Durchschreitet die Pforte der Finsternis.
Nehmt euch in acht vor dem, was lebt seit Äonen.
Einer wird bleiben in unendlicher Dunkelheit.
(Buch der Prophezeiung)
Als Wedekind wieder erwachte, war es schon hell, die Sonne war gerade erst aufgegangen. Die meisten seiner Gefährten waren bereits auf den Beinen und Wedekind rappelte sich auf. Nach einigen Dehnungsübungen fühlte er sich imstande, den Herausforderungen des Tages zu trotzen, zumal kein weiterer Tag im Sattel vor ihm lag.
„Dafür ein Abstieg auf einer unheimlichen Treppe durch eine finstere Höhle“, brummte er im Selbstgespräch. Er war sich nicht ganz sicher, ob das ein guter Tausch war.
„Gefallen dir diese Kleider besser, Wedelmann?“ Die dunkle Stimme unterbrach seine Gedanken.
Neben ihm stand Harbon. Wedekind musste sich erst einmal an den ungewohnten Anblick gewöhnen. Der Zauberer überragte ihn um Haupteslänge. Er war massig gebaut, was durch den Vollbart noch betont wurde. Inzwischen trug er dunkelgraue Leinenkleidung, die von einem Stoffgürtel zusammen gehalten wurde. Irgendwie erinnerte er Wedekind in diesem Aufzug an einen Schwergewichtsjudoka.
„Ja, das ist akzeptabel“, meinte er lächelnd. „Obwohl ich eigentlich dachte, du hättest einen langen weißen Bart und würdest einen spitzen hohen Hut mit breiter Krempe tragen.“
Harbon schaute ihn verständnislos an, bis Wedekind lachend abwinkte und sich zu den anderen gesellte.
Nach einem einfachen Frühstück – es gab wieder Brot, diesmal mit einem würzigen Aufstrich, der Wedekind an Kräuterquark erinnerte – kümmerten sich Elden und die beiden „Räuber“ um die Pferde, denen Sie die Hinterbeine mit Seilen zusammen banden. Wedekind erkundigte sich bei Harbon, was das zu bedeuten habe.
„Ich habe mit Rogas vereinbart, dass wir die Pferde hier zurück lassen. Wenn wir Ihnen die Hinterbeine fesseln, können Sie grasen, aber nicht weglaufen. Rogas kommt irgendwann heute und holt sie ab. Deswegen haben wir die Waren von ihm so günstig bekommen.“
Er wandte sich an die Gefährten.
„Packt eure Rucksäcke. Nehmt mit, was nötig ist, vor allem Lebensmittel und Wasser. Nehmt auch die Fackeln mit, wir werden sie vielleicht brauchen.“
Wortlos ging jeder daran, die Verpflegung und Ausrüstung in die einfachen Lederrucksäcke, die sie bei Rogas erworben hatten, zu packen. Wedekind hatte in seiner Jugend mehrere Reisen mit Rucksack unternommen und das Wandern mit einer Last auf dem Rücken war ihm daher nicht neu. Allerdings war das fünfzehn Jahre her und er war sich nicht sicher, wie lange er das durchhalten würde. Andererseits war er erleichtert, zumindest nicht auf dem Rücken eines Pferdes sitzen zu müssen.
Als er fertig war, schaute er in die Runde. Jolene schien derartige bedenken nicht zu kennen. Sie bewegte sich geschmeidig, als habe sie nie etwas anderes getan, wirkte fit und austrainiert. Jules war jung und machte ebenfalls den Eindruck, in guter körperlicher Verfassung zu sein. Beim jungen Franzosen hatte Wedekind eher Bedenken wegen seiner trotzigen Haltung, die er auch an diesem Morgen wieder an den Tag legte. Er hatte kaum ein Wort gesprochen und vermied wo es eben ging den Kontakt mit seinen Begleitern.
Wedekind zuckte mit den Schultern und vertrieb die Gedanken. Er würde genug mit sich selbst zu tun haben.
Die Gruppe war fertig zum Aufbruch. Jeder trug einen Rucksack auf dem Rücken und Harbon hatte zusätzlich einen ledernen Beutel umgehängt. Der Zauberer trug einen Wanderstab in der Hand, der aussah, als habe man ihn achtlos von einem Baum geschnitten. Verzierungen oder Symbole, die man beim Stab eines Zauberers vermutet hätte, suchte man hier vergebens. Wedekind musste grinsen. Wahrscheinlich war es einfach nur ein Wanderstab.
