5. Shas Gil

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pol shebbel

Mitglied
(Begegnungen mit der speziellen fraschischen Fauna)

Er war eindeutig in Zin-Âching. Allerdings hatte der Ort auch entfernte Ähnlichkeit mit dem Dorfplatz von Onnikir Loemparl - und doch sah er genauso aus, wie sich Paril Zin-Âching vorstellte. So genau waren natürlich seine Vorstellungen nicht, und entsprechend undeutlich zeichnete der Traum den Ort. Man ahnte etwas von riesig und unheilvoll aufragenden, hässlichen Gebäuden mit höllischen Metallapparaturen und glühendem Feuer im Innern, aufgewühltem Grund, zerstampften Pflanzen. Die Bewohner waren zerlumpte, vergammelte Galbladi, die alle aussahen wie der Messerheld, der Parils Bewacher gewesen war. Die Sonne brannte heiss und unbarmherzig, um den Schandfleck Ssais zu strafen; der Kampf zwischen gut und böse war entbrannt. Die fraschischen Bauern kamen aus ihren Baumhöhlen; sie waren ebenfalls ziemlich undeutlich, da auch sie aus der Vorstellung entsprangen, der Vorstellung des idealen Fraschakal nämlich. Es waren schwere, kräftig gebaute Männer und Frauen, beide Füsse auf dem Boden und untrennbar verbunden mit ihren Pyramidalbäumen, in denen sie schliefen und dreimal täglich meditierten, wie es Vorschrift war. Sie zogen aus, Knüppel in den Händen, um ihr Heim gegen die Ketzer zu verteidigen. In einem Baum hockte der Meister von Onnikir so zusammengekrümmt, dass er kaum grösser war als win Igel, und kreischte mit dünner Stimme Anfeuerungsrufe. Der vorderste Messerheld tanzte der vorrückenden Kriegsmacht unter wilden Zuckungen entgegen, grinste schiefzahnig, liess glucksende Laute hören und jonglierte mit zwei Eisenmessern. Er hatte eine aussergewöhnliche Geschicklichkeit darin, in einem Zirkus hätte man ihn bejubelt - doch jetzt war nicht der Augenblick dazu. Die grüngewandeten Priester kamen in geschlossener Formation auf den Platz, der jetzt wieder mehr dem Dorfplatz von Onnikir ähnelte; sie rückten vor und drängten den Feind schrittweise zurück. Auch sie sahen alle gleich aus, doch seltsamerweise waren es sture und blöde Gesichter; sie hatten Ähnlichkeit mit jenem Kalbell, der Paril das Vorgespräch mit dem Meister verwehrt hatte. Auch die Natur kämpfte. Der Rand des Pyramidalwaldes rund um den Schandfleck war in ständiger Bewegung; Schlangen, Lianen, Katzenparden und die kleinen dunklen Schatten der Shas Gil lösten sich aus ihm heraus und wanderten gegen die Front. Doch dummerweise griffen sie alle Menschen an, nicht nur die Feinde. Einer der Bauern sah zuviel geradeaus und trat mitten in eine Fussfalle, die mit hölzernen Fängen zuschnappte und ihn zu Fall brachte. Alle rannten und fielen übereinander, durcheinander, aufeinander; es war wieder Nacht, die Dorfmauer brannte, Chu Uîw war da. Doch dann plötzlich war es still. Alle verharrten auf ihren Plätzen und lauschten. Weit, weit weg, kaum wahrnehmbar, war ein Geräusch zu hören, zuerst wie ein Rauschen; ein Geräusch, das schnell lauter wurde, ein Prasseln und Krachen, ein Kreischen, ein Dröhnen. Und dann plötzlich brach ein Taflaberiwôm Zôtkil aus dem Wald, und noch einer, und noch einer; ungeschlachte Riesenvögel, über eineinhalb Mannslängen hoch, mit armlangen, spitzen Schnäbeln. Eine ganze wildgewordene Herde Donnervögel, wie besessen kreischend, das Dickicht zerteilend wie nichts, kamen sie herangestürmt, brausten über das Feld, alle Menschen zerstäubend wie Spreu. Jetzt kamen sie auf Paril zu, er hatte keine Zeit mehr zu fliehen, ausserdem konnte er sich nicht bewegen, obwohl er es krampfhaft versuchte. Die Masse der schweren Leiber, die tödlichen Schnäbel waren schon ganz nah, sie waren schon über ihm, gleich würden sie ihn zertrampeln...

Paril schrie. Und erwachte.

