pol shebbel
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(Oder: eine leise Ahnung, wie Ssu wirklich ist.)
Es war ein Traum. Bestimmt war es nur ein böser Traum! Bestimmt würde er in wenigen Augenblicken aufwachen und sich in seiner vertrauten Baumhöhle wiederfinden... Kindische Gedanken waren das, und Paril wusste natürlich, dass sie nicht stimmten. Aber trotzdem... Seit 24 Stunden geschahen andauernd Dinge, an die er in seinem gesamten bisherigen Leben kaum zu träumen gewagt hatte. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass das alles irgendwie nicht wahr sein konnte: seine jetzige Lage - irgendwo in der Wildnis mit einem Haufen Lumpengesindel um sich herum - seine Kratzer und Schrammen, all seine frischen Erinnerungen an Schläge, Fusstritte und gemeine Worte... Aber Paril wusste nur zu gut, dass alles Wirklichkeit war. Und jeder Augenblick konnte neue Schläge bringen... Bei dem Gedanken biss er unwillkürlich die Zähne zusammen. Er wagte nicht, zu dem Kerl hinüberzusehen, den sie als seinen Bewacher bestimmt hatten; aber er wusste genau, wie er aussah. Hohle Wangen, eine ungesunde Hautfarbe, die man im Pyramidalwald als leichenblass bezeichnen würde, kontrastiert mit kohlschwarz gefärbten Haarsträhnen - eine städtische Mode, die Paril ganz besonders scheusslich fand. Figur klein und schmächtig (man konnte es kaum glauben, aber der Typ war noch dünner als Paril), so dass man meinte, ihn mit einem Fingerschnippen umhauen zu können - wenn man nicht gefesselt und er nicht bewaffnet wäre. Im Augenblick spielte er wahrscheinlich mit einem Eisenmesser herum, was seine Hauptbeschäftigung war - wenn er einmal nicht seine Gefangenen demütigte. Paril hatte nicht geschafft, nur ein normales Wort aus ihm herauszukriegen; im Innern von dem Kerl schien es nichts zu geben als Aggressivität. Nicht dass Paril besonders ernsthaft versucht hatte, mit ihm zu sprechen - weder Städter noch Galbladi waren ihm je sehr sympathisch gewesen; und dieser da war beides zugleich und noch dazu Parils Chef; das machte die Sache noch unerträglicher.
Neben ihm stöhnte Etuik. Es war ein schwacher Trost für Paril, dass es dem noch schlechter zu gehen schien. Seit Tagesbeginn waren sie fast ununterbrochen gelaufen; und Etuik, körperlich weniger fit als Paril, hatte fast schlapp gemacht. Anfangs hatte er laut gejammert, dann immer leiser, und schliesslich hatte er nur noch tonlos geschluchzt, dass es seinen schmächtigen Körper schüttelte, während er halb bewusstlos weitertaumelte. Seit sie zur Rast angehalten hatten, lag er jetzt da und rührte sich nicht.
Wieder fragte sich Paril, ob er das alles nur träume. Warum war er überhaupt noch hier? Die Dorfkinder waren schon eine Stunde nach dem Aufbruch freigelassen worden; warum wurden er und Etuik weitergeschleppt? Als letzte Sicherheit gegen die Armee von Asîmchômsaia? Und vor allem: Nach was für einem Plan handelten sie? Sie waren zielstrebig quer durch den Wald marschiert, und zwar, soweit er das beurteilen konnte, in Richtung Osten, während Zin-Âching, wo sie angeblich herkamen, doch im Norden lag! Waren im Dorf die falschen Nachrichten verbreitet worden?
Paril schielte aufwärts. Die Sonne musste noch am Himmel stehen; aber zu sehen war sie nicht, einerseits aufgrund aufgezogener Wolken und andererseits wegen des dichten Unterholzes, denn sie befanden sich mitten im Urwald. In den Zweigen oben in Parils Blickfeld raschelte es; ein Paradiesvogelpaar, das den Frühling spürte. Das Männchen wirbelte kopfüber-kopfunter um den Ast herum; die zwei leuchtend roten Scheiben an den Enden des langen Gabelschwanzes sausten wie Kometen durch die Luft. Paril konnte sich nicht darüber freuen. Es dünkte ihn, die ganze Welt müsste sich so miserabel fühlen wie er. Ketzer liefen ungestraft herum und schändeten Ssai; da war Zin-Âching, die grosse Wunde des Pyramidalwaldes, das waren die Hungersnöte - aber diese Vögel taten, als ob nichts wäre! Na ja, natürlich war es Blödsinn, so zu denken; diese Vögel konnten kaum von Zin-Âching etwas gehört haben. Es gab sogar im Grünen Buch eine Stelle zu diesem Thema:
"Ein Teil des Ganzen wird das Ganze nie verstehen,
Er kann nur das, was seine Grösse hat, begreifen.
Des Menschen Auge sieht, doch weiss es nicht, warum.
Ein Teil kann Qualen leiden, doch das Ganze blüht,
Ein alter Baum muss sterben, weil ein neuer wächst;
Ein Teil kann blühen, doch das Ganze leidet Qualen..."
Na, so war das eben: auch wenn man etwas theoretisch verstanden hatte, war es nicht immer leicht, danach auch zu leben...
In der Nähe ertönten Stimmen. Paril wandte langsam den Kopf; und da sah er, dass einer der Anführer gekommen war und sich mit seinem Bewacher unterhielt. Es war der grosse Schlanke mit dem runden Gesicht, der übrigens Andai oder so ähnlich gerufen wurde. Er redete gerade und gestikulierte dabei; der andere grinste, warf sein Messer in die Luft und fing es wieder auf. Das Messer aus diesem neuen Metall mit der hässlichen grauen Farbe - wieviel schöner war dagegen die rotgoldene Bronze! Paril runzelte die Stirn und versuchte, ein paar Worte des Gesprächs zu erhaschen, aber er konnte sich nicht konzentrieren; seine Aufmerksamkeit drohte immer wieder abzugleiten in das allgemeine Gefühl von Schmerz und Schrecken, das ihn seit Stunden beherrschte. er beobachtete das Gesicht von Andai mit den krausen dunklen Härchen am Kinn; einfach ekelhaft fand er das. Wirklich, die Südmenschen waren nicht weit von den Affen entfernt...