Harbon nickte ihm lächelnd zu, als er die Blicke des Antiquars bemerkte.
„Lasst uns aufbrechen!“ Seine Augen blitzten zuversichtlich und er setzte sich an die Spitze.
Wedekind beeilte sich, ihn einzuholen.
„Wie weit ist es bis zu dieser … Treppe?“
„Nicht weit, vielleicht eine halbe Meile. Genieße das Tageslicht, Wunderkind. Du wirst es eine Weile nicht mehr sehen, wenn wir die Pforte erst passiert haben.“
In der Tat war es wieder ein wunderschöner, frühlingshafter Morgen. Die Sonne strahlte von einem fast makellos blauen Himmel. Es duftete nach exotischen Blumen und Insekten hatten bereits begonnen, ihrem Tagwerk nachzugehen. Überall summte und raschelte es.
Wedekind folgte dem Rat des Zauberers, saugte diese Eindrücke in sich auf und genoss den Morgenspaziergang so gut es eben ging.
Nach etwa dreißig Minuten hob Harbon die Hand und die Gruppe blieb stehen. Wedekind schaute sich um. Sie waren aus dem Wald getreten und standen jetzt vor einer Felswand, die aber nicht allzu hoch aufragte. Von einem Eingang oder einer Pforte war allerdings nichts zu sehen.
Harbon schien nachzudenken. Er schaute suchend umher, schloss dann die Augen und erstarrte. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, grinste und ging zielstrebig auf eine Stelle an der Felswand zu, die sich soweit Wedekind erkennen konnte, in nichts von der übrigen Wand unterschied.
Der Zauberer blieb etwa zwei Meter von der Wand entfernt stehen und bedeutete seinen Gefährten zurückzubleiben. Dann schloss er erneut die Augen, hob den Wanderstab und murmelte einige unverständliche Worte. Anschließend machte er eine Bewegung mit dem Stab und plötzlich tauchte an der Wand eine Öffnung auf, die von einem hölzernen Tor verschlossen war. Die Öffnung war etwa drei Meter breit und ebenso hoch, die Tür mit metallenen Beschlägen versehen. Wedekind trat verblüfft einen Schritt zurück.
„Wie …?“, begann er, fand aber keine weiteren Worte.
Harbon lächelte.
„Ein Tarnzauber, Wedelmann. Nicht jeder soll diese Pforte entdecken.“
Er stellte sich vor die Pforte, streckte die Hand aus und murmelte einige leise Worte. Die Tür schwang langsam nach innen auf und gab eine finstere Öffnung frei.
„Sieht ja einladend aus“, brummte Jules und kickte einen Stein in Richtung der Öffnung.
„Lass das sein!“, fuhr Harbon ihn an. „Enthaltet euch allem, was das, was dort vielleicht noch lebt, auf uns aufmerksam machen könnte. Sonst bereuen wir das!“
Jules hob beschwichtigend die Hände und setzte wieder sein Schmollgesicht auf.
„Sieht aus, als müssten wir uns vorerst vom Sonnenlicht verabschieden“, meinte Elden mit einem bedauernden Blick zum blauen Himmel. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, was er davon hielt.
„Sollen wir die Fackeln entzünden?“, erkundigte sich Mirdal.
„Nein!“ Harbon machte eine ablehnende Geste. „Die sind nur für den Notfall. Ich habe etwas Besseres.“
Er griff in seinen ledernen Beutel und als er die Hand wieder hervorzog lag ein Gegenstand auf seiner Handfläche, der Wedekind an eine Murmel aus Porzellan erinnerte, allerdings eine sehr große. Die „Murmel“ hatte einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern und war weiß mit verschiedenfarbigen Maserungen.
„Ein Syrill!“, hauchte Elden beinahe ehrfürchtig. „Du überraschst mich immer wieder, Harbon.“
Der Zauberer lächelte.
„Wollt ihr jetzt mit Murmeln spielen?“, erkundigte sich Jules spöttisch.
