60 Sekunden oder mehr...

Anna-Ljubow

Mitglied
60 sekunden oder mehr

Sie trat auf den steg, welcher ein kleines stück in den see führte. Es war still, kein mensch zu sehen, es fuhr auch kein auto auf der seenahen strasse. Natürlich, es war ja gerade fünf uhr früh. Eine zeit, zu der sie früher auch nie aufgestanden wäre. Jetzt schätzte sie die einsamkeit, die stimmung, die sie hier umgab. Barfuss ging sie den feuchten steg bis ans ende hinaus, das holz rutschig unter ihren füssen obwohl es in der nacht nicht geregnet hatte; es hatte überhaupt seit wochen schon nicht mehr geregnet. Vorsichtig setzte sie ihre füsse voreinander, hätte sie nicht den boden gespürt, sie hätte geglaubt zu schweben. Sie fühlte ein leichtes kribbeln im nacken. Ihre bewegungen waren bewusst, fordernd. Sie zog langsam ihre kleider aus, bis sie nackt dort am ende des steges stand. Der see lag dunkel aber völlig klar vor ihr, jeden stein konnte sie klar erkennen, auch die fische, die ruhig umherschwammen. Dicht über dem see lag ein leichter dunstschleier, der den moment, wie jeden morgen, verzauberte. Er machte den see unscharf, sie konnte nicht erkennen, ob der see überhaupt endete. Für sie war der see jeden morgen endlos, unwirklich. Gänsehaut überzog ihren körper. sie freute sich auf das warme wasser, stellte sich vor, wie es ihren körper umfangen würde. Jetzt, im spätsommer hatte der see eine wunderbar angenehme temperatur, viel wärmer als die kühle luft. Sie streckte sich ein wenig und sprang dann kopfüber in das wasser. Für einen kurzen moment wünschte sie sich zu sterben. Auch das war jeden morgen so. beim eintauchen in das wasser, bei der berührung des warmen, seidigen wassers einfach nicht mehr auftauchen zu müssen. So stellte sie sich ihren tod vor. Aber natürlich drängte ihr körper wieder an die oberfläche, ein reflex, dem sie sich nicht entziehen konnte. Sie tauchte auf und begann zu schwimmen. Jeden morgen, immer bis zu der orangefarbenen boje. Sie konnte entfernungen nicht schätzen. Die boje war nicht sonderlich weit vom ufer entfernt und doch musste sie sich ein paar minuten an ihr festhalten und ausruhen, bevor sie zurückschwamm. Die boje war kalt und glatt und sie hatte sich angewöhnt solange an der boje zu bleiben, sie hinunter ins wasser zu drücken, bis auch sie die wärme des wassers gespeichert hatte. Dann liess sie sie los und schwamm entspannt zurück. Kurz bevor sie den steg erreichen würde holte sie tief luft. Sie wusste, sie würde mindestens 60 sekunden unter wasser bleiben müssen. Sonst würde es nicht klappen. Sie hatte das sekundenzählen perfektioniert. Seit drei jahren, jeden morgen - natürlich nur im sommer. Allerdings fing der sommer immer früher an und hörte jedes jahr später auf. Mittlerweile ging sie schon in den see sobald er eine temperatur von 13° hatte. Und ebenso lange kostete sie den morgen in den herbst hinein aus. Irgendwann wäre das ganze jahr sommer. Auch das würde sie schaffen. Manchmal, wenn sie den mut fand, tauchte sie nach 57 oder sogar nach 59 sekunden wieder auf. Aber der zauber funktionierte nur bei genau 60 oder eben mehr sekunden. Nachdem sie das herausgefunden hatte, hatte sie es nur ungefähr 5 mal an all den morgen zu beeinflussen versucht, indem sie eben ein paar sekunden weniger unter wasser blieb. Öfter hatte sie es sich nicht getraut. Zu wertvoll war das, was sie sonst entbehren müsste. Zu einzigartig. Als sie genug atem beisammen hatte tauchte sie unter. Sie schwamm ein paar züge und liess sich dann langsam, bewegungslos zum steg treiben. Die steine glitten immer langsamer unter ihr, sie konnte die maserungen klar erkennen. Muscheln hingen an ein paar von ihnen, grosse, wundervoll aussehende. Sie hatte nie geglaubt, dass es solche muscheln in einem see geben konnte. 