Jetzt kamen sie in seine Richtung. Paril blieb regungslos liegen und wartete auf den unvermeidlichen Fusstritt. Aber diesmal war es nur ein kleiner Stoss. "Aufstehen, Babygesicht!" ertönte die Stimme von dem, der Andai hiess. Paril wollte keine weiteren Fusstritte riskieren, deshalb leistete er der Aufforderung sofort Folge. Er gab sich aber Mühe, den andern merken zu lassen, in welch schlechtem Zustand er war.
Andai grinste; er schien das Theater zu durchschauen, was Paril fast noch mehr ärgerte als die Bezeichnung "Babygesicht". "Schau nicht so trübe aus der Wäsche, Babygesicht!" sagte er. "Du kannst dich freuen: Wir schenken dir die Freiheit!"
Paril, dem Andais Redeweise schon lange auf die Nerven ging, sagte nichts; dieser schien das als Verdutztheit zu werten, denn er grinste noch breiter und nickte eifrig. "Ja, ja! Dir, und dem Muttersöhnchen auch!" Paril wandte den Kopf. Der andere hatte inzwischen, wie auch immer, Etuik aufgeweckt; der stand auf wackligen Beinen und blickte verstört in die Gegend. Andai hatte immer noch sein idiotisches Grinsen aufgesetzt. "Leider müssen wir ein paar Vorsichtsmassnahmen treffen", sagte er, "also sei brav und halt schön still!" Plötzlich hatte er einen Stofflappen in der Hand und begann, Paril die Augen zu verbinden. Dieser hielt notgedrungen still, aber sein Inneres kochte. Dieses Wildschwein nannte ihn nicht nur Baby, es behandelte ihn auch so!
Jetzt sah Paril nichts mehr und war so seinen Feinden ausgeliefert. Er wurde gepackt und ein paar mal um sich selbst gedreht. Dann wurde er plötzlich an seinen gefesselten Händen gerissen, so dass er nach hinten taumelte und gegen einen Körper stiess, der sich als Etuik entpuppte. Und schliesslich wurde er vorwärtsgestossen, dauernd über die Wurzeln der Pyramidalbäume stolpernd und gegen Gebüsch prallend. Mehrmals wurde die Richtung gewechselt; auch wurde mehrmals angehalten, und jedesmal glaubte er zunächst, die Reise sei zu Ende; aber dann stiessen sie ihn immer wieder weiter. Das ging eine ganze Weile so; und mit der Zeit drohte Paril mehr und mehr in die dumpfe Apathie von vorher zurückzufallen. Schliesslich kam wieder ein Halt, und der dauerte diesmal etwas länger. Da wurde Paril wieder aufmerksam und spitzte die Ohren, um ihr Gespräch zu verstehen - doch er hörte nichts mehr.
Sie waren weg!
Seine Gedanken überschlugen sich. Diese elenden Mistkerle - da hatten sie ihn also gefesselt und blind im Urwald ausgesetzt - allen Gefahren schutzlos ausgeliefert! Was konnte man hier alles antreffen - Bären, Raubkatzen, Schlangen! Banditen! Und dann gab es fleischfressende Pflanzen, die es ihrer Langsamkeit wegen vor allem auf unbewegliche Beute abgesehen hatten - so wie ihn jetzt! Tastete da nicht bereits eine Würgeliane an seinem Fuss? All diese Gedanken fluteten in einer eiskalten Welle des Terrors über ihn hinweg. In wilder Panik riss er an seinem Bein; da war es plötzlich frei, und er stiess sich schmerzhaft den Fuss an und wäre beinahe umgefallen.
Blödmann! Solche Panikreaktionen waren etwas für Stadtbubis, aber nicht für ihn. Jeder normale Mensch wusste, dass die wilden Flokaigrabs nie Menschen angriffen und auch sonst kaum ein Raubtier wirklich gefährlich war, ausser man reizte es. Ausserdem war er kaum eine Tagereise von bewohntem Gebiet entfernt, da war die Gegend wahrscheinlich noch ziemlich sicher. Man musste allenfalls auf Würgelianen und Shas Gil aufpassen. Aber auch die würden keine Gefahr mehr sein, wenn er erst diese Augenbinde los war.
Also die Augenbinde. Mit den Händen ging es nicht, die waren ja gefesselt. Wie wärs mit den Beinen? Vorsichtig tastend, um nirgends anzustossen, beugte er sich vor, krümmte seinen langen Körper und versuchte, mit den Knien sein Gesicht zu erreichen. Das war einfacher, als er gedacht hatte; doch dann die Augenbinde mit den Knien wegzuschieben, war erheblich schwieriger. Es dauerte zweimal Umkippen und ein paar kräftige Bauernflüche lang, bis er mit einem Auge unter der Binde durchschielen konnte.
Viel zu sehen gab es nicht. Es war dämmrig. Auf einem Pyramidalstamm Paril gegenüber machte sich ein Gewirr von neuen Trieben mit handförmig gefiederten Blättchen breit, das einmal ein Kastanienbaum werden würde. Es war niemand zu sehen. Wo war eigentlich - Paril erschrak, dass ihm der Gedanke erst jetzt kam - wo war Etuik?
Ob der hier irgendwo in der Nähe war? Paril lauschte. Er hörte nur Waldgeräusche - vielerlei Keckern, Zirpen und Pfeifen und Rascheln unsichtbarer Füsse, was auf ihn überaus unheimlich wirkte. Als er spürte, wie ihm eine eiskalte Gänsehaut den Rücken hinaufzukriechen begann, gab er sich einen Ruck. "Etuik!" brüllte er laut. "He, hallo Etuik!" Wo bist du?" Sofot verstummte er wieder, erschreckt von seiner eigenen Kühnheit - und war nicht wenig erstaunt, als ihm aus nächster Nähe geantwortet wurde. "Paril? Bist du das wirklich? Ssai sei Dank, dass du da bist!" "Einen Augenblick! Ich komme!" rief Paril erleichtert und setzte sich in Richtung der Stimme in Bewegung. Langsam, den Kopf schief haltend, begann er um den Pyramidalbaum mit dem Kastanienbusch herumzukurven. Trotz aller Vorsichtsmassnahmen rutschte ihm jedoch die verdammte Binde wieder hinunter. Er fluchte und schüttelte heftig den Kopf, wobei er sich denselben ebenso heftig anstiess. Es war genau die Stelle, wo er seit heute Nacht eine Beule hatte; deshalb versank er daraufhin für ein paar Sekunden in einem Meer roter und gelber Sterne. Nachher war aber wenigstens die Binde weg.