Jolene verdrehte die Augen und Harbon warf einen verweisenden Blick in Richtung des jungen Franzosen, enthielt sich aber eines verbalen Kommentars. Dann streckte er den Arm aus. Die „Murmel“ lag immer noch auf seiner Handfläche. Harbon flüsterte einige Worte und vollführte mit der freien Hand einige kurze Bewegungen. Plötzlich begann die Kugel, die Elden als Syrill bezeichnet hatte, zu schweben, stieg nach oben, bis sie einige Zentimeter über der Kopfhöhe des Zauberers anlangte. Dann begann sie, sich auszudehnen, erreichte den Durchmesser eines Fußballs. Gleichzeitig fing sie an zu glühen, immer heller. Wedekind wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Durch eine weitere Handbewegung sorgte Harbon dafür, dass das Glühen nicht mehr heller wurde. Er ging einen Schritt nach vorn und registrierte befriedigt, dass die Kugel sich vor ihm her bewegte.
„Na dann los“, meinte er mit einem Lächeln und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.
Die leuchtende Kugel zeigte ihnen hinter der Toröffnung einen nahezu kreisförmigen Raum von etwa zehn Metern Durchmesser. Als alle eingetreten waren, schloss sich die Pforte hinter ihnen mit einem Krachen, das Wedekind zusammenzucken ließ. Plötzlich fühlte er sich eingeschlossen und ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass er mit diesem Gefühl nicht allein war. Er trat neben Harbon.
„Was ist dieser … Syrill?“ Unbewusst hatte er die Stimme gesenkt, meinte aber trotzdem, dass sie unnatürlich laut durch den Raum klang.
„Syrills werden auf dem Südkontinent erschaffen. Es handelt sich um einen speziellen Stein, der von Magiern mit bestimmten Kräften versehen werden kann.“
Wedekind nickte. Dann fiel ihm etwas auf.
„Warum nennst du sie Magier und nicht Zauberer?“
„Das ist ein Unterschied“, erklärte Harbon bereitwillig. „Ein Zauberer bezieht seine Kraft aus dem Apaethon, während ein Magier diese Kraft in sich selbst trägt und auch Magie wirken kann, wenn er keinen Zugriff auf das Kraftfeld hat.“ Er schaute in die Runde. „Aber genug jetzt. Lasst uns aufbrechen. Versucht möglichst wenig Lärm zu machen, solange wir uns in dieser Höhle befinden!“
Er wandte sich zum gegenüberliegenden Ende des beinahe kreisrunden Raumes, wo es eine breite Öffnung gab. Dahinter öffnete sich ein Gang mit gewölbter Decke, der etwa drei Meter breit und fast ebenso hoch war. Decke und Wände war grob bearbeitet und in Abständen von einigen Metern gab es dicke Baumstämme, die zur Abstützung der Decke dienten.
Wedekind erinnerte all das an ein altes Bergwerk, das er vor einigen Jahren besichtigt hatte. Er fühlte sich nicht besonders wohl. Er war nicht klaustrophobisch, aber die Dunkelheit, die außerhalb des Lichtkreises lauerte, den der Syrill verbreitete, legte sich wie eine ständige Last auf sein Gemüt. Schon nach wenigen Minuten sehnte er sich nach dem Licht der Sonne.
Der Gang führte fast geradeaus und sie waren etwa fünf Minuten marschiert, als Wände und Decke plötzlich zurückwichen. Harbon blieb stehen und wartete, bis seine Gefährten den Gang ebenfalls verlassen hatten. Dann ließ er durch eine Handbewegung den Syrill weiter aufsteigen und erhöhte die Leuchtkraft des Steins. Ein Raunen ging durch die Reihen der Gefährten. Sie standen am Rand einer riesigen Höhle, die sich abwärts durch den Berg in unergründliche Tiefen fortsetzte. Der Syrill tauchte alles in ein weißes, hartes Licht, das dort, wo es nicht hinreichte, für nachtschwarze Schatten sorgte. Die Terrasse, auf der sie standen, war sicherlich dreißig bis vierzig Meter breit und fünfzehn Meter tief.
Als Wedekind einige Meter nach vorn ging, konnte er erkennen, dass sich eine Treppe mit drei bis vier Meter breiten Stufen nach unten erstreckte, bis sie in der Dunkelheit verschwand. Ihn schauderte bei dem Gedanken, was in diesen Tiefen auf sie lauern mochte. Sogar Jules schien beeindruckt. Sein Gesicht, in den letzten Tagen verschlossen und mürrisch, zeigte ungläubiges Staunen.
