6. Rishwa Lai

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pol shebbel

Mitglied
(Und jetzt ist die spezielle fraschische Flora dran.)

Endlich. Eine halbe Ewigkeit schien verstrichen zu sein - aber jetzt, endlich, ging die Nacht ihrem Ende zu. Noch war es dunkel - aber es war nicht mehr still. Die Vogelwelt des Pyramidalwalds war am Erwachen und liess bereits ein lautstarkes vielstimmiges Konzert erklingen, welches der Nacht mitteilte, dass sie jetzt bei Gelegenheit zu verschwinden habe. Am östlichen Horizont zeigte sich bereits ein heller rötlicher Streifen - aber das sahen nur die Tiere, die sich zualleroberst in den Zweigen aufhielten.

Gibs auf, dachte Paril. Stundenlang hatte er jetzt um Schlaf gekämpft; die Hoffnung, doch noch zu siegen - beziehungsweise dem Schlaf zu unterliegen - konnte er langsam entfliegen lassen. Er blieb aber noch liegen und horchte auf das Frühkonzert. Er kannte jeden einzelnen Ton: den hohen, dünnen Pfiff des Blätterpfeils, das hart-metallische Schlagen des Akrobatenvogels, das ordinäre Tschilpen der Sperlinge, das weiche Gurren der Waldtauben; das Keckern der Baos, das wie das Weinen eines Babys klang, das unmelodische Kreischen der Papageien; einmal streifte sein Ohr sogar von ganz weit weg das tiefe Röhren eines Brüllaffen. Es war unglaublich schön - nur leider passte es zu Parils Stimmung wie ein Schmetterling zu einer Scheissfliege. Er hatte mehrmals geglaubt, noch mehr Qualen würden ihn bestimmt wahnsinnig machen; doch jedesmal hatten nachher die Qualen unaufhörlich weiter zugenommen, und noch immer musste er alles mit wachen Sinnen ertragen. Seine Beine brannten wie Feuer, ihre Haut war geschwollen und sonderte Flüssigkeit ab. Nichtsdestoweniger zitterte er vor Kälte, denn er hatte ja die Nacht - eine Nacht vor Frühlingsbeginn - ohne jeden Schutz verbringen müssen. Und abgesehen von der Beule am Kopf und den vielen blauen Flecken und blutigen Schrammen, die sich in den letzten 24 Stunden auf ihm angesammelt hatten, begannen ihn jetzt auch Hunger und Durst zu peinigen. Gegessen hatte er auch einen Tag lang nichts mehr...

Gibs auf. Schlafen kannst du nicht mehr... Paril schlug die Augen auf. Es war dämmrig. Über sich sah er undeutlich den Pyramidalstamm aufragen, an dessen Fuss er sich so weit wie möglich zusammengerollt hatte. Dicke Lagen von Flechten bedeckten ihn wie zerschlissene Teppiche. Die Luft war frisch. Paril versuchte, sich zu bewegen; sofort überlief ihn, von den Beinen kommend, ein heisser Schauer. Zischend liess er die Luft zwischen den Zähnen entweichen und bewegte sich einen Fingerbreit weiter. Ein Stich im Rücken. Kein Wunder - so eine Nacht macht den gesündesten Burschen zum alten Mann... Langsam und vorsichtig klappte er seinen langen Körper auseinander, begann, seine knackenden Glieder zu dehnen. Tief atmete er die kalte Morgenluft ein; allmählich fühlte er sich etwas besser. Schliesslich lehnte er sich, so gut das ging, gegen den schrägen Pyramidalstamm und stützte die Stirn in die Hände. Zu seiner rechten Seite war Etuiks Rücken zu sehen, halb aufrecht, halb nach vorne gesunken; er rührte sich nicht. Toller Nachtwächter... Allerdings, als Paril hätte wachen sollen, war er auch nicht immer zurechnungsfähig gewesen. Wären die Shas Gil zurückgekommen, dachte Paril, dann würden jetzt nicht nur meine Beine brennen...

