32. Der lange Weg

molly

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Der lange Weg

Der Vater legte eine kleine Pause ein, dann erzählte er weiter:

"Im Morgengrauen standen wir auf. Mutti hatte Geldscheine unter den Sohlen in unseren Schuhen versteckt. Lena begleitete uns zum Bahnhof. Unterwegs hielt uns eine fremde Frau an, sie sprach zuerst mit Lena, ich verstand kein Wort. Da befahl uns Mutti, die Schuhe auszuziehen. Die Frau holte das Geld heraus und verschwand.“

„Die hat gestohlen“, warf Florian ein.

„Ja, ich war auch empört“, erzählte der Vater weiter.
„Wieso durfte diese Frau unser Geld stehlen? Mutti erklärte, dass jetzt nach dem Krieg die meisten Menschen in Not wären und manche würden vergessen, was richtig und was falsch war, wir sollten nicht mehr daran denken, sondern uns auf Oma freuen.

Auf dem Bahnhof warteten schon viele Menschen und es dauerte lang, bis Lena und Mutti einen Platz im Zug fanden. Lena lud mit Mutti den Kinderwagen ein. Sie half uns beim Einsteigen und umarmte uns ein letztes Mal. Viele Menschen drängten nach und Lena hatte große Mühe aus der Menschenmasse heraus zu kommen.

Wir standen dicht gedrängt im Flur und konnten uns nach keiner Seite bewegen. Der Zug hielt an jeder Bahnstation und immer stiegen Menschen ein. Ich überlegte mir, wo sie wohl in dem überfüllten Zug noch einen Platz finden würden. Kurz vor unserem Ziel fuhr der Zug langsamer, blieb dann stehen, ruckelte los, hielt wieder an und blieb endgültig stehen. Eine Achse an der Lokomotive war gebrochen und es würde Stunden dauern, bis sie weiter fahren konnte. Solange wollte Mutti nicht warten. Sie kannte sich in dieser Gegend aus und bat die Mitreisenden, ihr beim Aussteigen zu helfen. Mutti bedankte sich, setzte Toni wieder in den Kinderwagen und gemeinsam schoben wir ihn über die Gleise die Böschung hinunter. Frohgemut marschierten wir auf einem Feldweg weiter und hatten den Zug bald hinter uns gelassen. Im Nu standen wir vor Omas Haus und begrüßten sie stürmisch. Im Hause waren keine Gäste mehr und wir durften in allen Zimmern spielen.

Weihnachten kam, wieder ein Fest ohne Vati, er fehlte uns sehr. Mutti hatte noch keine Nachricht von ihm. Ich erinnerte mich nicht mehr an sein Gesicht, wusste auch nicht mehr, wie seine Stimme klang. Aber die lustigen Spiele hatte ich nicht vergessen.
An einem Frühlingstag kam unser Nachbar, Herr Plisch, in die Küche gestürzt. Wir saßen gerade beim Essen und er berichtete, dass im Nachbarort die Vertreibung begann. Die Miliz würde sicher bald hier sein. Ich fragte, was Miliz sei und Mutti sagte, das hieße Militärpolizei. Was vertreiben bedeutete wusste ich. Wir vertrieben Mücken aus der Schlafkammer, Wespen und Fliegen aus der Küche und Enten und Hühner aus Omas Garten. Nun sollten wir vertrieben werden, aber warum und wohin? Würde Vati uns dann jemals wieder finden?

Mutti erklärte, wenn er noch lebte, würde er uns überall finden. Aber das dauerte eben eine Weile. Ich hätte lieber hier bei Oma auf den Vati gewartet und wollte fragen, ob wir trotz Vertreibung nicht doch hier bleiben konnten. Aber Oma saß zusammengekrümmt am Tisch und murmelte, dass der Krieg uns jetzt auch noch die Heimat nahm. Mutti tröstete die Oma und sagte, wir würden bestimmt einen neuen guten Platz zum Leben finden.

Am nächsten Morgen wurden wir unsanft aus dem Schlaf gerissen. Im Hof brüllten Soldaten in fremder Sprache und polterten ungestüm an die Haustüre. Oma öffnete. Ein Soldat las einen Brief vor, in dem stand, dass wir in zwei Stunden auf dem Güterbahnhof sein müssten. Alles, was wir tragen konnten, durften wir mitnehmen.
Ruth freute sich auf die neue Reise und lief fröhlich voran. Iris hatte ihre Puppe im Arm und hielt sich an Oma fest. Ich drängte mich an Mutti und Toni saß wie immer im Kinderwagen auf dem Rucksack.
Am Bahnhof erwarteten uns viele Soldaten. Sie durchwühlten die Rucksäcke und nahmen heraus was ihnen gefiel. Alle Hosen und Jackentaschen wurden nach Schmuckstücken durchsucht, auch bei uns Kindern. Tonis Wagen mussten wir hergeben, ein Mann verlangte Muttis Jacke. Ein anderer Soldat griff sich Iris Puppe, schlitzte ihr den Bauch auf und schaute nach, ob er da vielleicht ein Schmuckstück fand. Aber er entdeckte nichts und so warf er die Puppe auf einen Stapel. Iris weinte bitterlich und dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Das wertvollste das uns noch übrig blieb, war die Milchkanne von Oma. Wir benutzten die Kanne auf der Reise als Nachttopf.

Nach der Kontrolle wurden wir in einen Viehwagon geschoben. Bevor Iris einstieg, trat einer der fremden Soldaten zu ihr. Sie weinte noch immer. Der Soldat legte den Finger auf den Mund und blinzelte ihr freundlich zu. Dann gab er Iris die Puppe zurück und entfernte sich schnell.
In unserem Wagon waren 36 Menschen, wir saßen dicht nebeneinander auf dem Boden und von außen schlossen die Soldaten die Türen zu. Die Fahrt dauerte drei oder vier Tage. Unser Zug hielt nicht oft, doch wenn die Wagontür auf war, sahen wir nur zerstörte Städte, verbrannte Wälder und verlassene Bauernhöfe.
So viele Menschen saßen im Wagon, doch alle waren leise, niemand lärmte. Wir hatten Hunger und Durst und wir hatten Angst, denn keiner wusste, wohin uns der Zug bringen würde. Aber auch diese Reise ging zu Ende und wir durften aussteigen. Mit Lastautos wurden wir in ein Lager gebracht. Unser Lager bestand aus verschiedenen Holzbaracken. Hier lebten viele Menschen, die wie wir, ihr Zuhause verlassen mussten. Dort gab es Helfer, die uns zu essen und zu trinken gaben und die uns einem Schlafplatz versprachen.

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In der nächsten Geschichte treffen die Kinder ihren Vater wieder und die Reise geht weiter
 



 
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