„Genug geschaut“, meinte Harbon grimmig und beorderte den Syrill mit einer Handbewegung wieder nach unten. Die Helligkeit verringerte sich wieder.
„Warum lässt du das Licht nicht eingeschaltet?“, maulte Jules.
„Wir sollten hier möglichst wenig Aufmerksamkeit auf uns ziehen“, erklärte der Zauberer. „Also wenn es geht keine lauten Geräusche und so wenig Licht wie möglich.“
Er wandte sich ab und marschierte mit langen, entschlossenen Schritten auf die Treppe zu. Die Gefährten folgten ihm schweigend.
Die Stufen waren ungewohnt hoch, aber nach einer Weile hatte sich Wedekind daran gewöhnt. Allerdings war es auf Dauer doch recht anstrengend und nach etwa einer Stunde des ständigen Abstiegs fühlten sich seine Oberschenkel und Knie nicht mehr wirklich gut an. So war er froh, dass der Zauberer stehen blieb, als sie eine Plattform erreichten, von der rechts ein steinerner Steg hinüber zur Höhlenwand abging. In dieser sah man eine Türöffnung.
Elden, dem die Anstrengungen nichts auszumachen schienen, schaute neugierig hinüber.
„Wohin führt dieser Weg?“, erkundigte er sich.
Harbon zuckte mit den Schultern und setzte sich auf den Treppenabsatz. Wedekind tat es ihm erleichtert gleich.
„Es gibt hier überall Höhlensysteme, die früher genutzt wurden, um Truppen zur Verteidigung der Treppe zu stationieren.“
Elden wirkte überrascht.
„Hier wurde gekämpft?“
Der Zauberer nickte.
„Nicht nur einmal, mein Freund. Diese Treppe hat im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende einiges gesehen.“
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir das anschaue?“ Eldens Augen funkelten abenteuerlustig.
„Nein, mach nur, wenn du neugierig bist. Aber sieh dich vor.“
Wedekind verspürte wenig Lust, dem großgewachsenen Waldläufer über das schmale Felsband zu folgen, aber Jolene schloss sich ihm wie selbstverständlich an. Elden entzündete eine Fackel und bald waren er und Jolene aus dem Lichtkreis des Syrill verschwunden.
Nehmt euch in acht vor dem, was lebt seit Äonen.
Einer wird bleiben in unendlicher Dunkelheit.
(Buch der Prophezeiung)
Als Wedekind wieder erwachte, war es schon hell, die Sonne war gerade erst aufgegangen. Die meisten seiner Gefährten waren bereits auf den Beinen und Wedekind rappelte sich auf. Nach einigen Dehnungsübungen fühlte er sich imstande, den Herausforderungen des Tages zu trotzen, zumal kein weiterer Tag im Sattel vor ihm lag.
„Dafür ein Abstieg auf einer unheimlichen Treppe durch eine finstere Höhle“, brummte er im Selbstgespräch. Er war sich nicht ganz sicher, ob das ein guter Tausch war.
„Gefallen dir diese Kleider besser, Wedelmann?“ Die dunkle Stimme unterbrach seine Gedanken.
Neben ihm stand Harbon. Wedekind musste sich erst einmal an den ungewohnten Anblick gewöhnen. Der Zauberer überragte ihn um Haupteslänge. Er war massig gebaut, was durch den Vollbart noch betont wurde. Inzwischen trug er dunkelgraue Leinenkleidung, die von einem Stoffgürtel zusammen gehalten wurde. Irgendwie erinnerte er Wedekind in diesem Aufzug an einen Schwergewichtsjudoka.
„Ja, das ist akzeptabel“, meinte er lächelnd. „Obwohl ich eigentlich dachte, du hättest einen langen weißen Bart und würdest einen spitzen hohen Hut mit breiter Krempe tragen.“
Harbon schaute ihn verständnislos an, bis Wedekind lachend abwinkte und sich zu den anderen gesellte.
Nach einem einfachen Frühstück – es gab wieder Brot, diesmal mit einem würzigen Aufstrich, der Wedekind an Kräuterquark erinnerte – kümmerten sich Elden und die beiden „Räuber“ um die Pferde, denen Sie die Hinterbeine mit Seilen zusammen banden. Wedekind erkundigte sich bei Harbon, was das zu bedeuten habe.