Da lag Etuik. Auch um seinen Kopf war ein formloser gelber Stoffetzen gebunden, den er gerade krampfhaft zu entfernen versuchte. Paril atmete tief aus. "Ah, da bist du ja. Warte, ich helf dir." Er kniete bei Etuik nieder, drehte sich um und tastete hinter seinem Rücken mit den Händen, bis er den Lappen zu fassen bekam und wegziehen konnte. Danach liess er sich neben Etuik auf den Boden fallen und verschnaufte.
"Ha - es wird ja dunkel..." sagte Etuik. Er blinzelte, schaute nach rechts und nach links. Zwischen seinen blutverkrusteten Augenbrauen bildete sich langsam eine steile Falte, die sein dickliches Gesicht seltsam wild machte. Paril schaute fast belustigt zu. "Was machst du?" fragte er. "Ruhe!" rief Etuik. "Ich orientiere mich. Ich bestimme die Richtung, um den Weg zurück zu finden!"
"Was?!" Paril war nicht wenig verblüfft. Wollte der etwa sagen, er hätte bei all den Richtungswechseln mit verbundenen Augern die Orientierung behalten? "Äh... Ich glaube, du solltest auf einen Baum klettern dazu", schlug Paril nach einer kurzen Pause vorsichtig vor, "bis du sehen kannst, wo die Sonne untergegangen ist. Ich könnte versuchen, dir von hinten die Fesseln aufzubinden..."
"Ey, keine Zeit, keine Zeit!" Etuik warf ungeduldig den Kopf hin und her. "Lass uns losgehen, so lange es noch hell ist! Ich sage dir, ich bin ziemlich sicher, ich weiss die Richtung..."
Dass die Zeit drängte, stimmte allerdings. Paril versuchte trotzdem, Etuik von den Fesseln zu befreien; als sich dabei aber ziemlich schnell herausstellte, dass das nicht auf die Schnelle gehen würde, stimmte Paril zu, sofort zu versuchen, zum Lager der "Kletteraffen" zurückzufinden (nicht dass Paril übermässige Lust verspürte, wieder in die Nähe dieser Kerle zu kommen, nachdem er sie gerade losgeworden war - aber dort würden sie am ehesten wieder wissen, wo sie hergekommen waren.) So begannen also zwei Gestalten, eine grosse dünne und eine kleine dünne, sich durch den abenddämmrigen Wald zu tasten; immer darauf bedacht, nicht zu stolpern, da sie einen Sturz mit ihren nach wie vor gefesselten Händen nicht auffangen konnten. Etuik ging voraus und suchte den Weg. Von den Feinden war vorläufig keine Spur zu sehen. Allerdings sah man auch nicht sehr weit in diesem Dickicht hier. Die Pyramidalstämme waren förmlich überwuchert; mit Agaven, deren zähe, lanzenförmige Blätter in scharfe Spitzen ausliefen, mit allem möglichen Baumartigen, das lange, verdrehte und verwurstelte Stämme und Wurzeln in alle Richtungen streckte, mit wilden Wollbüschen, deren weisse, verfilzte Fäden sich überall festhängten, und mit Rishwa Lai, deren weisslich schimmernde Riesenblüten einen schwindlig im Kopf machten, wenn man ihnen zu nahe trat. Kein Weg führte über die Wurzeln hinweg; so ging es ständig die Pyramidalstämme hinauf und hinunter. Lianen hingen manchmal von Baum zu Baum quer in der Luft, was besonders Paril mit seiner Körperlänge grosse Qualen bereitete. Aber Qualen waren ja etwas ganz Gewöhnliches seit dem Beginn dieses Alptraums - Paril hatte einmal mehr das Gefühl, das alles müsse ein Alptraum sein.
Etuik schaute nach rechts und nach links; in seinen anfänglichen Tatendrang mischte zunehmend Unsicherheit. Sie begannen sich zu beraten und zu diskutieren, was allerdings der Sicherheit nicht unbedingt förderlich war, da sie über die zu nehmende Richtung nicht selten verschiedener Meinung waren. Einmal versuchte Paril, trotz gefesselter Hände einen Baumstamm hochzuklettern, was er aber auch schnell wieder aufgab.
Es wurde schnell dunkler. Grünlich schimmernde Leuchtkäferchen begannen, um sie herumzutanzen. Jetzt musste bald der rötliche Schein von den glühenden Kohlebecken im Lager zu sehen sein, wenn sie auf dem richtigen Weg waren. Aber Paril sah nichts dergleichen. Nur die zitternd durch die Luft schwebenden Irrlichter der Leuchtkäferchen sowie dann und wann das schwache Glimmen eines Mondpilzes. Bald konnte er die Hand nicht mehr vor Augen sehen; und so geschah es schliesslich, dass er plötzlich über irgend etwas stolperte und, hilflos wie er war mit gefesselten Händen, in seiner ganzen Länge in ein dorniges Brombeergestrüpp stürzte. Sein Schmerzensschrei ging unter in Prasseln und Knacken. Ssukr noch mal! Er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Dieser Mistkerl Etuik! Wie hatte der behaupten können, den Rückweg zu wissen - bei den vielen Richtungswechseln! Es war sonnenklar, dass sie sich verirrt hatten. Dem musste er einmal kräftig die Meinung sagen...
Paril wollte aufstehen - doch er konnte nicht. Die Dornen hatten sich überall in seinen Kleidern verhakt und hielten ihn fest wie mit Krallen; jede Bewegung zog ein Feuerwerk von kleinen Stichen nach sich. Ach, es war ja egal. Es war alles nur ein Alptraum. Paril liess sich fallen und blieb bewegungslos liegen, wo er war.
Es war auch nicht der Meister. Und Falten gab es auch keine. Es war Etuiks Gesicht beziehungsweise ein blasser Umriss davon in der Dunkelheit. Und es war Etuiks Stimme, die da heiser und tränenerstickt flüsterte: "Paril! Paril! Sag doch was! Bitte, bitte, du kannst mich doch nicht allein lassen..."
Paril versuchte, sich zu bewegen. Stattdessen stiess er einen Schmerzensschrei aus. Er hatte vergessen, dass er in einem Dornengebüsch lag... "Ssai sei Dank!" jubelte Etuik. "Du lebst noch! Mann, bin ich froh..."