Er überlegte, was jetzt zu tun war. Bald würde die Sonne aufgehen. Dann würden sie die Richtung bestimmen können, um nach Hause zu gehen nach Hause, in sein Heimatdorf... Seltsam, was er da plötzlich für ein Gefühl hatte. Während er vorhin andauernd das Gefühl nicht losgeworden war, dies alles sei ein Alptraum, aus dem er bald erwachen und sich im Schutze seines geliebten Schlafbaumes wiederfinden würde, kam es ihm jetzt so vor, als ob sein ganzes bisheriges Leben ein Traum gewesen sei - ein schöner Traum, aus dem er nun in eine brutale, böse Wirklichkeit hinausgerissen worden war... Natürlich war es nicht so. Das Leben vorher war genauso wirklich gewesen wie das jetzige - und manchmal auch so böse. Zin-Âching, die Stadt des Lasters, war schon immer dagewesen; die zerlumpten, katzenhaft durch die Bäume kletternden Galbladi waren immer schon dagewesen; Dürre und zunehmendes Banditentum hatte es auch schon seit ein paar Jahren gegeben. In kleinerem Masse waren selbst Überfälle wie der gestrige vorgekommen - allerdings immer anderswo... Vielleicht war es das: es war immer anderswo gewesen. Niemand von O'kir war je nach Zin-Âching gereist, und die Idee, dies zu tun und mit eigenen Augen nachzuprüfen, was die Händler und die Wanderprediger erzählten, wäre als grotesk und lächerlich gewertet worden. Zin-Âching war auf eine Weise gar kein richtiger Ort; es war so abstrakt und fern, dass es beinahe den Charakter eines Sprichwortes oder einer stehenden Wendung angenommen hatte; der Meister des Dorfes zum Beispiel hatte als letztes Hilfsmittel gegen Kritik die Empfehlung bereit, doch einmal nach Zin-Âching zu gehen... Na gut, aber: wie war denn das Leben abgesehen von "anderswo" gewesen? Gerade zwischen Paril und seinem Vater hatte es ernste Auseinandersetzungen gegeben, weil Sherritex einen Erben für seinen Hof brauchte und keinen Priester... Kein schöner Traum, wirklich nicht. Aber im Vergleich zu dem hier... Natürlich liebte und ehrte er seinen Vater trotzdem, und auch seine quirlige, lebendige Mutter, und seine Schwester, und seinen Pyramidalbaum, in dem er seit seiner Kindheit geschlafen und meditiert hatte; und er liebte es, mit dem Flokaigrab Shebbel im Spätsommer auf die Jagd zu gehen; und er liebte seine Feunde, und Gânssi... Gânssi! Alle anderen Gedanken traten plötzlich in den Hintergrund. Ssukr! Wenn er die Weihe erhalten hatte, würden sie heiraten können, das war heimlich so ausgemacht; und jetzt musste das hier dazwischen kommen! Nur noch drei Tage Zeit bis zur Tagundnachtgleiche - verdammt, er musste zurück!

Ob die Sonne bald aufging? Paril spähte nach oben und versuchte, zwischen den Blättern ein Stück Himmel zu finden, was ihm aber nicht gelang. Das einzige, was er sah, war ein durch die Zweige linsender Breitkopfaffe; einen Augenblick später ertönte ein Rascheln, und nur noch ein paar leicht schaukelnde Zweige waren zu sehen. Paril blickte wachsam um sich, aber anscheinend war im Augenblick er die einzige Gefahr.

Ein niesender Laut erklang aus Etuiks Richtung.Paril wandte den Kopf. Etuiks Rücken hatte begonnen, etwas hin- und herzurutschen. "Na, aufgewacht?" rief Paril zu ihm hinüber. Er erhielt keine Antwort. "Etuik?" rief er, plötzlich erschrocken, erhob sich und ging schwankend ein paar Schritte. "Etuik, was ist los?" fragte er besorgt, sich vorsichtig hinabbeugend, darauf bedacht, mit den Beinen nirgendwo anzustossen.