„Ich habe mit Rogas vereinbart, dass wir die Pferde hier zurück lassen. Wenn wir Ihnen die Hinterbeine fesseln, können Sie grasen, aber nicht weglaufen. Rogas kommt irgendwann heute und holt sie ab. Deswegen haben wir die Waren von ihm so günstig bekommen.“
Er wandte sich an die Gefährten.
„Packt eure Rucksäcke. Nehmt mit, was nötig ist, vor allem Lebensmittel und Wasser. Nehmt auch die Fackeln mit, wir werden sie vielleicht brauchen.“
Wortlos ging jeder daran, die Verpflegung und Ausrüstung in die einfachen Lederrucksäcke, die sie bei Rogas erworben hatten, zu packen. Wedekind hatte in seiner Jugend mehrere Reisen mit Rucksack unternommen und das Wandern mit einer Last auf dem Rücken war ihm daher nicht neu. Allerdings war das fünfzehn Jahre her und er war sich nicht sicher, wie lange er das durchhalten würde. Andererseits war er erleichtert, zumindest nicht auf dem Rücken eines Pferdes sitzen zu müssen.
Als er fertig war, schaute er in die Runde. Jolene schien derartige bedenken nicht zu kennen. Sie bewegte sich geschmeidig, als habe sie nie etwas anderes getan, wirkte fit und austrainiert. Jules war jung und machte ebenfalls den Eindruck, in guter körperlicher Verfassung zu sein. Beim jungen Franzosen hatte Wedekind eher Bedenken wegen seiner trotzigen Haltung, die er auch an diesem Morgen wieder an den Tag legte. Er hatte kaum ein Wort gesprochen und vermied wo es eben ging den Kontakt mit seinen Begleitern.
Wedekind zuckte mit den Schultern und vertrieb die Gedanken. Er würde genug mit sich selbst zu tun haben.
Die Gruppe war fertig zum Aufbruch. Jeder trug einen Rucksack auf dem Rücken und Harbon hatte zusätzlich einen ledernen Beutel umgehängt. Der Zauberer trug einen Wanderstab in der Hand, der aussah, als habe man ihn achtlos von einem Baum geschnitten. Verzierungen oder Symbole, die man beim Stab eines Zauberers vermutet hätte, suchte man hier vergebens. Wedekind musste grinsen. Wahrscheinlich war es einfach nur ein Wanderstab.
Harbon nickte ihm lächelnd zu, als er die Blicke des Antiquars bemerkte.
„Lasst uns aufbrechen!“ Seine Augen blitzten zuversichtlich und er setzte sich an die Spitze.
Wedekind beeilte sich, ihn einzuholen.
„Wie weit ist es bis zu dieser … Treppe?“
„Nicht weit, vielleicht eine halbe Meile. Genieße das Tageslicht, Wunderkind. Du wirst es eine Weile nicht mehr sehen, wenn wir die Pforte erst passiert haben.“
In der Tat war es wieder ein wunderschöner, frühlingshafter Morgen. Die Sonne strahlte von einem fast makellos blauen Himmel. Es duftete nach exotischen Blumen und Insekten hatten bereits begonnen, ihrem Tagwerk nachzugehen. Überall summte und raschelte es.
Wedekind folgte dem Rat des Zauberers, saugte diese Eindrücke in sich auf und genoss den Morgenspaziergang so gut es eben ging.
Nach etwa dreißig Minuten hob Harbon die Hand und die Gruppe blieb stehen. Wedekind schaute sich um. Sie waren aus dem Wald getreten und standen jetzt vor einer Felswand, die aber nicht allzu hoch aufragte. Von einem Eingang oder einer Pforte war allerdings nichts zu sehen.
Harbon schien nachzudenken. Er schaute suchend umher, schloss dann die Augen und erstarrte. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, grinste und ging zielstrebig auf eine Stelle an der Felswand zu, die sich soweit Wedekind erkennen konnte, in nichts von der übrigen Wand unterschied.
Der Zauberer blieb etwa zwei Meter von der Wand entfernt stehen und bedeutete seinen Gefährten zurückzubleiben. Dann schloss er erneut die Augen, hob den Wanderstab und murmelte einige unverständliche Worte. Anschließend machte er eine Bewegung mit dem Stab und plötzlich tauchte an der Wand eine Öffnung auf, die von einem hölzernen Tor verschlossen war. Die Öffnung war etwa drei Meter breit und ebenso hoch, die Tür mit metallenen Beschlägen versehen. Wedekind trat verblüfft einen Schritt zurück.