Paril wurde langsam wieder klar im Kopf. Er wusste nicht, was eben mit ihm passiert war - hatte er für einen Augenblick das Bewusstsein verloren gehabt? Eins aber wusste er: dass dieser unselige Alptraum noch immer nicht vorbei war. Und dass er diesem blöden Etuik seine Meinung sagen musste. "Natürlich lebe ich noch", schnaubte er durch die Dunkelheit, "oder hast du je gehört, dass jemand an Brombeeren gestorben ist?" "Brombeeren? Oh, du Armer", sagte Etuik, "warte, ich helf dir." Er kam näher, wobei er stolperte und fast auf Paril fiel. "Rühr mich bloss nicht an!" fauchte Paril, dem gerade eingefallen war, dass auch Etuiks Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Alles musste man selber machen...
Paril biss die Zähne zusammen und begann mit der unangenehmen Arbeit. Sie dauerte unverhältnismässig lang, und jeder Dornenstich heizte seinen Ärger zusätzlich an. Als er endlich frei war, baute er sich vor Etuik auf. "Und jetzt", fauchte er, "ist Schluss mit dem Blödsinn! Oder willst du immer noch ins Blaue draufloslatschen?"
"Oh, ich weiss doch nicht!" Etuiks Stimme klang weinerlich. "Ich dachte wirklich, ich wüsste den Weg. Aber jetzt..."
"Ja, jetzt!" Paril kam langsam in Fahrt. "Jetzt sind wir schlimmer dran als vorher! Hättest du mir mehr Zeit gelassen, deine Hände loszubinden, hätten wir vielleicht die Richtung nach der Sonne noch bestimmen können! Aber nein, du wusstest angeblich die Richtung - und jetzt haben wir uns verirrt!"
"He, he, ist ja gut!" Von weinerlich schlug Etuiks Ton erstaunlich schnell in verärgert um. "Kannst mir noch 'ne Stunde lang vormeckern, was wir vorhin hätten machen sollen - ich kanns trotzdem nicht mehr ändern, okay? Hast du vielleicht zufällig einen Vorschlag, was wir jetzt tun sollen?"
Paril schwieg einen Augenblick. Das stimmte nun auch wieder. "Na gut", sagte er schliesslich, "gut, in Ordnung. Dann sage ich jetzt, was wir tun. Zuerst werden wir diese Fesseln los - egal, wie lange das dauert. Dann werde ich auf einen Baum klettern - um noch Helligkeit am Himmel zu sehen, ist es dann wohl zu spät, aber probieren kann mans - und vielleicht sieht man von da ja zufällig das Lager der Kletteraffen. Dann, je nach Resultat, gehen wir wieder los. In jedem Fall mach dir eins klar: Wir werden im Wald übernachten müssen!"
Etuiks Stimme japste im Dunkeln. "Bist du verrückt?! Mitten im Dschungel, wo es von wilden Tieren wimmelt?! Was ist, wenn eine Riesenschlange kommt? Oder eine Würgeliane? Niemals! Wir müssen sie finden, um jeden Preis! Du kannst dich von mir aus hinlegen, aber ich geh weiter!" "Etuik, überleg doch!" Paril seufzte gequält. "Weiterlaufen kann man jetzt unter einer Bedingung: wenn man Licht hat, so dass man sieht, wo man hintritt. Ansonsten vermeidest du vielleicht die Würgelianen; bloss könntest du stattdessen die Bekanntschaft einer Fussfalle machen..." "Die Fussfallen!" schrie Etuik auf. "Ssukr, ja... Was wir auch machen, es ist falsch..." Ein wildes Schluchzen schüttelte ihn. "Ich hasse den Dschungel! Ich hasse den Dschungel! Ich kann nicht mehr!"
Paril holte tief Atem. "Na komm", sagte er, "so schlimm ist es auch nicht. Wir machen jetzt, wie ich gesagt habe. Sorg dich mal nicht zu sehr um die Viecher, die machen um den Menschen meistens einen Bogen. Bestimmt!" Und er wunderte sich, wie klar er plötzlich denken konnte.
Etuik schniefte im Dunkeln und berührte Parils Arm. "Me... Meinst du?" fragte er zaghaft. "Die Würgelianen auch? Bei Ork, ich glaube, ich sterbe noch vor Angst. Ich wusste nicht, wie schrecklich Ssai sein kann..."
Ja, dachte Paril. Was wissen wir Menschen schon, wie die Götter in Wirklichkeit sind? Da studiert man das Grüne Buch und bildet sich ein, alles über sie zu wissen; dann spürt man nur einen leichten Hauch von ihnen - und schon windet man sich am Boden! Und in Wirklichkeit sind sie noch viel schrecklicher... Plötzlich merkte Paril, dass er am ganzen Leibe zitterte. Bei allen vier Naturgewalten! Er war tatsächlich mit seinen Nerven völlig am Ende. Es schien ihm, als hätten die vergangenen 12 Stunden seine ganze Widerstandskraft zu Scherben geschlagen. In so kurzer Zeit am Boden zerstört! und dabei hatten seine Freunde immer behauptet, er sei durch nichts aus der Ruhe zu bringen...
Etuiks weinerliche Stimme ertönte wieder. "Mensch Paril! Mîk Paril, was sollen wir bloss machen?"
Paril linste zu ihm hinüber und versuchte, sein Zittern in den Griff zu bekommen. "Lass man sein", sagte er gepresst atmend. "Gib mir etwas Zeit. Ich bin gleich so weit... Und was übrigens die Würgelianen betrifft: auch die sind kein Problem, wenn immer einer von uns in der Nacht Wache hält..." "Wache!" wiederholte Etuik; es klang, als ob das Wort allein ihm schon Angst einjagte. "Ja, um den andern rechtzeitig zu wecken. Die sind ja langsam wie Schnecken..."
"Wecken..." Ein kleines Quieken, was wohl eine Art Lachen sein sollte. "Mich brauchst du garantiert nicht zu wecken - ich krieg sowieso kein Auge zu!" "Auch gut - dann kannst ja nachher du die erste Wache übernehmen, während ich schlafe..." Was rede ich da, dachte Paril. Ich werde genauso wenig schlafen können wie er... Kann man überhaupt schlafen, wenn man sich schon in einem Alptraum befindet?