Etuik gab immer noch keine Antwort. Sein Kopf pendelte hin und her, aber seine Augen waren zu; schlief er noch, oder war er nicht bei Bewusstsein...? "Etuik, verdammt..." Doch bevor Paril allzusehr erschrecken konnte, nieste Etuik ein zweites Mal und schlug die Augen auf. Abwesend starrte er Paril an; seinem Mund entwich ein Laut, der klang, als ob er seine Stimme während Jahren nicht gebraucht hätte. "Bei Ssai", entfuhr es Paril, "du bist ja halb bewusstlos. Hast du Fieber?"

Etuik kniff die Augen zu, öffnete sie wieder. "Bewusstlos?" wiederholte er. "Wieso denn? Ich bin wach. Ich war die ganze Zeit wach..." Er blinzelte und drehte langsam seinen Kopf herum. "Mann... Hunger hab ich", murmelte er langsam. "Gibts hier nichts zu essen?"

Paril wurde plötzlich sein eigener Hunger stärker denn je bewusst. "Essen! Gute Idee!" rief er. "Warte, ich suche etwas." Vorsichtig erhob er sich und begann, mit kleinen wackligen Schritten seine Umgebung zu erkunden. Um diese Jahreszeit sollte es nicht allzu schwierig sein, etwas Essbares zu finden...

Nach kurzer Zeit fiel sein Blick auf einen flechtenbelegten Baumstamm. Pongperiwôm Âchflai. Lebensflechte. Daheim im Dorf braute man ein herrlich stärkendes Getränk daraus. Ob man es auch so essen konnte? Zu versuchen wäre es.

Paril zögerte. Nehmen von den Erzeugnissen eines Baumes war eine heilige Handlung, die das Wechax Wchabe-Ritual erforderte. Also gut, eine kleine Meditation... Stöhnend liess er sich auf die Knie nieder, schloss die Augen und begann, sich langsam hin- und herzuwiegen und dabei die Handflächen aneinanderzureiben. Es gestaltete sich aber überaus schwierig, Kontakt mit der Seele des Baumes aufzunehmen; seine entzündeten Beine, sein schmerzender Rücken und sein knurrender Magen behinderten seine Konzentration so sehr, dass er den Versuch schliesslich aufgeben musste. Also gut. Er war in einer Notsituation; und für eine solche gab es ein vereinfachtes Verfahren, den Baum um Erlaubnis zu bitten, welches darin bestand, ein bestimmtes Gebet zu sprechen.

"Verehrter Baum, Beschützer allen Lebens,
Du Kind von Ssai, du Quell der Fruchtbarkeit,
Ein Teil des Ganzen sind wir, du und ich..."

Ohne Zögern sprudelten die Worte aus jenem von Paril so gründlich studierten Grünen Buch aus seinem Mund hervor. Wer hätte gedacht, wozu das Lernen alles gut sein konnte... Schliesslich riss Paril ein Stück Flechte ab und steckte es in den Mund. Bäh. Das Zeug war zäh wie Leder, und der säuerliche Geschmack, der das Getränk so wohlschmeckend machte, zog ihm hier fast den Mund zusammen. Er zwang sich, weiterzukauen, und nach ein paar Minuten fühlte er sich tatsächlich etwas frischer. Er spuckte die ausgelutschten Brocken wieder aus und riss noch ein paar Stränge ab, die er in seine Gürteltasche stopfte.

