grinste breit, langte in seine Jackentasche und zog die Spieluhr hervor.
»Mann denkt halt mit!«, war sein einziger Kommentar, als er sie Sabrina reichte.
Diese betrachtete die Spieluhr zunächst eine Weile eingehend. Auf einer runden Platte stand eine Kirche mit einem spitzen Kirchturm, einige Tannenbäume und mehrere Holzmännchen, die Zettel in der Hand hielten. Das sollte wohl ein Chor sein.
»Vielleicht muss man den Boden abschrauben«, schlug Hanna vor, doch Sabrina schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Emelie war fünf Jahre alt. Da muss es ein einfaches Versteck sein. Wie zum Beispiel….« Sie unterbrach sich und nahm die Spieluhr in die Hand. Dann begann sie vorsichtig am Kirchturm zu drehen. »Wie zum Beispiel ein Kirchturm!«, rief sie triumphierend.
Neugierig beugten sich nun alle über den Kirchturm, den Sabrina in den Händen hielt. Sie hielt ihn nach unten und schüttelte ihn ein bisschen. Da fiel ein klein zusammen gefaltetes Papier heraus. Hendrik hob es auf und faltete es auseinander. Vor Aufregung hielten Hanna und Sabrina die Luft an.

»Lies schon vor«, bat Sabrina.
»Kaufvertrag, zwischen Hendrik Baltasar, geboren am 12.12.1845 und Jonathan Marberg, geboren am 10.05. 1820..« Weiter konnte er nicht lesen, denn die Mädchen fielen sich laut jubelnd um den Hals. Sabrina umarmte nun auch Hendrik spontan, worauf dieser einen ziemlich roten Kopf bekam, vor allem, weil alle zuschauten und seine Eltern vor sich hinlächelten. Sabrina nahm den Vertrag und reichte ihn mit einem feierlichen Gesichtsausdruck Onkel Kasimir.
»Hier«, sagte sie, »jetzt kann Sie niemand mehr vertreiben. Jetzt sind Sie der rechtmäßige Eigentümer dieses Ladens.« Hendriks Onkel, Großonkel genauer gesagt, war so gerührt, dass ihm die Worte fehlten. Andächtig nahm er den Kaufvertrag entgegen und reichte ihn dann an Hendriks Vater weiter.
»Meinst du, der Marberg lässt mich jetzt in Ruhe!« Hendriks Vater überflog den Vertrag und nickte.
»Ja, das glaube ich und jetzt lasst uns Weihnachten feiern. Gibt es hier eigentlich am Heiligen Abend einen Gottesdienst?«
»Ja, aber der beginnt bereits in zehn Minuten. Ich glaube, das schaffen wir nicht«, antwortete Sabrina und Hanna ergänzte: »Aber die Mitternachtsmette, die würden wir schaffen!«

Alle erklärten sich einverstanden und die Erwachsenen hatten es plötzlich sehr eilig nach Hause zu kommen. Das Sondereinsatzkommando und die anderen Polizisten hatten bereits vor einiger Zeit ihre Sachen zusammen gepackt und sich zurückgezogen. Sabrina, Hanna und Hendrik standen beieinander und fanden es sehr schade, dass nun jeder bei sich feiern wollte. Da bat Hendriks Mutter kurz um Aufmerksamkeit.
»Wie wäre es, wenn wir hier alle zusammen essen würden? Wenn jeder etwas mitbringt, reicht es bestimmt und Platz ist oben im Esszimmer genug. Sagen wir um neunzehn Uhr. Das ist in mehr als zwei Stunden. Dann bleibt noch genug Zeit, um zu duschen oder für die Bescherung zum Beispiel.« Sie lächelte ihren Sohn an. »Ich glaube Hendrik fände es sehr schade, wenn er Weihnachten nur mit seinen Eltern verbringen müsste.«
Hanna und Sabrina waren von dem Vorschlag sofort begeistert und redeten auf ihre Eltern ein, die sich bereitwillig überzeugen ließen. Da fiel Sabrina noch etwas ein.
»Könnten wir vielleicht die Frau Kroll ebenfalls einladen?« Sie errötete, fuhr aber fort: »Ich fände es ungerecht, wenn sie Heilig Abend alleine feiern müsste!« Alle nickten zustimmend und Hendriks Vater sagte lächelnd:
»Das ist eine gute Idee und ich bin froh, dass du das vorgeschlagen hast. Ich werde sie anrufen und abholen, wenn sie es möchte.«

Und so fuhr jede Familie zunächst zu sich nach Hause. Als Sabrina in das Auto ihrer Eltern einstieg, drehte sie sich noch einmal um und betrachtete das Haus. Und oben am Fenster stand lächelnd ein kleines Mädchen und winkte ihr zum Abschied zu. Sabrina winkte zurück und wusste, dass die kleine Emelie nun in Frieden ruhen konnte.

Glücklich lehnte sie sich zurück und freute sich auf die Bescherung, das gemeinsame Abendessen und den mitternächtlichen Gottesdienst, aber am meisten freute sie sich, dass sie Emelie und Onkel Kasimir hatten helfen können. Irgendwann musste sie sich noch bei ihrer Mutter für diesen wunderschönen, oder besser gesagt, schön geheimnisvollen Adventskalender bedanken.

Und welche Zeit wäre für Geheimnisse nicht besser geeignet als die Weihnachtszeit?
 



 
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