40. Zurück ins Licht

Amadis

Mitglied
Seit dem Tod von Berkan und Jules war die Stimmung in der Gruppe auf den Nullpunkt gesunken. Hatte es bereits vorher nur wenige Gespräche gegeben, stiegen die Gefährten jetzt wortlos die breite Treppe hinab in die bodenlos wirkende Tiefe.
Zwischenfälle waren seither zum Glück ausgeblieben und Harbon hatte die Hoffnung, dass sie das Tageslicht wieder erblicken würden, ohne dass ihnen weitere Gefahren begegneten.
Der Zauberer hatte wie alle anderen jegliches Zeitgefühl schon lange verloren. Sie hatten noch einmal gerastet und ein wenig geschlafen und Harbon war sich sicher, dass der ganze Tag und womöglich auch die folgende Nacht bereits vergangen war. Alle sehnten sich nach dem Licht des Tages, obwohl niemand etwas sagte. Es war deutlich zu spüren. Sie setzten automatisch einen Fuß vor den anderen, überwanden Stufe um Stufe. Manchmal regte sich unbekanntes Leben in der Dunkelheit, raschelte es hier, wisperte es dort. Allein: Sie bekamen keines der Wesen zu sehen, die für diese Laute verantwortlich waren. Wedekind konnte nicht behaupten, dass er besonders traurig darüber war, obwohl ihm die unheimlichen Geräusche aus dem Dunkel ein ums andere Mal einen Schauer über den Rücken jagten.
Plötzlich blieb der Zauberer stehen und Wedekind, der direkt hinter ihm ging, wäre beinahe gegen ihn geprallt.
„Was ist?“, erkundigte sich der Antiquar und seine eigene Stimme erschien ihm fremd und unnatürlich laut. Unwillkürlich schaute er sich um und überlegte, wie lange es her war, dass jemand gesprochen hatte, aber er konnte es nicht einmal annäherungsweise schätzen.
Harbon deutete mit seinem Stab nach vorn und ließ den Syrill mit einer Geste heller strahlen. Wedekind trat neben ihn und folgte seinem Blick. Einige Stufen weiter hinab ging die Treppe wiedereinmal in eine kleine Plattform über, ein weiterer Treppenabsatz. Erst als Harbon den Syrill ein wenig weiter nach vorn schweben ließ, stellte Wedekind fest, dass diesmal etwas anders war: Rechts und links der Plattform ragten Felswände auf, wo sonst nur bodenloser Abgrund gegähnt hatte, und dahinter gab es … ein Tor! Und was für ein Tor! Es war sicherlich fast zehn Meter breit und halb so hoch, bestand aus dicken Balken eines uralt wirkenden Holzes, die mit eisernen Beschlägen verstärkt waren. Ein Öffnungsmechanismus war nicht zu erkennen. Kein Schloss, kein Riegel oder gar eine simple Türklinke. Nichts!
Wedekind schaut zu Harbon auf. Elden, der ebenfalls neben den Zauberer getreten war blickte sich um.
„Was ist das für eine neue Teufelei?“, erkundigte er sich mit rauer Stimme. Sie alle schienen das Reden fast verlernt, die Dunkelheit ihre Sprache regelrecht verschlungen zu haben. „Versperrt man uns jetzt den Weg, nachdem wir so weit gekommen sind?“
Harbon schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich nicht. Wenn du mich fragst, ist das der Ausgang! Das Ende der Treppe!“
Wedekind machte Anstalten, auf die Plattform zu treten, die sich vor der Pforte erstreckte, aber Harbon hielt ihn zurück.
„Warte!“ Der Zauberer schob den kleinen Mann beiseite und ging in Richtung des Tores, das wohl noch etwa zehn oder fünfzehn Schritte entfernt war. Auf halber Strecke blieb er plötzlich stehen. Die Gefährten erstarrten und Elden zog das Schwert, als erwarte er einen Angriff.
Harbon stand wie eine Statue. Die gespannt wartenden Gefährten wagten es kaum zu atmen. Sie konnten das Gesicht des Zauberers nicht sehen, nur, dass er plötzlich beide Arme hob, ein unverständliches Wort rief und sie in Richtung des riesigen Tores bewegte. Die Freunde wichen unwillkürlich einen Schritt zurück, bewegten sich dabei wie ein Mann, erwarteten eine Explosion oder etwas ähnlich Spektakuläres. Was dann geschah, war so unspektakulär wie erstaunlich: Die beiden riesigen Torflügel schwangen unglaublich langsam, fast geisterhaft nach innen auf und gaben die Öffnung eines Felsentunnels frei.
