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Vagant

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Die halb geöffnete Markise gab sich alle Mühe den Stehtisch vor 'Sheriffs Coffee Bar' vor dem Regen zu schützen. Vergebens. Kowalsky stand nur da, presste zum Schutz vor der Nässe seine Schultern gegen die Wand, starrte auf den Espresso und versuchte die Teile des Gesprächs, die in seinem Kopf hin und her kreisten, einzufangen und zu einem Ganzen zusammen zu fügen.
– Ihre Leukozyten gefallen mir gar nicht. Ich denke, wir werden das Screening verfeinern müssen.
– Das heißt?
– Das heißt, dass ich in der nächsten Woche noch einmal eine Probe nehmen werde.
– Nein, die Leukos. Wie viele? Zahlen, irgendwas.
– Neunzigtausend und ‘n paar Zerquetschte.
– Bedeutet?
– Das bedeutet, dass die letzte Therapie leider nicht den erhofften Erfolg gebracht hat. Hören Sie zu, die Leukos sind nicht unbedingt das größte Problem, die bekommen wir mit Zytostatika schnell wieder in den Griff. Aber - und er schaute ihn dabei eindringlich an - die Lymphknoten sind weiterhin geschwollen, und der anhaltende Nachtschweiß ist auch kein gutes Zeichen.
– Also, keinen Bonus mehr?
– Bedeutet es erstmal gar nicht. Kowalsky, Sie dürfen die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen. Aber - und er blätterte durch die Akte ohne dabei genau hinzusehen - ich gebe zu, dass unsere Möglichkeiten nun langsam aber sicher erschöpft zu sein scheinen.
Er verstand in diesem Moment nicht genau, was dies für ihn bedeutete, und hatte sich auch nicht getraut danach zu fragen. Und selbst wenn er sich getraut hätte; bei Prognosen hielt sich sein Arzt immer zurück, soviel wusste er.

Während er dem Espresso beim kalt werden zuschaute, kam eine junge Frau aus dem Laden, ging auf den Stehtisch zu, und stellte ihren Cappuccino zwischen zwei kleine Pfützen.
– Darf ich, fragte sie.
Kowalsky hatte ihr Kommen nicht bemerkt, zog eine Braue in die Höhe und deutete mit dem Kopf auf irgendeinen Punkt neben sich. Er mochte diese Geste, war sich aber ihrer Schroffheit bewusst, und deutet deshalb eins seiner kleinen Lächeln an. Klein und tapfer, eher die Imitation eines Lächelns.
– Scheiß Wetter heut’, zischte sie mehr ins Irgendwo als zu ihm.
Ihm schien, als habe sie weder seine kleine Schroffheit, noch seinen Versuch eines Lächelns wahrgenommen.
– Ja, ‘s geht nun langsam auf den Winter zu, sagte er.
Sie nickte kurz, holte ihr Smartphone aus der Tasche und strich über den Touchscreen.
Sicher hat sie wichtige Sachen zu erledigen, dachte Kowalsky. Wenn du jung bist, dann sind alle Sachen wichtig.
Sie mochte vielleicht 25 sein, dachte er, nicht mal halb so alt wie er. Mit ihrer blassen Haut, den dunklen Augen und ihrer bad-Hair-Day-Frisur war sie so schön, dass er beim Betrachten einen Stich im Herz spürte - und wie immer wenn er einer jungen Frau gegenüberstand, hatte er den schweren Duft des Haarsprays der Mädchen in der Nase, die er schon in seiner Jugend nicht für sich gewinnen konnte. Ein weiteres Lächeln, nicht größer als das Vergangene, half ihm, seine Fassung wieder zu erlangen. Er blickte auf ihre Brille und ihre Collegetasche und tippte darauf, dass sie eine Studentin sein könnte. Sicher ist sie eine Studentin, Medien oder so was. Kowalsky lächelte noch einmal sein schmalbrüstiges Lächeln und trank den Espresso.