Hilfe! Was ist los? Wo bin ich? Wo ist meine Baumhöhle? Eine oder zwei Sekunden lang beherrschte ihn wilde Panik, dann fiel ihm alles wieder ein. Ach ja, er war im Wald, es war Nacht, er war mit Etuik zusammen von den "Kletteraffen" ausgesetzt... Das war kein Traum, endgültig nicht.

Paril lauschte in die Schwärze. Es war kaum ein Laut zu hören; meistens nur der Wind, der die Blätter leicht bewegte, und gelegentlich ein Grillenzirpen. Ansonsten waren keine Tierstimmen zu hören, keine Leuchtkäfer zu sehen. Wie spät mochte es sein? Er versuchte, die seit Sonnenuntergang vergangene Zeit abzuschätzen. Das Aufpulen der Fesseln hatte sie mindestens eine halbe Stunde gekostet - verfluchte Plackerei war das gewesen! Und danach - wie viel Zeit war vergangen, bis sie sich entschlossen hatten, die Suche abzubrechen und ein Nachtlager zu suchen? Eine Stunde? Zwei? Und seither schien er tatsächlich einige Zeit geschlafen zu haben - was er nie für möglich gehalten hätte! - aber wahrscheinlich war es noch nicht einmal Mitternacht. Noch über 6 Stunden bis zum erlösenden Morgengrauen... Paril erschauerte. Ihm war hundekalt, sein Nacken war steif und schmerzte, und ausserdem begann wieder die Angst in ihm aufzusteigen. Die ganzen wilden Bestien der Wildnis standen ihm nach dem, was er geträumt hatte, nur allzu deutlich vor Augen, ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Angestrengt horchte er in die Nacht; aber das lauteste, was er hörte, waren die regelmässigen Atemzüge von Etuik. Das war der, der vorhin gesagt hatte, er könne kein Auge zukriegen...

Und was für ein verrückter Traum war das gewesen! (Diesmal hatte er die Einzelheiten nicht vergessen, registrierte er mit Befriedigung - seine Eignung zum Priester war wohl doch nicht so schlecht...) Die Bäume hier in der Wildnis waren offensichtlich auch vom Charakter her wilder und ungehobelter, dass beim Kontakt mit ihnen solche Bilder entstanden. Der ehrwürdige Meister als zeternder Gartenzwerg - hmm, nicht sehr vorteilhaft für Parils Weihe, wenn er das erführe! Obwohl mehr als nur ein Körnchen Wahrheit darinsteckte... Der Meister war alles andere als ein Halbgott, auch wenn er sich wie ein solcher aufführte. Bei den jungen Schülern galt er insgeheim als hochgradig lächerliche Figur, die direkten Begegnungen mit ihm jedoch - wie das jetzt verhinderte Vorgespräch - waren allgemein gefürchtet. Bei der Verhandlung mit dem Anführer der Randalierer hatte Paril nicht zum erstenmal das Gefühl gehabt, dass der Meister alles, was neu oder jung oder kräftig war, im Grunde hasste, und er hatte ein bisschen Schadenfreude nicht unterdrücken können, dass der, der sonst auf so despotische, arrogante, rücksichtslose Weise seine Macht durchdrückte, für einmal tüchtig einstecken musste... Andererseits war natürlich der Meister dennoch der erste Diener des Heiligen Baumes, verantwortlich für das Gedeihen und Wohlergehen aller Bäume und überhaupt des ganzen Dorfes - und diese Aufgabe hatte er schlussendlich doch recht gut erfüllt...

Das Angstgefühl ging nicht weg. Ein diffuses Gefühl der Bedrohung machte sich mehr und mehr in seinen Knochen breit. Angestrengt und unruhig spähte er um sich; aber alles, was er sah, war das schwache, grünliche Glimmen der Mondpilze. Es war keine helle Nacht; der Himmel war vermutlich immer noch bewölkt, wie es um diese Jahreszeit bisweilen vorkam. Blödsinn! redete Paril sich selber zu. Keine Gefahr herrscht weit und breit! Das ist bloss die Dunkelheit, die den Menschen instinktiv mit Angst erfüllt... Aber solche Reden, ob von ihm selbst oder von anderen, hatten auf Paril noch nie gut gewirkt; was er auch zu denken versuchte, er konnte nicht umhin, immer wieder ängstliche Blicke um sich zu werfen. Zum Glück gab es ziemlich viele Mondpilze, so sah man wenigstens ein bisschen. Oder...?! Das flaue Gefühl im Magen wurde plötzlich stärker. Waren vorher schon so viele Mondpilze dagewesen? Er konnte sich nicht erinnern - jedenfalls war ihm nichts aufgefallen. Aber jetzt schien es plötzlich rings um ihn herum von grünlich leuchtenden Flecken nur so zu wimmeln. Etwa in 100 Mannslängen Entfernung waren es so viele, dass die einzelnen Flecken zu einem grünen Band zusammenschmolzen...

