6. Wo komme ich her?

Nachdem ich ausgiebig über Berta berichtet habe, will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen: Wie ging es weiter, als mir endlich dämmerte, dass ich nicht etwa ein Traumleben führte, sondern mitten in einem Horrorfilm steckte?

Es folgte eine Trennung mit vielen Tränen und tausend Entschuldigungen (Spoiler: nicht von meiner Seite). Das war der erste Schritt in ein neues Leben. Berta hielt sich in dieser Zeit erstaunlich zurück – was aber auch wieder sehr typisch ist. Ängste sind schließlich keine besonders hilfreichen Weggefährten. Berta ist eben nicht diese eine verlässliche Freundin, die am Umzugstag morgens um sieben mit Kaffee und Brötchen vor der Tür steht und dir voller Elan jeden Umzugskarton aus dem vierten Stock ohne Aufzug schleppt. Nein, Berta ist eher die Sorte Freundin, die wochenlang zusagt, dir am Umzugstag zu helfen, um dann pünktlich morgens mit „starken Kopfschmerzen“ aufzuwachen.

Deshalb verhielt sie sich wohl in dieser schweren Trennungsphase und die erste Zeit danach verdächtig ruhig. In dieser Zeit war Frau Sauer öfter zu Besuch – sie glänzte zumindest mit Anwesenheit, hielt sich aber auch immer mal wieder zurück. So vergingen zwei Jahre, in denen ich zumindest auf der Arbeit noch mit Berta zu tun hatte, manchmal auch im Privatleben. Fast hätte ich denken können, dass Berta ein Coaching gemacht hat und endlich mit ihrem – beziehungsweise unserem – Leben klarkommt.

Ich spoilere mal direkt: Dem war nicht so! Und so kam sie unvermittelt und plötzlich zurück – an einem nassen, besagten verregneten Tag im November.

Wie reagiert man, wenn alte Bekannte ungefragt wieder ins Leben treten? Normale Menschen hätten dankend, aber bestimmt abgelehnt. Ich habe es ja schon öfter erwähnt, aber ich betone es gerne nochmal: Ich bin nicht normal. Also tat ich das, was man eigentlich nicht tun sollte: Ich gab die Kontrolle ab. Von heute auf morgen bestimmte Berta über jeden Lebensbereich.

Gestern noch war mein Alltag strukturiert – ich bitte Sie, ich leide an Ängsten, natürlich ist mein Alltag strukturiert, spontane Ereignisse sind bei mir stets drei Tage im Voraus geplant – und plötzlich wurde mein Alltag durch Berta zwanghaft.

Hier liegt der feine Unterschied: Strukturierte Menschen sind ordentlich und organisiert. Sie sind wie die Teilnehmer einer Kochsendung, die unter Zeitdruck und laufender Kamera eine Jury aus Vollprofis beeindrucken müssen. Diese strukturierten Menschen wissen genau, welche Zutaten sie brauchen, wie die richtige Portionierung der Zutaten sein muss und wie viel Zeit jeder Arbeitsschritt in Anspruch nimmt – nur um am Ende ein „Die Cantuccini sind wirklich fabelhaft, aber das Vanilleeis ist nicht selbstgemacht, deshalb kann ich dir leider nur fünf Punkte geben“ zu hören.

Zwanghafte Menschen hingegen können auch ordentlich und strukturiert sein – aber eben zwanghaft. Ich könnte nicht einfach in einer Kochshow ein Rezept nachkochen, unter Zeitdruck und unter der prüfenden Beobachtung hungriger Profis. Ich müsste ja schon am Anfang zigfach kontrollieren, ob ich wirklich das richtige Rezept gewählt habe, ob diese Zitrone wirklich eine Zitrone ist, ob ich tatsächlich exakt 700 Gramm Mehl abgewogen habe – und dann müsste ich nebenbei noch Bertas Fragen beantworten:

„Hast du die Hände wirklich gewaschen?“ „Was, wenn morgen einer der Jurymitglieder Magen-Darm bekommt? Dann bist du schuld.“ „Ist das wirklich eine Rührschüssel, die du gerade benutzt? Oder schleudert das Rührgerät jetzt tausend kleine Plastikteilchen in den Teig, und du vergiftest die halbe Jury und sorgst für das Ende einer beliebten Kochshow?“

Sie merken nicht nur den Unterschied, sondern Ihnen wird wahrscheinlich auch klar, dass ich völlig ungeeignet bin, um an einer Kochshow teilzunehmen.