Kowalsky schien, als tippe sie ein paar Nachrichten an weiß der Teufel wen - und es sah so aus, als hätte sie keinen Spaß dabei. Vielleicht ist sie von einer Freundin versetzt worden, dachte er, oder von ihrem Freund. Er hielt sich immer für gut in solchen Dingen. Wer macht was? Wer wartet auf wen? Was denkt der eine, was der andere? Alles Fragen, die er meist nach wenigen Augenblicken verblüffend präzise beantworten konnte. Nun fiel ihm zu ihr nichts ein, und es schien, als hätte sein Talent ihn verlassen.
Sie sendete noch eine Nachricht zu irgend einem Satelliten, der, hoch über dem Dunst der über der Stadt lag, über ihnen kreiste, schüttelte dann den Kopf, murmelte etwas Unverständliches - das in seinen Ohren wie ‘ja-du-mich-auch’ klang -, machte ihr Smartphone aus und schmiss es in die Tasche, welche sie dann, wohl auf der Suche nach irgendetwas Wichtigem, durchwühlte.
Sie sucht nach den Zigaretten, dachte er, und sie sah in ihrer kleinen Wut, wie er fand, immer noch hinreißend aus.
– He, vielleicht kann ich Ihnen irgendwie helfen, sagte er.
– Ich muss meine Zigaretten vergessen haben, sagte sie - und ihr Blick irrte weiterhin durch die Tasche. Haben Sie vielleicht welche dabei?
– Nur Zigarillos.
– Nee, geht gar nicht. Aber danke.
Sie drehte sich um, und ging ohne ein weiteres Wort. Ihren Cappuccino hatte sie nicht angerührt. Kowalsky griff nach seinen Zigarillos. Er sah ihr nicht hinterher.

Nur wenige Sekunden später hörte er einen dumpfen Aufprall. Keine 20 Meter entfernt von ‘Sheriffs Coffee Bar’, gegenüber vom ‘Deichmann’, stand ein Bus der Linie 13. Leute blieben stehen und bildeten eine Traube. Wo kommen die Leute nur alle her? In so kurzer Zeit? Als Kowalsky den Bus erreicht hatte standen schon so viele Passanten um die Vorderräder herum, dass er nicht erkennen konnte, was passiert war. Dann sah er ein Smartphone auf dem Asphalt liegen, dann Beine, dann einen Körper, der halb unter dem Vorderrad des Busses zu liegen schien, und dann das Gesicht. Aus ihrem Hinterkopf floss Blut in eine Pfütze, die sich nun schon fast schwarz gefärbt hatte. Jemand rief einen Notarzt.

Nur wenige Augenblicke später bog der Rettungswagen um die Ecke. Der Notarzt beugte sich über das Mädchen, versuchte ihren Puls zu ertasten, drehte vorsichtig ihren Kopf etwas zur Seite und schaute nach der Wunde - man sah ihm an, dass es sich dabei um Routine handelte - und flüsterte dann etwas zum assistierenden Sanitäter.
– Sie muss auf der Stelle tot gewesen sein. War wohl in Gedanken, sagte er zu den Herumstehenden.
Kowalsky stand regungslos daneben, und ihm schien, als sehe sie nun, mit den geschlossenen Augen und dem halb geöffneten Mund immer noch so wunderschön aus, wie vor wenigen Augenblicken.
Ein Sanitäter legte eine Decke über den toten Körper. Als letztes bedeckte er das Gesicht.
– Hat jemand von ihnen den Unfall gesehen?, fragte er.
Aber da war Kowalsky schon wieder unterwegs zum Stehtisch.

Vincenzo kam mit zwei Grappas zum Tisch.
– Was ‘ne Scheiße, Mann. Gib mir mal ‘ne Fluppe, Kowalsky. Ich denk’, ich hab’ eine nötig.
Sie standen im Regen, der ihnen nun aber nichts mehr ausmachte. Sie sprachen kein Wort. Vincenzo führte die Moods mit zittrigen Händen an die Lippen.
– Was für ’ne verdammte Scheiße, Mann, stammelte er.
– Hm, sagte Kowalsky und zog den Rauch tief ein - wie immer, wenn er ein Leben verloren hatte.
 



 
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