Es war ein Traum. Bestimmt war es nur ein böser Traum! Bestimmt würde er in wenigen Augenblicken aufwachen und sich in seiner vertrauten Baumhöhle wiederfinden... Kindische Gedanken waren das, und Paril wusste natürlich, dass sie nicht stimmten. Aber trotzdem... Seit 24 Stunden geschahen andauernd Dinge, an die er in seinem gesamten bisherigen Leben kaum zu träumen gewagt hatte. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass das alles irgendwie nicht wahr sein konnte: seine jetzige Lage - irgendwo in der Wildnis mit einem Haufen Lumpengesindel um sich herum - seine Kratzer und Schrammen, all seine frischen Erinnerungen an Schläge, Fusstritte und gemeine Worte... Aber Paril wusste nur zu gut, dass alles Wirklichkeit war. Und jeder Augenblick konnte neue Schläge bringen... Bei dem Gedanken biss er unwillkürlich die Zähne zusammen. Er wagte nicht, zu dem Kerl hinüberzusehen, den sie als seinen Bewacher bestimmt hatten; aber er wusste genau, wie er aussah. Hohle Wangen, eine ungesunde Hautfarbe, die man im Pyramidalwald als leichenblass bezeichnen würde, kontrastiert mit kohlschwarz gefärbten Haarsträhnen - eine städtische Mode, die Paril ganz besonders scheusslich fand. Figur klein und schmächtig (man konnte es kaum glauben, aber der Typ war noch dünner als Paril), so dass man meinte, ihn mit einem Fingerschnippen umhauen zu können - wenn man nicht gefesselt und er nicht bewaffnet wäre. Im Augenblick spielte er wahrscheinlich mit einem Eisenmesser herum, was seine Hauptbeschäftigung war - wenn er einmal nicht seine Gefangenen demütigte. Paril hatte nicht geschafft, nur ein normales Wort aus ihm herauszukriegen; im Innern von dem Kerl schien es nichts zu geben als Aggressivität. Nicht dass Paril besonders ernsthaft versucht hatte, mit ihm zu sprechen - weder Städter noch Galbladi waren ihm je sehr sympathisch gewesen; und dieser da war beides zugleich und noch dazu Parils Chef; das machte die Sache noch unerträglicher.
Neben ihm stöhnte Etuik. Es war ein schwacher Trost für Paril, dass es dem noch schlechter zu gehen schien. Seit Tagesbeginn waren sie fast ununterbrochen gelaufen; und Etuik, körperlich weniger fit als Paril, hatte fast schlapp gemacht. Anfangs hatte er laut gejammert, dann immer leiser, und schliesslich hatte er nur noch tonlos geschluchzt, dass es seinen schmächtigen Körper schüttelte, während er halb bewusstlos weitertaumelte. Seit sie zur Rast angehalten hatten, lag er jetzt da und rührte sich nicht.
Wieder fragte sich Paril, ob er das alles nur träume. Warum war er überhaupt noch hier? Die Dorfkinder waren schon eine Stunde nach dem Aufbruch freigelassen worden; warum wurden er und Etuik weitergeschleppt? Als letzte Sicherheit gegen die Armee von Asîmchômsaia? Und vor allem: Nach was für einem Plan handelten sie? Sie waren zielstrebig quer durch den Wald marschiert, und zwar, soweit er das beurteilen konnte, in Richtung Osten, während Zin-Âching, wo sie angeblich herkamen, doch im Norden lag! Waren im Dorf die falschen Nachrichten verbreitet worden?
Paril schielte aufwärts. Die Sonne musste noch am Himmel stehen; aber zu sehen war sie nicht, einerseits aufgrund aufgezogener Wolken und andererseits wegen des dichten Unterholzes, denn sie befanden sich mitten im Urwald. In den Zweigen oben in Parils Blickfeld raschelte es; ein Paradiesvogelpaar, das den Frühling spürte. Das Männchen wirbelte kopfüber-kopfunter um den Ast herum; die zwei leuchtend roten Scheiben an den Enden des langen Gabelschwanzes sausten wie Kometen durch die Luft. Paril konnte sich nicht darüber freuen. Es dünkte ihn, die ganze Welt müsste sich so miserabel fühlen wie er. Ketzer liefen ungestraft herum und schändeten Ssai; da war Zin-Âching, die grosse Wunde des Pyramidalwaldes, das waren die Hungersnöte - aber diese Vögel taten, als ob nichts wäre! Na ja, natürlich war es Blödsinn, so zu denken; diese Vögel konnten kaum von Zin-Âching etwas gehört haben. Es gab sogar im Grünen Buch eine Stelle zu diesem Thema:
"Ein Teil des Ganzen wird das Ganze nie verstehen,
Er kann nur das, was seine Grösse hat, begreifen.
Des Menschen Auge sieht, doch weiss es nicht, warum.
Ein Teil kann Qualen leiden, doch das Ganze blüht,
Ein alter Baum muss sterben, weil ein neuer wächst;
Ein Teil kann blühen, doch das Ganze leidet Qualen..."
Na, so war das eben: auch wenn man etwas theoretisch verstanden hatte, war es nicht immer leicht, danach auch zu leben...
In der Nähe ertönten Stimmen. Paril wandte langsam den Kopf; und da sah er, dass einer der Anführer gekommen war und sich mit seinem Bewacher unterhielt. Es war der grosse Schlanke mit dem runden Gesicht, der übrigens Andai oder so ähnlich gerufen wurde. Er redete gerade und gestikulierte dabei; der andere grinste, warf sein Messer in die Luft und fing es wieder auf. Das Messer aus diesem neuen Metall mit der hässlichen grauen Farbe - wieviel schöner war dagegen die rotgoldene Bronze! Paril runzelte die Stirn und versuchte, ein paar Worte des Gesprächs zu erhaschen, aber er konnte sich nicht konzentrieren; seine Aufmerksamkeit drohte immer wieder abzugleiten in das allgemeine Gefühl von Schmerz und Schrecken, das ihn seit Stunden beherrschte. er beobachtete das Gesicht von Andai mit den krausen dunklen Härchen am Kinn; einfach ekelhaft fand er das. Wirklich, die Südmenschen waren nicht weit von den Affen entfernt...
Jetzt kamen sie in seine Richtung. Paril blieb regungslos liegen und wartete auf den unvermeidlichen Fusstritt. Aber diesmal war es nur ein kleiner Stoss. "Aufstehen, Babygesicht!" ertönte die Stimme von dem, der Andai hiess. Paril wollte keine weiteren Fusstritte riskieren, deshalb leistete er der Aufforderung sofort Folge. Er gab sich aber Mühe, den andern merken zu lassen, in welch schlechtem Zustand er war.