Harbon drehte sich zu seinen Begleitern um und lächelte.
„War doch ganz einfach!“, meinte er leichthin und sein Grinsen wurde breiter.
Wedekind musste ob der Situation und angesichts dieses Grinsens unwillkürlich lachen und nach einigen Sekunden stimmten die anderen erleichtert ein.
Sie betraten den Gang und kurze Zeit später trat Harbon als erster ins Freie und ins Licht der Sonne, nach deren Stand man erahnen konnte, dass es noch Vormittag war.
Wedekind kniff die Augen zusammen, die ob der inzwischen ungewohnten Helligkeit zu tränen begannen, und schaute sich dann um. Sie befanden sich auf einem erhöhten Standort. Vor dem Tunnelausgang erstreckte sich ein kleines Felsplateau, an das sich sanft abfallendes, von Gras und niedrigen Büschen bedecktes Terrain anschloss. In der Ferne – rechts von ihnen aus gesehen – wälzte sich ein breiter Strom in seinem Bett dem fernen Meer entgegen: Der Grold!
Harbon deutete nach rechts.
„Seht ihr? Die Groldfälle! Und schaut nur nach oben, welche Strecke wir im Berg überwunden haben!“
Wedekind drehte sich um, legte den Kopf in den Nacken und beschattete die Augen mit der Hand. Es war beeindruckend! Über ihnen ragte eine fast senkrechte Wand auf, die aus schierem Fels bestand. Nur hier und da hatte sich eine Pflanze in einer Felsspalte festklammern können und fristete dort ein tristes, trockenes Dasein. Als ihm schwindlig wurde, senkte Wedekind den Kopf. Seine Augen hatten sich noch immer nicht an das Tageslicht gewöhnt, das soviel heller war, als der Schein des Syrill, der ihnen den Weg durch die Finsternis der großen Treppe von Groldfall gewiesen hatte. Sie beschlossen, eine kurze Rast einzulegen, die frische Luft und den Sonnenschein zu genießen, und nahmen ein frugales Frühstück zu sich.
Wedekinds Gedanken schweiften ab zu den beiden toten Gefährten. Er hatte beide nicht besonders gut gekannt, Jules nicht einmal sonderlich gemocht, da er sich nach allem, was der junge Franzose erzählt und wie er sich verhalten hatte, vorstellen konnte, auf welche Art dieser seinen Lebensunterhalt bestritten hatte in jener anderen Welt, die inzwischen so fern und surreal erschien. Trotzdem waren die beiden Gefährten gewesen, Mitstreiter in diesem sagenhaften Kampf Gut gegen Böse, in den sie so unversehens geraten waren, den sie aber ausfechten mussten, ob es ihnen nun gefiel oder nicht.
Ohne Berkan herabzuwürdigen konnte sich Wedekind trotzdem des Gedankens nicht erwehren, dass der Verlust von Jules deutlich schwerer Wog, als jener des bärtigen Kämpfers. Wie sollte es weiter gehen, wenn einer der Vier nicht mehr war?
Wedekind verscheuchte die trüben Gedanken, als Harbon sich erhob und sie zum Weitergehen aufforderte.
„Dort liegt Groldfall“, erklärte er, und deutete in Richtung des Flusses, wo man undeutlich die Häuser einer Stadt erkennen konnte. „Aber wir meiden die Stadt und gehen gleich weiter in Richtung Süden nach Mor'Klatt.“
 

flammarion

Foren-Redakteur
und

immer noch begeistert, aber
gemecker: . . . dass er besonders traurig darüber war, obwohl - dies würde ich durch "zumal" ersetzen.
. . . dass der Verlust von Jules . . . Wog - wog muss natürlich klein geschrieben werden.
ganz lieb grüßt
 
Wedekind schaut(e) zu Harbon auf. Elden, der ebenfalls neben den Zauberer getreten war(,) blickte sich um.
Wedekind musste ob der Situation und angesichts dieses Grinsens unwillkürlich lachen und nach einigen Sekunden stimmten die anderen erleichtert ein.
Sie lachen, obwohl ihnen klar sein müsste, dass sie damit die Aufmerksamkeit von was immer dort unten sonst noch haust auf sich lenken? Oder "trauen" sie sich zu lachen, weil sie sich schon sehr nah am Ausgang wähnen?
 



 
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