Was er jetzt nötig brauchte, war Flüssigkeit; er liess die Flechten Flechten sein und stolperte weiter. Wieder brauchte er nicht lange zu suchen; ein paar Pyramidalbäume weiter fand er eine Perrkzôtrôm-Blume. Eine unscheinbare Pflanze im Vergleich zu anderen phantastischeren Gewächsen des Pyramidalwaldes, mit kleinen blassrosa Blüten, von denen die meisten jetzt schon verblüht waren. Für Paril wichtig aber war: sie hat eine starke Pfahlwurzel, die tief in den Pyramidalstamm reicht, auf dem sie (wie alle anderen Pflanzen auch) wächst.

Paril beugte sich hinab - nicht ohne vorher auch diesem Baum seinen Spruch aufgesagt zu haben - und umfasste die ganze Pflanze so tief wie möglich mit einer Hand. Ein kurzer kräftiger Ruck - und die Pflanze war ausgerissen. Sie hinterliess ein kleines Loch in der glatten Baumrinde, aus dem langsam eine träge Flüssigkeit austrat - das "Blut" des Baumes beziehungsweise ein paar Tropfen aus seinem Vorrat für den Sommer. Paril beugte sich sofort nieder und schlürfte das kostbare Nass. Es schmeckte fad und etwas muffig, und viel war es nicht; bereits nach wenigen Minuten hatte der Baum das Loch in seinem Wasserspeicher gestopft.

Paril erhob sich schwankend. Fürs erste hatte er genug; jetzt musste er sich um Etuik kümmern. Langsam ging er zurück, wobei er sich den Weg merkte.

Etuik war wieder in Apathie zurückgefallen, wie Paril mit wachsender Besorgnis feststellte; er lag zusammengesunken da und reagierte nicht auf Parils Zuruf. Wie soll das nur werden? dachte Paril besorgt. Wir müssen zurück; aber ich kann ihn doch nicht liegenlassen... Er kniete nieder und richtete Etuik auf, welcher willenlos alles mit sich geschehen liess. Paril nahm einen Brocken Lebensflechte aus seiner Tasche und versuchte, ihn Etuik in den Mund zu stopfen. Das gelang ihm erst nach einiger Mühe; die Wirkung war dann allerdings erstaunlich.

Etwa eine Sekunde lang passierte nichts; dann plötzlich riss Etuik die Augen auf, schnitt eine wüste Grimasse, bäumte sich auf und spuckte das Stück Flechte wieder aus - das alles im selben Augenblick. "Bäääh!" keuchte er. "Was ist denn das für ein scheussliches Zeug?! "Paril musste lachen, obwohl ihm gleichzeitig der Schmerz in den Beinen die Tränen in die Augen trieb, denn er hatte, um nicht angespuckt zu werden, unwillkürlch eine schnelle Bewegung machen müssen. "Das ist Lebensflechte, Alter!" riefer munter. "Woraus man den Tee macht. Ich sehe, es hat schon gewirkt. Versuch noch etwas!" Und er hielt ihm einen zweiten Brocken hin.

Doch Etuik bog mit erstaunlicher Geschwindigkeit seinen Kopf weg. "Nein!" ächzte er. "Nein - nein..." Er war nicht dazu zu bringen, nur einen Brocken mehr in den Mund zu nehmen. "Na schön", brummte Paril schliesslich, "dann kann ja dein Hunger nicht allzu gross sein. Aber irgend etwas solltest du zu dir nehmen. Zumindest was zum Trinken."

Es bedurfte noch einiges an Zureden, ehe es ihm gelang, Etuik zu der Stelle zu schleppen, wo die Perrkzôtrôm-Blumen wuchsen. Dann allerdings brauchte er nicht mehr nachzuhelfen; mit grosser Gier machte sich Etuik ans Ausreissen und Auflecken und kümmerte sich um nichts anderes mehr.