Andai grinste; er schien das Theater zu durchschauen, was Paril fast noch mehr ärgerte als die Bezeichnung "Babygesicht". "Schau nicht so trübe aus der Wäsche, Babygesicht!" sagte er. "Du kannst dich freuen: Wir schenken dir die Freiheit!"
Paril, dem Andais Redeweise schon lange auf die Nerven ging, sagte nichts; dieser schien das als Verdutztheit zu werten, denn er grinste noch breiter und nickte eifrig. "Ja, ja! Dir, und dem Muttersöhnchen auch!" Paril wandte den Kopf. Der andere hatte inzwischen, wie auch immer, Etuik aufgeweckt; der stand auf wackligen Beinen und blickte verstört in die Gegend. Andai hatte immer noch sein idiotisches Grinsen aufgesetzt. "Leider müssen wir ein paar Vorsichtsmassnahmen treffen", sagte er, "also sei brav und halt schön still!" Plötzlich hatte er einen Stofflappen in der Hand und begann, Paril die Augen zu verbinden. Dieser hielt notgedrungen still, aber sein Inneres kochte. Dieses Wildschwein nannte ihn nicht nur Baby, es behandelte ihn auch so!
Jetzt sah Paril nichts mehr und war so seinen Feinden ausgeliefert. Er wurde gepackt und ein paar mal um sich selbst gedreht. Dann wurde er plötzlich an seinen gefesselten Händen gerissen, so dass er nach hinten taumelte und gegen einen Körper stiess, der sich als Etuik entpuppte. Und schliesslich wurde er vorwärtsgestossen, dauernd über die Wurzeln der Pyramidalbäume stolpernd und gegen Gebüsch prallend. Mehrmals wurde die Richtung gewechselt; auch wurde mehrmals angehalten, und jedesmal glaubte er zunächst, die Reise sei zu Ende; aber dann stiessen sie ihn immer wieder weiter. Das ging eine ganze Weile so; und mit der Zeit drohte Paril mehr und mehr in die dumpfe Apathie von vorher zurückzufallen. Schliesslich kam wieder ein Halt, und der dauerte diesmal etwas länger. Da wurde Paril wieder aufmerksam und spitzte die Ohren, um ihr Gespräch zu verstehen - doch er hörte nichts mehr.
Sie waren weg!
Seine Gedanken überschlugen sich. Diese elenden Mistkerle - da hatten sie ihn also gefesselt und blind im Urwald ausgesetzt - allen Gefahren schutzlos ausgeliefert! Was konnte man hier alles antreffen - Bären, Raubkatzen, Schlangen! Banditen! Und dann gab es fleischfressende Pflanzen, die es ihrer Langsamkeit wegen vor allem auf unbewegliche Beute abgesehen hatten - so wie ihn jetzt! Tastete da nicht bereits eine Würgeliane an seinem Fuss? All diese Gedanken fluteten in einer eiskalten Welle des Terrors über ihn hinweg. In wilder Panik riss er an seinem Bein; da war es plötzlich frei, und er stiess sich schmerzhaft den Fuss an und wäre beinahe umgefallen.
Blödmann! Solche Panikreaktionen waren etwas für Stadtbubis, aber nicht für ihn. Jeder normale Mensch wusste, dass die wilden Flokaigrabs nie Menschen angriffen und auch sonst kaum ein Raubtier wirklich gefährlich war, ausser man reizte es. Ausserdem war er kaum eine Tagereise von bewohntem Gebiet entfernt, da war die Gegend wahrscheinlich noch ziemlich sicher. Man musste allenfalls auf Würgelianen und Shas Gil aufpassen. Aber auch die würden keine Gefahr mehr sein, wenn er erst diese Augenbinde los war.
Also die Augenbinde. Mit den Händen ging es nicht, die waren ja gefesselt. Wie wärs mit den Beinen? Vorsichtig tastend, um nirgends anzustossen, beugte er sich vor, krümmte seinen langen Körper und versuchte, mit den Knien sein Gesicht zu erreichen. Das war einfacher, als er gedacht hatte; doch dann die Augenbinde mit den Knien wegzuschieben, war erheblich schwieriger. Es dauerte zweimal Umkippen und ein paar kräftige Bauernflüche lang, bis er mit einem Auge unter der Binde durchschielen konnte.
Viel zu sehen gab es nicht. Es war dämmrig. Auf einem Pyramidalstamm Paril gegenüber machte sich ein Gewirr von neuen Trieben mit handförmig gefiederten Blättchen breit, das einmal ein Kastanienbaum werden würde. Es war niemand zu sehen. Wo war eigentlich - Paril erschrak, dass ihm der Gedanke erst jetzt kam - wo war Etuik?
Ob der hier irgendwo in der Nähe war? Paril lauschte. Er hörte nur Waldgeräusche - vielerlei Keckern, Zirpen und Pfeifen und Rascheln unsichtbarer Füsse, was auf ihn überaus unheimlich wirkte. Als er spürte, wie ihm eine eiskalte Gänsehaut den Rücken hinaufzukriechen begann, gab er sich einen Ruck. "Etuik!" brüllte er laut. "He, hallo Etuik!" Wo bist du?" Sofot verstummte er wieder, erschreckt von seiner eigenen Kühnheit - und war nicht wenig erstaunt, als ihm aus nächster Nähe geantwortet wurde. "Paril? Bist du das wirklich? Ssai sei Dank, dass du da bist!" "Einen Augenblick! Ich komme!" rief Paril erleichtert und setzte sich in Richtung der Stimme in Bewegung. Langsam, den Kopf schief haltend, begann er um den Pyramidalbaum mit dem Kastanienbusch herumzukurven. Trotz aller Vorsichtsmassnahmen rutschte ihm jedoch die verdammte Binde wieder hinunter. Er fluchte und schüttelte heftig den Kopf, wobei er sich denselben ebenso heftig anstiess. Es war genau die Stelle, wo er seit heute Nacht eine Beule hatte; deshalb versank er daraufhin für ein paar Sekunden in einem Meer roter und gelber Sterne. Nachher war aber wenigstens die Binde weg.