„Wie …?“, begann er, fand aber keine weiteren Worte.
Harbon lächelte.
„Ein Tarnzauber, Wedelmann. Nicht jeder soll diese Pforte entdecken.“
Er stellte sich vor die Pforte, streckte die Hand aus und murmelte einige leise Worte. Die Tür schwang langsam nach innen auf und gab eine finstere Öffnung frei.
„Sieht ja einladend aus“, brummte Jules und kickte einen Stein in Richtung der Öffnung.
„Lass das sein!“, fuhr Harbon ihn an. „Enthaltet euch allem, was das, was dort vielleicht noch lebt, auf uns aufmerksam machen könnte. Sonst bereuen wir das!“
Jules hob beschwichtigend die Hände und setzte wieder sein Schmollgesicht auf.
„Sieht aus, als müssten wir uns vorerst vom Sonnenlicht verabschieden“, meinte Elden mit einem bedauernden Blick zum blauen Himmel. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, was er davon hielt.
„Sollen wir die Fackeln entzünden?“, erkundigte sich Mirdal.
„Nein!“ Harbon machte eine ablehnende Geste. „Die sind nur für den Notfall. Ich habe etwas Besseres.“
Er griff in seinen ledernen Beutel und als er die Hand wieder hervorzog lag ein Gegenstand auf seiner Handfläche, der Wedekind an eine Murmel aus Porzellan erinnerte, allerdings eine sehr große. Die „Murmel“ hatte einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern und war weiß mit verschiedenfarbigen Maserungen.
„Ein Syrill!“, hauchte Elden beinahe ehrfürchtig. „Du überraschst mich immer wieder, Harbon.“
Der Zauberer lächelte.
„Wollt ihr jetzt mit Murmeln spielen?“, erkundigte sich Jules spöttisch.
Jolene verdrehte die Augen und Harbon warf einen verweisenden Blick in Richtung des jungen Franzosen, enthielt sich aber eines verbalen Kommentars. Dann streckte er den Arm aus. Die „Murmel“ lag immer noch auf seiner Handfläche. Harbon flüsterte einige Worte und vollführte mit der freien Hand einige kurze Bewegungen. Plötzlich begann die Kugel, die Elden als Syrill bezeichnet hatte, zu schweben, stieg nach oben, bis sie einige Zentimeter über der Kopfhöhe des Zauberers anlangte. Dann begann sie, sich auszudehnen, erreichte den Durchmesser eines Fußballs. Gleichzeitig fing sie an zu glühen, immer heller. Wedekind wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Durch eine weitere Handbewegung sorgte Harbon dafür, dass das Glühen nicht mehr heller wurde. Er ging einen Schritt nach vorn und registrierte befriedigt, dass die Kugel sich vor ihm her bewegte.
„Na dann los“, meinte er mit einem Lächeln und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.
Die leuchtende Kugel zeigte ihnen hinter der Toröffnung einen nahezu kreisförmigen Raum von etwa zehn Metern Durchmesser. Als alle eingetreten waren, schloss sich die Pforte hinter ihnen mit einem Krachen, das Wedekind zusammenzucken ließ. Plötzlich fühlte er sich eingeschlossen und ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass er mit diesem Gefühl nicht allein war. Er trat neben Harbon.
„Was ist dieser … Syrill?“ Unbewusst hatte er die Stimme gesenkt, meinte aber trotzdem, dass sie unnatürlich laut durch den Raum klang.
„Syrills werden auf dem Südkontinent erschaffen. Es handelt sich um einen speziellen Stein, der von Magiern mit bestimmten Kräften versehen werden kann.“
Wedekind nickte. Dann fiel ihm etwas auf.
„Warum nennst du sie Magier und nicht Zauberer?“
„Das ist ein Unterschied“, erklärte Harbon bereitwillig. „Ein Zauberer bezieht seine Kraft aus dem Apaethon, während ein Magier diese Kraft in sich selbst trägt und auch Magie wirken kann, wenn er keinen Zugriff auf das Kraftfeld hat.“ Er schaute in die Runde. „Aber genug jetzt. Lasst uns aufbrechen. Versucht möglichst wenig Lärm zu machen, solange wir uns in dieser Höhle befinden!“
Er wandte sich zum gegenüberliegenden Ende des beinahe kreisrunden Raumes, wo es eine breite Öffnung gab. Dahinter öffnete sich ein Gang mit gewölbter Decke, der etwa drei Meter breit und fast ebenso hoch war. Decke und Wände war grob bearbeitet und in Abständen von einigen Metern gab es dicke Baumstämme, die zur Abstützung der Decke dienten.