Währenddessen spähte Paril wieder nach oben. Die Sonne musste jetzt längst aufgegangen sein - doch Paril konnte keinerlei Hinweis auf sie entdecken. Aus allen Richtungen kam das gleiche Zwielicht. Immer noch bewölkt - Mist! Er würde seinen Beinen die Tortur zumuten müssen, einen Baum zu erklettern. Oder aber sie mussten ihren Spuren bis zum Lager zurückfolgen - jetzt am Tage prinzipiell kein Problem, denn Paril war ein geübter Spurenleser, aber auch keine sehr angenehme Aussicht, wenn Paril den zurückliegenden langen Irrweg bedachte. Aber jetzt einmal abgesehen von diesen Detailproblemen: es stellte sich auch grundsätzlich die Frage des weiteren Vorgehens. Es kam natürlich überhaupt nicht in Frage, den Weg, den sie gekommen waren, zurück nach Onnikir zu suchen. Denn das war eine Tagereise, die nur durch Wildnis führte; die einzigen Menschen, die man da antreffen konnte, waren Banditen. Und was er und Etuik jetzt dringend brauchten, war ein Heilkundiger, der ihre Shas Gil-Wunden behandeln konnte. Sonst würden sich innerhalb weniger Stunden Geschwüre bilden, und dann würden sie bald überhaupt nicht mehr laufen können. Es galt also, möglichst schnell eine Ortschaft zu finden. Und - verflixt, Paril war sicher, dass es in der Nähe eine Ortschaft gab! In einem Tage konnte man nicht so tief ins Niemandsland geraten. Und er war doch bestimmt schon einmal in dieser Gegend gewesen... Paril runzelte die Stirn und versuchte, sich ihren Standort vorzustellen. Artzinpush könnte in der Gegend liegen - oder Rishwa Loemparl vielleicht?

Etwas, was ihn ärgerte, war, dass er sich die Namen nie merken konnte. Er kannte jedes einzelne dieser Dörfer und ihre Lage zueinander - bloss jetzt wollte ihm nichts einfallen. Das war wieder so etwas, das irgendwo in ihm drin war und wirkte, auf das er jedoch keinen Einfluss hatte. Vielleicht - wusste er den Weg in Wirklichkeit und hatte bloss keine Ahnung davon? Wie dem auch sei, sie mussten jetzt aufbrechen. Solange sie noch laufen konnten...

Er sah sich nach Etuik um. Ein leichter Schock durchfuhr ihn - Etuik war nicht mehr da! Doch ein paar Augenblicke später entdeckte er ihn etwas abseits - auf allen Vieren durchs Unterholz kriechend, anscheinend immer noch auf der Suche nach Perrkzôtrôm-Blumen. Mit leiser Missbilligung stellte Paril fest, dass er sämtliche Pflanzen auf dem Pyramidalstamm ausgerissen hatte - das an sich, alles rücksichtslos abernten, war schon gegen das Gesetz. Und dazu noch hatte er nicht einmal versucht, zu meditieren - ausgerechnet er, der immer am lautesten auf die Ketzer geschimpft hatte... Andererseits war Etuik ohne Zweifel in einer deutlich schlimmeren Notlage als Paril, was den Verstoss gegen die Regeln wieder relativierte.

Paril ging zu Etuik und tippte ihm auf die Schulter. "Komm!" sagte er. "Es ist Zeit, dass wir aufbrechen." Während Etuik verstört aufschaute, erklärte ihm Paril die Sachlage und seinen Entschluss. Etuik schien nicht allzuviel mitzukriegen,aber immerhin liess er sich von Paril auf die Beine helfen und leistete auch keinen Widerstand, als ihn Paril zu ihrem Nachtlager zurückführte.

So - und jetzt: wohin? Paril sah sich sorgfältig nach allen Richtungen um, quälte sich ein Stück weit auf einen Baum, um noch einmal den Himmel zu prüfen, an dem die Sonne noch immer unsichtbar war, schloss die Augen, schnupperte, blätterte im Geiste alle Landkarten durch. Schliesslich versank er kurz in Meditation, um danach eine Richtung zu wählen, die ihm ein wenig wahrscheinlicher schien als die anderen. In dieser setzte er sich, Etuik stützend, in Bewegung.