Und dann sah er plötzlich, dass sich die Flecken langsam bewegten.

Es waren keine Mondpilze. Es waren Shas Gil.

Zwei wild umhergeworfene Blicke genügten, um Paril zu zeigen, dass er eingekreist war. Seine Gefühle wallten auf, er warf sich auf Etuik und begann, diesen wie wild zu schütteln. Dieser verflixte Kerl - erst wer weiss was von den Gefahren im Urwald schwafeln und dann, wenn die Gefahr wirklich da war, seelenruhig die Wache verschlafen!

Etuik krümmte sich, brabbelte Unverständliches; dann stiess er plötzlich einen kleinen Schrei aus und riss die Augen auf. "Hilfe! Was... Ach, du bists. Ssu, hast du mich erschreckt. Was ist denn los?" Paril liess ihn los - nicht ohne ihm dabei noch einen weiteren kräftigen Stoss zu geben. "Was los ist? Du hattest die Wache, und du bist eingeschlafen, das ist los!"

Etuik kniff die Augen zusammen und glotzte um sich. "Wache?" wiederholte er. "Verflixt, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Aber - wie du doch ge..."

Unvermittelt brach er ab, als er die Umgebung wahrnahm. Die Shas Gil waren ein gutes Stück näher gekommen; die kleinen, gurkenförmigen, stetig vorwärtskriechenden Körper waren schon deutlich zu erkennen. Sie waren nicht besonders schnell, und deswegen stellten sie auch im allgemeinen keine wirkliche Gefahr dar.

Vorausgesetzt, man bemerkte sie rechtzeitig.

Und vorausgesetzt, man befand sich nicht in weglosem Dickicht und konnte schnell weglaufen.

Nach ein paar Sekunden begann Etuik fast tonlos zu schreien. Paril gab ihm wieder einen kräftigen Stoss. "Steh auf!" befahl er. "Wer Wache hatte, ist jetzt egal, aber steh auf! Wir müssen machen, dass wir wegkommen - solange der Ring noch dünn ist. Na komm schon! He, so schlimm ist es nicht. Es ist keine besonders grosse Herde. Na los, steh doch endlich auf!" brüllte er schliesslich, aber er musste noch mit den Händen nachhelfen, bis Etuik endlich auf schwankenden Beinen stand. Dann aber reagierte dieser plötzlich ohne Zögern, indem er begann, sich quer durchs Unterholz zu kämpfen. Paril tat sofort dasselbe, auf Dornen und Kratzer nicht achtend. Sie hatten eine Chance. Wenn sie den Ring der Shas Gil erreichten, bevor sich dort zu viele zusammengerottet hatten, würde ihnen nichts passieren. Ein Shas Kil allein war vollkommen harmlos, und auch die Begegnung mit fünfen oder sogar zehn von ihnen war nicht wirklich gefährlich - wenn auch schmerzhaft. Erst ab etwa fünfzig wurde es kritisch. Den Schwarm hier schätzte Paril auf wenig mehr als 100 Individuen, und sie waren noch ziemlich weit voneinander entfernt. Riesenschwärme von vielen tausend, die einen Menschen in kürzester Zeit in ein Skelett verwandeln konnten, gab es seit langem nur noch im Reich der Legenden.