So wurde mein Alltag von Tag zu Tag zwanghafter. Vielleicht verbietet die deutsche Sprache eine Steigerung dieses Wortes, aber es ist wirklich nicht übertrieben, wenn ich es steigere. Und wir erinnern uns: Mein innerer Druck wurde dadurch nur noch größer. Jetzt wäre eigentlich ein wunderbarer Zeitpunkt gewesen, sich jemandem anzuvertrauen. Einer guten Freundin. Oder meinem besten Freund. So oft dachte ich darüber nach, aber dann ging ich diese Gespräche im Kopf durch.

Was sollte ich sagen?

„Hey, du kennst mich als deine immer gut gelaunte, lustige, starke beste Freundin, aber weißt du was? Mir geht’s seit Wochen beschissen, weil ich an einer ausgeprägten Zwangs- und Panikstörung leide, und es ist jetzt so schlimm, dass ich darüber nachdenke, wie man würdevoll aus diesem Leben tritt. Aber genug von mir – wie geht’s dir?“

Ja, falls der letzte Satz Sie schockiert hat, weil er so gar nicht zu diesen witzigen Zeilen passt, sind Sie nicht allein damit. Ich war selbst schockiert über mich und diese immense Verzweiflung, die jeden Tag auf mir lastete. Aber Berta war unnachgiebig mit mir. So hatte ich schlicht keine Kraft, mir professionelle Hilfe zu holen – genau das, was Frau Sauer in so einer Situation dringend empfehlen würde. Ich war den ganzen Tag mit Funktionieren und Kontrollieren beschäftigt, und natürlich felsenfest davon überzeugt, dass ich an allen Katastrophen schuld war, die sich irgendwie ereigneten oder ereignen könnten (wir erinnern uns an den Konjunktiv II). Die Faxe von Frau Sauer an meine innere Zentrale gingen da schlichtweg unter.

Zumindest rede ich mir ein, dass sie mir Nachrichten geschickt hat – denn wenn nicht, wäre ich wirklich sehr enttäuscht von meinem präfrontalen Cortex, dessen einzige Aufgabe es ist, meinen dauerhaften Panikmodus zu unterbrechen und mich in einen Normalzustand zu versetzen. Sie wissen ja aber selbst, wie unzuverlässig Politiker heutzutage geworden sind.

Bitte versuchen Sie übrigens nicht, einen Zusammenhang zwischen dem Kapitelinhalt und der Überschrift „Leben auf der Überholspur“ herzustellen. Denn ich führte definitiv kein Leben auf der Überholspur – dazu müsste ich ja erstmal überprüfen, ob ich wirklich auf der äußeren linken Spur bin…

Ich wünschte, ich könnte jetzt schreiben, dass ich an diesem Punkt die Reißleine zog. Dass ich mir eine Tasse Tee machte, tief durchatmete und sagte: „So geht das nicht weiter.“ Dass ich mir professionelle Hilfe suchte, Freunde einweihte und Berta feierlich aus meinem Leben verabschiedete. Wenn das passiert wäre, wäre ich a) nicht zwangskrank und b) würde ich diese Zeilen nicht schreiben die Sie c) gerade lesen.

Ich ließ mich weiter treiben, weiter gefangen in dieser zwanghaften Spirale. Es gibt ja diesen Moment in Filmen, wenn der Held erkennt, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss, meist in der Hälfte des Filmes – der dramatische Augenblick, untermalt von epischer Musik. Mein Moment ließ noch auf sich warten. Ich wusste in dieser Zeit nur eines: Irgendwann musste ich mich entscheiden. Fürs Bleiben oder fürs Gehen. Fürs Kämpfen oder fürs Aufgeben. Und auch wenn ich es damals noch nicht wusste – die Entscheidung kam schneller als ich dachte.
 



 
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