Doch er wurde das Gefühl nicht los, dass er keine Ahnung hatte, was er tat.

***​
Es war ein mühsamer Weg, den Paril gewählt hatte. Schon nach wenigen Schritten versperrte ihnen ein dorniges Brombeergestrüpp den Weg und zwang sie zu einer Richtungsänderung. (Paril fragte sich, ob es dasselbe war, in das er vorige Nacht hineingestolpert war; eindeutige Spuren konnte er jedenfalls keine feststellen.) Nachdem sie es umgangen hatten, ging Paril die Strecke, die sie vom Kurs abgewichen waren, wieder zurück; die gewählte Richtung mochte zwar sinnlos sein, aber an irgend etwas musste er sich festhalten. Das erwies sich aber auch nachher als schwierig. Bald war es ein junger Pyramidalbaum, der so über zwei alte wuchs, dass die Stämme eine solide mannshohe Mauer bildeten, bald war es eine Gruppe von Rishwa Lai-Blüten, deren süsslicher Duft ihn schon aus zehn Mannslängen Entfernung fast betäubte - dauernd waren sie gezwungen, vom geraden Wege abzuweichen. Und ausserdem machten ihre inzwischen enorm berührungsempfindlichen Beine jeden Schritt zur Tortur. Etuik verfiel mit der Zeit in monotones, unartikuliertes Jammern, war kaum noch ansprechbar und musste von Paril beinahe getragen werden. Der macht es sich leicht, dachte Paril, während er wieder einmal mit Lauschen und Schnüffeln versuchte, sich zu orientieren. Er lullt sich ein in seine Schmerzen, und ich kann die ganze Arbeit machen. Als ob ich beliebig belastbar wäre...

Mit einem unvermittelten Ruck liess er Etuik und sich selbst zu Boden gleiten und blieb bewegungslos liegen. Er hielt es nicht mehr aus! Seine Beine waren mit einer harten Kruste bedeckt, aus Rissen floss gelbliche Flüssigkeit, die sich mit dem Stoff seines Beinkleids verklebte - und der Wald sah in alle Richtungen gleich aus! Sie hätten genauso gut gar nicht erst loszugehen brauchen. Und genauso gut - könnte er eigentlich gleich hierbleiben...

Ein verführerischer Gedanke, der sich ganz von selbst weiterspann. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht der Zivilisation entgegen, sondern irgendwo in die Irre marschieren würden, war überwältigend gross. Und warum sollte er einer verschwindend kleinen Hoffnung wegen diese ganzen Strapazen auf sich nehmen? Jeder musste irgend einmal sterben, und ausserdem - was war schon der Tod? Sein Körper würde die Bausteine für neues Leben liefern, und seine Seele würde wohl für einige Zeit im Meer versinken - in den Himmel kommen würde er als gewöhnlicher Kalâm wohl noch nicht... Wenn ich jetzt die Prüfung gemacht und ein Kalbell geworden wäre...

Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf lief, schrak er plötzlich zusammen. Bei Ssu, welch ein Unsinn! Erstens würde es auf die Prüfung nicht ankommen. Es gab schlechte Galbell und gute Galâm; jeder musste aus seinem Schicksal das beste machen. Zweitens wäre es unfair, jetzt einfach aufzugeben, ohne Etuik zu fragen, ob er einverstanden war (wobei Paril so gut wie sicher war, dass er nicht einverstanden wäre). Und ausserdem... Nicht dass er Angst vor dem Tod hatte, aber er hatte vorher noch ein paar Dinge zu erledigen - gewissen Leuten ein paar Dinge sagen zum Beispiel. Etwa einem gewissen Messerhelden...

Na, vielleicht hatte er doch etwas Angst vor dem Tod. Auf jeden Fall galt es jetzt weiterzugehen. Paril richtete sich etwas auf und versuchte erneut, sich zu orientieren.