Hinter Paril rief Etuik etwas. Paril drehte sich um, konnte ersteren aber in der Dunkelheit nicht sehen. "Nicht anhalten!" rief er laut, während er weiterlief; sie konnten jetzt nicht aufeinander warten. Es war sogar besser, wenn sie getrennt waren; das verwirrte die Viecher... Die Frontlinie der Shas Gil rückte näher; sie begann sich zu verschieben, sich um Paril zu schliessen. Glücklicherweise waren Shas Gil nicht besonders schlau; sie konnten nicht ausrechnen, wo sich ihr Opfer hinbewegte, und krochen stets geradewegs auf den Punkt zu, an dem es sich gerade befand. Verbissen stolperte Paril vorwärts, den Oberkörper gesenkt, die Hände auf die Stirn gepresst. Er kam erstaunlich schnell voran, wenn ihm auch unablässig Zweige ins Gesicht peitschten und er mehrmals beinahe einen Fuss verstauchte. Wenn er jetzt in eine Fussfalle trat, dachte er plötzlich, war er ziemlich schlecht dran... Er versuchte, besser auf seine Füsse zu schauen, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Etuiks Stimme erklang wieder; aber Paril verstand nicht, was er rief. Er blieb einen Augenblick stehen und sah zurück. Er konnte nichts sehen. "Hier bin ich!" rief er laut. Was wollte Etuik? War der am Ende gestürzt - oder in eine Fussfalle geraten? Verflixt, was sollte er bloss machen... Verzweifelt blickte Paril um sich. Da sah er wieder die Shas Gil. Sie waren nur noch wenige Mannslängen entfernt, und es waren mindestens zehn, die sich gleich an ihn heranmachen würden. Es gab nichts mehr zu überlegen. Paril vergass alles hinter sich, biss die Zähne zusammen und stürmte den Shas Gil mit gesenktem Kopf entgegen.

Die formlosen Gurken begannen eine nach der anderen zu verschwimmen und in sich zusammenzufallen; sie lösten sich auf in ihre Bestandteile - Millionen von ameisengrossen Einzelindividuen, die in einem Strom auf ihr Opfer losfluteten. Parils Zähne pressten sich aufeinander, als an den Fussohlen das Brennen und Prickeln von Myriaden winziger Bisse begann. Er trat mit den Füssen auf den Boden, rieb die Schuhe an den Waden. Das prickelnde Brennen kroch höher, auf die Oberschenkel. Bereits schüttelte es ihn am ganzen Körper, und er verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, sich auf dem Boden zu wälzen. Obenbleiben! Weiterlaufen! Halb besinnungslos brach er durch die Büsche, das Kratzen der dornigen Zweige fast als eine Wohltat empfindend, klatschte mit den Handflächen auf 20 verschiedene Stellen, tanzte wie besessen von einem Bein aufs andere, fiel hin, rappelte sich wieder hoch, stolperte weiter... Schliesslich konnte er nicht mehr. Schwer keuchend und schweissüberströmt blieb er liegen, wo er hingefallen war, und dachte einige Augenblicke lang gar nichts.

Und dann realisierte er plötzlich, dass das Brennen nicht schlimmer geworden war. Von den Fussohlen bis zu den Hüften fühlte es sich an, als ob er im Feuer sässe - aber es schlich nicht mehr weiter. Mühsam wälzte es sich auf die Seite, richtete sich auf. Zur linken Seite, nur verschwommen, das grüne Glimmen; in allen anderen Richtungen sah er wohltuende Schwärze. Er hatte den Ring durchbrochen! Trotzdem war es ratsam, weiterzulaufen; die verbliebenen Shas Gil würden ihn noch eine Weile verfolgen, da sie nicht sofort kapierten, dass sie jetzt keine Chance mehr hatten. Die unmittelbare Gefahr war für Paril gebannt, aber... Da durchfuhr ihn plötzlich ein heisser Schreck.

Wo war Etuik?

Bei allen 4 Naturgewalten! Plötzlich packte ihn ein brennendes Schuldgefühl, dass er Etuik seinem Schicksal überlassen hatte. Sich vorzustellen, dass er in eine Fussfalle gelaufen und der ganzen Herde schutzlos ausgeliefert war... Ssukr, wie grässlich! Er musste ihn finden, sofort!

Paril wollte aufstehen - doch es blieb beim Wollen. Jede Bewegung oder Berührung seiner Beine löste in seinem Kopf ein mittleres Schmerzgewitter aus. Ssukr! In ohnmächtiger Wut hämmerte er mit den Fäusten auf den Boden. Bei allen Wasserteufeln, was hatte er getan, dass er so bestraft wurde? Und wieviel Qual konnte ein Mensch überhaupt ertragen? Er würde wahnsinnig werden. In wenigen Minuten würde er bestimmt wahnsinnig werden. Er blieb liegen, den Kopf in einem Gebüsch harter Palmentriebe, und kümmerte sich um keine Shas Gil mehr. Könnte ich zurücksinken in Gleichgültigkeit, in Bewusstlosigkeit... Aber das konnte er nicht. Es war unmöglich, seinen Körper in eine bequeme Lage zu bringen, und ausserdem spürte er ständig irgendwo ein Kribbeln; ein paar der kleinen Einzelindividuen krabbelten noch herum, satt und schwerfällig jetzt. Erbittert zerquetschte er ein paar von ihnen, was ihm eine grimmige Freude bereitete - bis ihm plötzlich einfiel, dass das eine verwerfliche Denkweise war. Man sollte nie zum Vergnügen töten. Töten an sich war nicht verwerflich - es war nötig und in der Natur allgegenwärtig - aber kein Tier und keine Pflanze tötete aus reinem Vergnügen; wer das tat, war ein Frevler. Andererseits - die Shas Gil hatten ihn ja angegriffen, somit hatte er das Recht, sich zu wehren...