45. noch reichte es nicht. Sie blickte nach vorne, konnte aber die holzstämme des steges noch nicht erkennen. Zwei beinschläge würden genügen. Ein fisch schwamm an ihrem arm vorbei. Sie konnte ihn spüren, seine bewegungen an ihrem arm. 56. nein, sie würde noch 4 sekunden warten können. Die leiter des steges lag vor ihr. Sie würde bei genau 60 an der leiter auftauchen können. Sie nahm einen kleinen stein in die hand, einen roten mit einer weissen linie gerade mittig durch den stein. Dann tauchte sie auf. Ihre hand berührte die leiter und ihre augen blickten hinauf auf den steg. Dort stand er, bereit, sie in seine arme zu schliessen. Langsam ging sie die stufen hinauf, sich selbst zwingend nicht zu rennen, nicht in seine arme zu fliegen. Sie wollte den zauber nicht durch hast oder eine unbedachte bewegung zerstören. Als sie ihn erreichte umfing er sie mit seinen armen, presste seinen kühlen körper an ihren warmen, nassen. Behutsam küsste er sie, glitt mit seinen händen sanft über ihren körper bevor sein griff fordernder, seine bewegungen gezielter wurden. Er bestimmte den rhythmus, bestimmte die stellung, einzig mit klaren, sicheren griffen. Sie liess sich bestimmen, fühlte sich sicher mit dem was er ungesagt forderte. Es war uneingeschränktes vertrauen in das, was er tat. Er legte sie vorsichtig auf den steg, strich mit seiner zunge über ihre brüste, seine arme stützten seinen körper über den ihren. Sie sah muskeln hervortreten, beneidete ihn um seinen perfekten körper. dann griff er mit seinen händen ihre oberarme, presste sie fest auf den steg und sah ihr in die augen. Tief und voller verlangen und, wie sie meinte zu erkennen, voller liebe. diese pause, diese kurze, wundervolle ruhe vor dem wilden, heftigen sex, dieser einzigartige, tiefe blick in die seele des anderen war eine form des glückes, der erfüllung, des wissens um die richtigkeit dieses zaubers. Dann, als ob ihre blicke, oder das was sie jeweils für sich daraus nahmen, sich einig seien, drang er heftig und tief in sie ein. Sie liebten sich leidenschaftlich, atemlos, wortlos. Einen besseren liebhaber hatte sie nie gehabt, nein, nicht einmal annährend so gut. Es war, als gehörten ihre körper zueinander, als fänden sie sich in dieser vereinigung. Es war perfekt. Sie waren füreinander bestimmt, ihre körper. sie würde nie wieder einen anderen mann an und in ihren körper lassen können, der gedanke daran erschreckte sie aber nicht, er machte sie glücklich. Diese leidenschaft, diesen sex, den sie jeden morgen, solange das wasser warm genug war, solange sie 60 sekunden tauchte, erlebte, war das einzige worauf sie hinlebte. Etwas besseres oder auch nur annährend so gutes würde sie nie wieder finden. Wollte sie auch nie wieder finden. Als sie erschöpft nebeneinander lagen, befriedigt aber wie immer noch immer voller verlangen, war es an ihr, den zauber zu beenden. Auch das hatte sie ein paar mal aufs spiel gesetzt, auch das würde sie nicht wieder wagen. Sie durfte nicht mit ihm sprechen, sonst wäre er am nächsten morgen nicht da; sie durfte nicht neben ihm liegen bleiben, sonst wäre der warme sommerregen am nächsten morgen vergeblich. Die tropfen wären nur auf ihrer haut zu spüren, nicht aber auf ihrer beider körper, nicht in der vereinigung ihrer körper. er würde sich nicht mit dem schweiss vermischen, der von ihrer leidenschaft zeugte. Sie wollte das nicht riskieren. So stand sie vorsichtig auf, küsste ihn sanft auf die lippen und sprang erneut in den see, der jetzt erfrischend ihren körper empfing. Sie blieb 60 sekunden unter wasser, in der nähe des steges, legte den roten stein zurück an die stelle, an der sie ihn vorhin aufgenommen hatte; er hatte ihre leidenschaft miterlebt, er hatte den sex gemeinsam mit ihr, in ihrer hand verschlossen miterleben dürfen, er war ihr zeuge, dass es diesen, ihren zauber wirklich gab. Dann stieg sie erneut die stufen hinauf, zog ihre kleider über ihren nassen körper, flüsterte ein: bis morgen geliebter, und ging mit vorsichtigen schritten den steg zurück an land, zurück in die wirklichkeit.
 