Die Sonne war immer noch nicht zu sehen; es war ein grauer, drückender Tag. Der einzige Anhaltspunkt war die Richtung, aus der sie gekommen waren; diese versuchte er in Gedanken fortzusetzen. Doch wie vorhin erschien es so gut wie unmöglich, einen geraden Weg einzuschlagen. Überall waren Hindernisse; und auffällig oft waren es diesmal die weitgeöffneten weissen Riesenblüten der Rishwa Lai mit ihrem berauschenden Duft, die im Weg standen. So viele Rishwa Lai auf einmal hatte er noch nie gesehen... Mit plötzlichem Grauen fühlte er sich an die Vermehrung der Mondpilze letzte Nacht erinnert. Doch er zwang sich zu Ruhe; es gab keine gefährlichen Lebewesen, die man mit Rishwa Lai verwechseln konnte. Die Rishwa Lai allein waren freilich schlimm genug. Wenn er nicht aufpasste, würde er bald betrunken herumschwanken wie an einem Sonnwendfeuer...

Und dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Rishwa Loemparl! Das Kraut, das man in der Sonnenwendenacht ins Feuer streute, stammte meistens aus Rishwa Loemparl. Und woher hatte Rishwa Loemparl seinen Namen? Von den Rishwa Lai natürlich! Von den vielen Millionen Rishwa Lai, auf die man stiess, wenn man von Rishwa Loemparl aus nach Norden gehen wollte. Meilenweit standen sie dicht an dicht und versperrten einem den Weg, denn kein Mensch konnte den Duft einatmen, ohne nach spätestens 20 Minuten völlig benebelt zu sein - nur während der Blütezeit natürlich, aber das hiess neun Monate im Jahr. Die Gegend hier musste also am Rande des Rishwa Lai-Feldes liegen - irgendwo im Südosten lag Rishwa Loemparl... Schlag auf Schlag kamen die Erinnerungen, plötzlich hatte er seine Orientierung wieder. Und vorhin hatte es ihm nicht einfallen wollen - so etwas Verrücktes!

Mit einem Male schien ein Ende des Alptraums in greifbare Nähe gerückt, was Parils Lebenskraft wesentlich stärkte und die schwärzlichen Todesgedanken von eben beiseitewischte. Das Aufstehen fiel ihm schwer; noch einmal Hinsetzen durfte er sich nicht mehr erlauben. Beinahe noch schwieriger war es, Etuik hochzubringen; Paril schaffte es nur mit Hilfe eines weiteren Stücks Lebensflechte. (Die Wirkung kam reichlich verzögert, aber nach dem Ausspucken war Etuik wenigstens für ein paar Minuten einigermassen wach.) Dann ging das Stolpern durch den Urwald weiter.