Hmm, das war wieder so eine Frage, auf die das Grüne Buch keine eindeutige Antwort gab. Das Grüne Buch beantwortete überhaupt vieles nicht eindeutig; immer wieder war man als Student mit knappen Andeutungen alleingelassen. Es konnte natürlich nicht anders sein, da sonst das Buch zu umfangreich geworden wäre; und je umfangreicher ein Buch, desto länger dauert das Abschreiben, und desto weniger kann das Buch verbreitet werden. Das Schreiben war sowieso eine schwierige Kunst, die nur wenige beherrschten; Paril hatte schon mit dem Lesen seine liebe Mühe. Der grösste Teil des Wissens der Priester war nirgends aufgeschrieben; eine Tatsache, die Paril recht beklagenswert fand. Das O'Parlperibe Boebe zum Beispiel, der heilige Akt, in dessen Verlauf der Stamm eines Pyramidalbaums ausgehöhlt und als Meditationsstätte hergerichtet wird, war im Grünen Buch wohl detailliert beschrieben - vor allem was die rituellen Aspekte betraf - aber dennoch reichte diese Beschreibung bei weitem nicht. Die praktische Ausführung erforderte neben Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen für den Baum die Beachtung von Hunderten kleiner Details, damit der Baum keinen Schaden erlitt. Und diese Details waren in keinem Buch notiert, sie unterschieden sich auch von Gegend zu Gegend; man musste sie sich von einem Meister lehren lassen. Und wenn der Meister starb, ohne all sein Wissen um die Zusammenhänge in der Natur weitergegeben zu haben, war auch das Wissen verloren. Es musste schon unermesslich viel verloren gegangen sein - wie sonst war es möglich, dass mitten im heiligen Wald ein Ort wie Zin-Âching entstand? Dass es Leute gab, die von den alten Künsten gar nichts mehr wissen wollten und sogar stolz waren, wenn man sie Ketzer nannte; Leute, die nicht mehr die Welt als grossen Organismus, sondern nur noch sich selbst sahen. Was passiert, wenn jeder Teil eines Wesens nach seinem eigenem Willen handeln will? Hier musste Paril dem Meister von Onnikir recht geben: das Wesen geht zugrunde! Und genau das würde mit der Welt passieren, wenn...

Plötzlich schrak Paril auf. War er verrückt, seine Gedanken so davonlaufen zu lassen? Er war in Lebensgefahr! Und Etuik auch... Er zwang sich wieder zur Konzentration und erhob sich langsam trotz der brennenden Beine.Die Shas Gil waren weiterhin nur links von ihm; seltsamerweise schienen sie kaum näher als vorhin. Paril unterdrückte sein Verlangen, vor diesen unheimlichen Wesen wegzulaufen; er musste Etuik helfen! Langsam liess er seinen Blick hin- und herschweifen. Es war nirgendwo eine besondere Konzentration von Shas Gil zu entdecken; vielmehr schienen sie planlos zerstreut. Entweder Etuik war ihnen entkommen, oder sie waren schon gesättigt... Paril spürte das Verlangen zu schreien. Dabei wurde ihm plötzlich bewusst, dass die einzigen zu hörenden Laute die von ihm selbst verursachten Geräusche waren. Die Shas Gil bewegten sich in völliger Stille... Schreien wäre gar nicht mal schlecht. Etuik würde es bestimmt hören - falls er noch hören konnte...

Paril holte Atem, so gut er noch konnte, und brüllte in die Stimme: "Etuik! Etuik! Wo bist du?" Dann war es wieder still, und Paril horchte angstvoll und angestrengt in die Nacht. Noch einmal schrie er: "Etuik! Wo bist du? Ich bins, Paril! Hier bin ich!" Und wieder lauschte er, angstvoller als vorher.

Und dann blieb ihm fast das Herz stehen.
Vor Erleichterung.
 



 
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