Marc Mx

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Sehr schön formuliert! Besonders der Anfang gefällt mir, obwohl ich auch diesmal die Kleinschreibung echt doof finde!!!
Hier ein paar Kommentare zu speziellen Textstellen:
1. "Er machte den see unscharf, sie konnte nicht erkennen, ob der see überhaupt endete"
--> Du meinst doch wohl: "WO der See endete" oder? Sonst fände ich es nicht so gut formuliert!
2. "Ein fisch schwamm an ihrem arm vorbei. Sie konnte ihn spüren, seine bewegungen an ihrem arm."
--> Das müßte mMn auch noch mal überarbeitet werden!
3. "Dort stand er, bereit, sie in seine arme zu schliessen."
--> Sorry, aber das finde ich ganz furchtbar kitschig!
Mein Vorschlag; versuch doch, diese kommende Szene noch ein bißchen andeutungseise zu formulieren, so daß der Leser es sich entsprechend zusammen reimen kann!
--> Die nachfolgende Liebesszene finde ich aber okay!
4. "Einen besseren liebhaber hatte sie nie gehabt, nein, nicht einmal annährend so gut."
--> Diese Aussage finde ich überflüssig!
5. "Diese leidenschaft, diesen sex"
--> finde ich ebenfalls unnötig...

Ingesamt ist das ein Text, den ich sofort zu meinen Top10 der Leselupe einsortieren werde!
Gratuliere, und ich denke nicht, daß ich zu denen gehöre, die hier nur herumschwärmen... und es kommt wirklich nur selten vor, daß mir ein Text hier auf der LL so gut gefällt!

Trotzdem: Arbeite ruhig noch ein bißchen an den Formulierungen!
Viele Spaß dabei
MarcPlanet.de
 

Anna-Ljubow

Mitglied
deine kritik...

...finde ich hilfreich...über zwei deiner punkte hatte ich schon nachgedacht. habe die geschichte veröffentlicht ohne sie noch einmal durchzulesen, weil ich einfach total begeistert war...*eigenlob*
dein erster punkt allerdings: ich meinte schon: OB der see endet und nicht wo...ich stelle mir in der szene einfach vor dass sie die unendlichkeit, unerreichbarkeit vor augen hat. sie kennt den see und weiss wo er endet...aber in diesem moment verschwimmt eben alles...
danke für die kritik und vor allem für das lob!!!!
herzlichst
a.
 
F

Fra-Diavolo

Gast
Natürlich

Sie ist so wundervoll, sie ist wieder einmal klasse. Du weißt, wir gern ich Dich lese und schön wenn ich in den Geschichten vorkomme... *lächel* Die Erotik ist nicht platt, es ist einfühlsam und prickelnd geschrieben - wunderbar.

Kuß, Fra-Diavolo
 

Anna-Ljubow

Mitglied
natürlich...

...kommst du in all meinen geschichten vor - und in meinen gedanken sowieso *lächel*...wer sollte mich sonst inspirieren???
a.
 
F

Fra-Diavolo

Gast
Natürlich...

... hätten diese Zeilen auch von mir sein können... *lächel* ... es beruht - natürlich - auf Gegenseitigkeit. Wer bewegt mich? Eben...

Kuss, Fra-Diavolo
 



 
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