24. Verline

Amadis

Mitglied
Herrin der Schatten, Dienerin des Finsteren.
Sie fühlt die Ankunft, erahnt die Gefahr.
(Buch der Prophezeiung)


Der bärtige Riese im Nachbarbett stieß ein Geräusch aus, das an ein hungriges Großraubtier erinnerte. Verline richtete sich in ihrem Bett auf, fluchte und stand dann auf. Sie warf ihrem Mann einen wütenden Blick zu, dann verließ sie den Raum.
Die plötzliche schwere Erschütterung des Apaethon traf sie völlig unvorbereitet, ließ sie taumeln und beinahe stürzen. Im Kopf der Zauberin dröhnte eine Stimme.
„Verline!“ Ihr zersprang beinahe der Schädel, so stark war diese Präsenz. „Deine Häscher haben versagt! Drei der Ankömmlinge haben bereits zueinander gefunden und sie sind auf dem Weg, den vierten zu treffen!“
Verline griff aufstöhnend an ihren Kopf und sank auf die Knie.
„Ich habe bereits Schattenspürer ausgeschickt, mein Lord!“ Sie konnte nur mit Mühe sprechen. „Sie werden den Vierten ergreifen, bevor er die anderen erreicht! Für die anderen habe ich auch bereits einen Plan.“
„Das hoffe ich!“ Die Stimme dröhnte. „Das hoffe ich für dich, Zauberin!“
Der Druck ließ so plötzlich nach, dass Verline gänzlich zu Boden glitt. Die Drohung allerdings, die in diesen wenigen Worten gelegen hatte, blieb. Erst das Gefühl des kalten Steins an ihrer Wange brachte Verline wieder zu Bewusstsein. Eine Weile blieb sie schwer atmend liegen. Dann stand sie mühsam auf. Ihr Gesicht, das ihr aus dem großen Wandspiegel entgegen blickte, war bleich und ihr volles, rotes Lockenhaar, das ihr bis weit in den Rücken reichte, vom Schweiß verklebt. Sie setzte sich auf einen hölzernen Stuhl, der neben dem Spiegel an der Wand stand, und dachte nach. Dann straffte sich ihr Körper.
Vorsichtig tastete ihr Geist nach dem Apaethon, darauf gefasst, sich blitzschnell abzuschirmen, sollte die Gewalt, die sie Sekunden zuvor zu Boden gezwungen hatte, erneut nach ihr greifen. Aber es geschah nichts.
„Rantaras!“
Der Ruf der mächtigen Zauberin eilte durch die Weiten des Apaethon und alsbald fühlte sie die Präsenz des Gerufenen.
„Herrin!“
Verline konnte fast sehen, wie sich Rantaras steif verbeugte.
„Wo befindet ihr euch?“
Rantaras ließ ein Bild im Kopf seiner Lehrmeisterin entstehen, das ihr zeigte, wo sich der Jungmagier mit den drei Schattenspürern gerade befand. Zorn durchfuhr sie. Sie war ohnehin aufgebracht, weil der junge Magier der einzige gewesen war, der sich in erreichbarer Nähe der Gesuchten befunden hatte. Jetzt noch die soeben erfahrene Drohung ...
„Ihr seid zu langsam!“ Sie gab dem Gedanken gerade soviel Energie mit, dass sie ihrem Gesprächspartner Schmerzen bereitete, ihm aber keinen Schaden zufügte. „Ihr habt keine Zeit mehr zu verlieren!“
Sie konnte fühlen, wie Rantaras' Abschirmung zerbrach und er daraufhin vom Schmerz gepeinigt zusammen zuckte.
„Wir werden die Gesuchten rechtzeitig erreichen, Herrin!“
Ein freudloses Lächeln huschte über Verlines Gesicht.
„Das will ich dir auch raten, mein junger Freund!“
Damit unterbrach sie den Kontakt zu ihrem Schüler. Sie fühlte sich schon dadurch etwas besser, dass sie einem anderen ähnliche Schmerzen zugefügt und Angst eingeflößt hatte, wie es ihr zuvor geschehen war. Trotzdem hatte sie ein ungutes Gefühl, wenn sie an die Zukunft dachte. Es war noch unbestimmt, aber es lauerte im Hintergrund ihres Seins wie ein Raubtier, das nur auf eine Schwäche wartet. Entschlossen kniff sie die Lippen zusammen. Sie würde keine Schwäche zeigen, das nahm sie sich fest vor. Ohne dass es der Zauberin bewusst wurde, durchdrang ein winziger Teil ihrer Kraft ihre Abschirmung und der große Spiegel zerbrach in tausende von winzigen Scherben. Die Zauberin beschloss, sich nicht allein auf Rantaras und die Schattenspürer zu verlassen. Es hing einfach zu viel davon ab. Wieder tastete sie nach dem Apaethon ...
 



 
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