Wedekind erinnerte all das an ein altes Bergwerk, das er vor einigen Jahren besichtigt hatte. Er fühlte sich nicht besonders wohl. Er war nicht klaustrophobisch, aber die Dunkelheit, die außerhalb des Lichtkreises lauerte, den der Syrill verbreitete, legte sich wie eine ständige Last auf sein Gemüt. Schon nach wenigen Minuten sehnte er sich nach dem Licht der Sonne.
Der Gang führte fast geradeaus und sie waren etwa fünf Minuten marschiert, als Wände und Decke plötzlich zurückwichen. Harbon blieb stehen und wartete, bis seine Gefährten den Gang ebenfalls verlassen hatten. Dann ließ er durch eine Handbewegung den Syrill weiter aufsteigen und erhöhte die Leuchtkraft des Steins. Ein Raunen ging durch die Reihen der Gefährten. Sie standen am Rand einer riesigen Höhle, die sich abwärts durch den Berg in unergründliche Tiefen fortsetzte. Der Syrill tauchte alles in ein weißes, hartes Licht, das dort, wo es nicht hinreichte, für nachtschwarze Schatten sorgte. Die Terrasse, auf der sie standen, war sicherlich dreißig bis vierzig Meter breit und fünfzehn Meter tief.
Als Wedekind einige Meter nach vorn ging, konnte er erkennen, dass sich eine Treppe mit drei bis vier Meter breiten Stufen nach unten erstreckte, bis sie in der Dunkelheit verschwand. Ihn schauderte bei dem Gedanken, was in diesen Tiefen auf sie lauern mochte. Sogar Jules schien beeindruckt. Sein Gesicht, in den letzten Tagen verschlossen und mürrisch, zeigte ungläubiges Staunen.
„Genug geschaut“, meinte Harbon grimmig und beorderte den Syrill mit einer Handbewegung wieder nach unten. Die Helligkeit verringerte sich wieder.
„Warum lässt du das Licht nicht eingeschaltet?“, maulte Jules.
„Wir sollten hier möglichst wenig Aufmerksamkeit auf uns ziehen“, erklärte der Zauberer. „Also wenn es geht keine lauten Geräusche und so wenig Licht wie möglich.“
Er wandte sich ab und marschierte mit langen, entschlossenen Schritten auf die Treppe zu. Die Gefährten folgten ihm schweigend.
Die Stufen waren ungewohnt hoch, aber nach einer Weile hatte sich Wedekind daran gewöhnt. Allerdings war es auf Dauer doch recht anstrengend und nach etwa einer Stunde des ständigen Abstiegs fühlten sich seine Oberschenkel und Knie nicht mehr wirklich gut an. So war er froh, dass der Zauberer stehen blieb, als sie eine Plattform erreichten, von der rechts ein steinerner Steg hinüber zur Höhlenwand abging. In dieser sah man eine Türöffnung.
Elden, dem die Anstrengungen nichts auszumachen schienen, schaute neugierig hinüber.
„Wohin führt dieser Weg?“, erkundigte er sich.
Harbon zuckte mit den Schultern und setzte sich auf den Treppenabsatz. Wedekind tat es ihm erleichtert gleich.
„Es gibt hier überall Höhlensysteme, die früher genutzt wurden, um Truppen zur Verteidigung der Treppe zu stationieren.“
Elden wirkte überrascht.
„Hier wurde gekämpft?“
Der Zauberer nickte.
„Nicht nur einmal, mein Freund. Diese Treppe hat im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende einiges gesehen.“
„Hast du etwas dagegen, wenn ich mir das anschaue?“ Eldens Augen funkelten abenteuerlustig.
„Nein, mach nur, wenn du neugierig bist. Aber sieh dich vor.“
Wedekind verspürte wenig Lust, dem großgewachsenen Waldläufer über das schmale Felsband zu folgen, aber Jolene schloss sich ihm wie selbstverständlich an. Elden entzündete eine Fackel und bald waren er und Jolene aus dem Lichtkreis des Syrill verschwunden.