Da lag Etuik. Auch um seinen Kopf war ein formloser gelber Stoffetzen gebunden, den er gerade krampfhaft zu entfernen versuchte. Paril atmete tief aus. "Ah, da bist du ja. Warte, ich helf dir." Er kniete bei Etuik nieder, drehte sich um und tastete hinter seinem Rücken mit den Händen, bis er den Lappen zu fassen bekam und wegziehen konnte. Danach liess er sich neben Etuik auf den Boden fallen und verschnaufte.
"Ha - es wird ja dunkel..." sagte Etuik. Er blinzelte, schaute nach rechts und nach links. Zwischen seinen blutverkrusteten Augenbrauen bildete sich langsam eine steile Falte, die sein dickliches Gesicht seltsam wild machte. Paril schaute fast belustigt zu. "Was machst du?" fragte er. "Ruhe!" rief Etuik. "Ich orientiere mich. Ich bestimme die Richtung, um den Weg zurück zu finden!"
"Was?!" Paril war nicht wenig verblüfft. Wollte der etwa sagen, er hätte bei all den Richtungswechseln mit verbundenen Augern die Orientierung behalten? "Äh... Ich glaube, du solltest auf einen Baum klettern dazu", schlug Paril nach einer kurzen Pause vorsichtig vor, "bis du sehen kannst, wo die Sonne untergegangen ist. Ich könnte versuchen, dir von hinten die Fesseln aufzubinden..."
"Ey, keine Zeit, keine Zeit!" Etuik warf ungeduldig den Kopf hin und her. "Lass uns losgehen, so lange es noch hell ist! Ich sage dir, ich bin ziemlich sicher, ich weiss die Richtung..."
Dass die Zeit drängte, stimmte allerdings. Paril versuchte trotzdem, Etuik von den Fesseln zu befreien; als sich dabei aber ziemlich schnell herausstellte, dass das nicht auf die Schnelle gehen würde, stimmte Paril zu, sofort zu versuchen, zum Lager der "Kletteraffen" zurückzufinden (nicht dass Paril übermässige Lust verspürte, wieder in die Nähe dieser Kerle zu kommen, nachdem er sie gerade losgeworden war - aber dort würden sie am ehesten wieder wissen, wo sie hergekommen waren.) So begannen also zwei Gestalten, eine grosse dünne und eine kleine dünne, sich durch den abenddämmrigen Wald zu tasten; immer darauf bedacht, nicht zu stolpern, da sie einen Sturz mit ihren nach wie vor gefesselten Händen nicht auffangen konnten. Etuik ging voraus und suchte den Weg. Von den Feinden war vorläufig keine Spur zu sehen. Allerdings sah man auch nicht sehr weit in diesem Dickicht hier. Die Pyramidalstämme waren förmlich überwuchert; mit Agaven, deren zähe, lanzenförmige Blätter in scharfe Spitzen ausliefen, mit allem möglichen Baumartigen, das lange, verdrehte und verwurstelte Stämme und Wurzeln in alle Richtungen streckte, mit wilden Wollbüschen, deren weisse, verfilzte Fäden sich überall festhängten, und mit Rishwa Lai, deren weisslich schimmernde Riesenblüten einen schwindlig im Kopf machten, wenn man ihnen zu nahe trat. Kein Weg führte über die Wurzeln hinweg; so ging es ständig die Pyramidalstämme hinauf und hinunter. Lianen hingen manchmal von Baum zu Baum quer in der Luft, was besonders Paril mit seiner Körperlänge grosse Qualen bereitete. Aber Qualen waren ja etwas ganz Gewöhnliches seit dem Beginn dieses Alptraums - Paril hatte einmal mehr das Gefühl, das alles müsse ein Alptraum sein.
Etuik schaute nach rechts und nach links; in seinen anfänglichen Tatendrang mischte zunehmend Unsicherheit. Sie begannen sich zu beraten und zu diskutieren, was allerdings der Sicherheit nicht unbedingt förderlich war, da sie über die zu nehmende Richtung nicht selten verschiedener Meinung waren. Einmal versuchte Paril, trotz gefesselter Hände einen Baumstamm hochzuklettern, was er aber auch schnell wieder aufgab.
Es wurde schnell dunkler. Grünlich schimmernde Leuchtkäferchen begannen, um sie herumzutanzen. Jetzt musste bald der rötliche Schein von den glühenden Kohlebecken im Lager zu sehen sein, wenn sie auf dem richtigen Weg waren. Aber Paril sah nichts dergleichen. Nur die zitternd durch die Luft schwebenden Irrlichter der Leuchtkäferchen sowie dann und wann das schwache Glimmen eines Mondpilzes. Bald konnte er die Hand nicht mehr vor Augen sehen; und so geschah es schliesslich, dass er plötzlich über irgend etwas stolperte und, hilflos wie er war mit gefesselten Händen, in seiner ganzen Länge in ein dorniges Brombeergestrüpp stürzte. Sein Schmerzensschrei ging unter in Prasseln und Knacken. Ssukr noch mal! Er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Dieser Mistkerl Etuik! Wie hatte der behaupten können, den Rückweg zu wissen - bei den vielen Richtungswechseln! Es war sonnenklar, dass sie sich verirrt hatten. Dem musste er einmal kräftig die Meinung sagen...
Paril wollte aufstehen - doch er konnte nicht. Die Dornen hatten sich überall in seinen Kleidern verhakt und hielten ihn fest wie mit Krallen; jede Bewegung zog ein Feuerwerk von kleinen Stichen nach sich. Ach, es war ja egal. Es war alles nur ein Alptraum. Paril liess sich fallen und blieb bewegungslos liegen, wo er war.
***
Schon wieder rüttelte die Mutter Paril an der Schulter. Oder war es überhaupt die Mutter? Paril hatte nie bemerkt, wieviele Falten sie im Gesicht hatte. Das ganze Gesicht war förmlich zerfressen von Falten... Nein, das war nicht die Mutter, das war der Meister! Oder...Es war auch nicht der Meister. Und Falten gab es auch keine. Es war Etuiks Gesicht beziehungsweise ein blasser Umriss davon in der Dunkelheit. Und es war Etuiks Stimme, die da heiser und tränenerstickt flüsterte: "Paril! Paril! Sag doch was! Bitte, bitte, du kannst mich doch nicht allein lassen..."
Paril versuchte, sich zu bewegen. Stattdessen stiess er einen Schmerzensschrei aus. Er hatte vergessen, dass er in einem Dornengebüsch lag... "Ssai sei Dank!" jubelte Etuik. "Du lebst noch! Mann, bin ich froh..."