Es wurde nicht leichter. Noch immer war keine Spur eines benutzbaren Weges zu sehen, so verursachte noch immer jedes Hindernis einen mühsamen Umweg. Hinzu kam jetzt, dass sie ständig mehr oder weniger nahe an Rishwa Lai vorbei mussten, so dass er nicht verhindern konnte, den Duft einzuatmen. Sein Kopf begann schwindlig zu werden und seine Reaktionen langsamer. Er bemerkte dies mit wachsender Besorgnis; wenn jetzt ein wildes Tier auftauchte, würde er eine leichte Beute sein... Er versuchte, den Schwindel durch erhöhte Vorsicht und Wachsamkeit wettzumachen. Was er erreichte, war, dass er jede Minute nervöser wurde. Jeder einzelne Laut, jedes Rascheln, wenn nur ein Flughase durch die Zweige glitt, liess ihn zusammenfahren, wobei er oft beinahe das Gleichgewicht verlor. Die Droge in der Luft beeinflusste auch seine Wahrnehmung, steigerte die Empfindlichkeit der Sinne, so dass ein schwaches Piepsen ihm in den Ohren gellte, ein kleines Zweigschwanken zu einer riesenhaften Drohgebärde wurde. Er biss auf die Zähne, versuchte sich durch Kauen von Lebensflechte wachzuhalten. Wenn er nach links blickte, schmolzen die Rishwa Lai in der Ferne zu einem weissen Meer zusammen, was bewies, dass er auf dem richtigen Wege war; weit konnte es nicht mehr sein! Einmal erschrak er fast zu Tode, als er das gefleckte Fell eines Katzenparden sah. Und auch als er längst festgestellt hatte, dass es sich nur um einen bereits halbverwesten Kadaver handelte, konnte er sich nicht beruhigen und traute sich kaum vorbeizulaufen; dauernd schien es ihm, als bewege sich der Körper noch. Zwei Minuten später überlief es ihn eiskalt, als er plötzlich merkte, dass Etuik nicht mehr da war! In Panik sah er sich um; und da hing Etuik wie immer an seiner Schulter. Pfeifend liess er die Luft ab und stolperte weiter; aber immer wieder musste er sich Etuiks Gegenwart vergewissern.

Die Bäume, die Steine, alle Gegenstände begannen sich zu verformen, schienen lebendig zu werden. Es sind Halluzinationen, redete sich Paril verzweifelt ein, nur Halluzinationen von diesen Rauschblumen! Aber er hatte keine Gewalt über sein Gehirn. Seltsame Gestalten schienen aufzutauchen, Bestien oder Menschen - und wenn er stehenblieb, lösten sie sich in Luft auf, um wenig später anderen Platz zu machen. Sein Kopf begann zu brummen, er fühlte einen Druck, als presse ihn eine steinerne Hand auf den Boden. Die Hand Ssais, schoss es ihm durch den Kopf - Ssai, die Gottheit, Ssai, die Urgewalt! Noch nie hatte er den Wald so dämonisch erlebt. Ihm war, als ob er in einem unsichtbaren Käfig eingeschlossen wäre, niedergehalten von unsichtbaren Energien, beobachtet von tausend feindseligen Augen, den Augen Ssais...

Sie bannten ihn fest, die Augen der Gottheit, sie liessen seine Glieder erstarren. Langsam sank Paril zu Boden, den Blick auf die tanzenden Waldgeister gerichtet...

Sie tanzten. Knorrige Baumgeister, durch die Gegend fegende Windgeister, grosse, kleine, ein Meer von entfernt bis gar nicht mehr menschenähnlichen Fratzen umwogte ihn, drehte sich um ihn herum in einem wahnwitzigen Reigen. Sie vermischten sich, grüne, braune. graue, gelbe Farbkleckse flossen ineinander, bildeten Strudel und Wellen... Kerr, der Gott des Wassers! Er schwamm im Meer - im Meer der Verdammnis...

Eine Blase erschien, ein weisser leuchtender Punkt, der sich langsam ausdehnte zu einer Kugel. Und in der Kugel war plötzlich ganz deutlich - der Messerheld zu sehen, der herausfordernd grinste und mit zwei Messern jonglierte. Eine jähe Wutwelle überschwemmte Paril; er sprang auf, stürzte sich auf den Messerhelden... und schlug sich dröhnend den Kopf an. Ein zuckender Schmerz und ein paar tausend blinkende Sterne begleiteten ihn auf seinem Rückweg nach unten. Der Schmerz war keine Halluzination, er war handfest und reell. Und für kurze Zeit waren auch alle anderen Halluzinationen verschwunden, für wenige Sekunden sah er die Welt wieder klar.

Und da sah er in der Ferne zwei Gestalten.
Zwei eindeutigerweise menschliche Gestalten, die sich näherten.

"Rishwa... Loemparl! Ich wusste es..." stiess Paril hervor, bevor er vornüberfiel und vom Meer seiner Träume fortgetragen wurde.
 



 
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