Paril wurde langsam wieder klar im Kopf. Er wusste nicht, was eben mit ihm passiert war - hatte er für einen Augenblick das Bewusstsein verloren gehabt? Eins aber wusste er: dass dieser unselige Alptraum noch immer nicht vorbei war. Und dass er diesem blöden Etuik seine Meinung sagen musste. "Natürlich lebe ich noch", schnaubte er durch die Dunkelheit, "oder hast du je gehört, dass jemand an Brombeeren gestorben ist?" "Brombeeren? Oh, du Armer", sagte Etuik, "warte, ich helf dir." Er kam näher, wobei er stolperte und fast auf Paril fiel. "Rühr mich bloss nicht an!" fauchte Paril, dem gerade eingefallen war, dass auch Etuiks Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Alles musste man selber machen...
Paril biss die Zähne zusammen und begann mit der unangenehmen Arbeit. Sie dauerte unverhältnismässig lang, und jeder Dornenstich heizte seinen Ärger zusätzlich an. Als er endlich frei war, baute er sich vor Etuik auf. "Und jetzt", fauchte er, "ist Schluss mit dem Blödsinn! Oder willst du immer noch ins Blaue draufloslatschen?"
"Oh, ich weiss doch nicht!" Etuiks Stimme klang weinerlich. "Ich dachte wirklich, ich wüsste den Weg. Aber jetzt..."
"Ja, jetzt!" Paril kam langsam in Fahrt. "Jetzt sind wir schlimmer dran als vorher! Hättest du mir mehr Zeit gelassen, deine Hände loszubinden, hätten wir vielleicht die Richtung nach der Sonne noch bestimmen können! Aber nein, du wusstest angeblich die Richtung - und jetzt haben wir uns verirrt!"
"He, he, ist ja gut!" Von weinerlich schlug Etuiks Ton erstaunlich schnell in verärgert um. "Kannst mir noch 'ne Stunde lang vormeckern, was wir vorhin hätten machen sollen - ich kanns trotzdem nicht mehr ändern, okay? Hast du vielleicht zufällig einen Vorschlag, was wir jetzt tun sollen?"
Paril schwieg einen Augenblick. Das stimmte nun auch wieder. "Na gut", sagte er schliesslich, "gut, in Ordnung. Dann sage ich jetzt, was wir tun. Zuerst werden wir diese Fesseln los - egal, wie lange das dauert. Dann werde ich auf einen Baum klettern - um noch Helligkeit am Himmel zu sehen, ist es dann wohl zu spät, aber probieren kann mans - und vielleicht sieht man von da ja zufällig das Lager der Kletteraffen. Dann, je nach Resultat, gehen wir wieder los. In jedem Fall mach dir eins klar: Wir werden im Wald übernachten müssen!"
Etuiks Stimme japste im Dunkeln. "Bist du verrückt?! Mitten im Dschungel, wo es von wilden Tieren wimmelt?! Was ist, wenn eine Riesenschlange kommt? Oder eine Würgeliane? Niemals! Wir müssen sie finden, um jeden Preis! Du kannst dich von mir aus hinlegen, aber ich geh weiter!" "Etuik, überleg doch!" Paril seufzte gequält. "Weiterlaufen kann man jetzt unter einer Bedingung: wenn man Licht hat, so dass man sieht, wo man hintritt. Ansonsten vermeidest du vielleicht die Würgelianen; bloss könntest du stattdessen die Bekanntschaft einer Fussfalle machen..." "Die Fussfallen!" schrie Etuik auf. "Ssukr, ja... Was wir auch machen, es ist falsch..." Ein wildes Schluchzen schüttelte ihn. "Ich hasse den Dschungel! Ich hasse den Dschungel! Ich kann nicht mehr!"
Paril holte tief Atem. "Na komm", sagte er, "so schlimm ist es auch nicht. Wir machen jetzt, wie ich gesagt habe. Sorg dich mal nicht zu sehr um die Viecher, die machen um den Menschen meistens einen Bogen. Bestimmt!" Und er wunderte sich, wie klar er plötzlich denken konnte.
Etuik schniefte im Dunkeln und berührte Parils Arm. "Me... Meinst du?" fragte er zaghaft. "Die Würgelianen auch? Bei Ork, ich glaube, ich sterbe noch vor Angst. Ich wusste nicht, wie schrecklich Ssai sein kann..."
Ja, dachte Paril. Was wissen wir Menschen schon, wie die Götter in Wirklichkeit sind? Da studiert man das Grüne Buch und bildet sich ein, alles über sie zu wissen; dann spürt man nur einen leichten Hauch von ihnen - und schon windet man sich am Boden! Und in Wirklichkeit sind sie noch viel schrecklicher... Plötzlich merkte Paril, dass er am ganzen Leibe zitterte. Bei allen vier Naturgewalten! Er war tatsächlich mit seinen Nerven völlig am Ende. Es schien ihm, als hätten die vergangenen 12 Stunden seine ganze Widerstandskraft zu Scherben geschlagen. In so kurzer Zeit am Boden zerstört! und dabei hatten seine Freunde immer behauptet, er sei durch nichts aus der Ruhe zu bringen...
Etuiks weinerliche Stimme ertönte wieder. "Mensch Paril! Mîk Paril, was sollen wir bloss machen?"
Paril linste zu ihm hinüber und versuchte, sein Zittern in den Griff zu bekommen. "Lass man sein", sagte er gepresst atmend. "Gib mir etwas Zeit. Ich bin gleich so weit... Und was übrigens die Würgelianen betrifft: auch die sind kein Problem, wenn immer einer von uns in der Nacht Wache hält..." "Wache!" wiederholte Etuik; es klang, als ob das Wort allein ihm schon Angst einjagte. "Ja, um den andern rechtzeitig zu wecken. Die sind ja langsam wie Schnecken..."
"Wecken..." Ein kleines Quieken, was wohl eine Art Lachen sein sollte. "Mich brauchst du garantiert nicht zu wecken - ich krieg sowieso kein Auge zu!" "Auch gut - dann kannst ja nachher du die erste Wache übernehmen, während ich schlafe..." Was rede ich da, dachte Paril. Ich werde genauso wenig schlafen können wie er... Kann man überhaupt schlafen, wenn man sich schon in einem Alptraum befindet?