62. Ariste

Amadis

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Ariste wurde immer unruhiger, je weiter der Tag voranschritt. Meister Rovan hatte ihr mitgeteilt, dass der zu ihr ausgesandte Zauberer Mirthan unterwegs aufgehalten worden war. Die Sonne hatte den Zenit schon eine Weile überschritten, aber von dem so sehnlich Erwarteten fehlte weiter jede Spur.
Sie hatte Loran im Schutz einer Gruppe von Büschen auf ein provisorisches Lager gebettet. Von außen war der schwer verletzte Krieger nicht zu sehen. Ein Problem waren die Krills, denn die großen Echsen konnte man nicht so ohne Weiteres in einem Gebüsch verstecken. Die beiden Tiere waren weiterhin an einen der übrig gebliebenen Bäume in der Nähe des kleinen Sees angebunden. Mickel beschäftigte sich entweder mit den Krills, unterhielt sich mit Loran, wenn dieser eine seiner wachen Phasen hatte, oder streunte am Seeufer entlang, warf Steine ins Wasser und untersuchte das, was im Lauf der Zeit ans Ufer gespült worden war. Der Junge schien den Schock vom Vorabend gut zu verarbeiten. Ariste fühlte nicht geringen Stolz auf Mickel. Er war ein starker Junge und würde ein starker und charismatischer Herrscher werden – irgendwann.
Als sie das Getrappel von Pferdehufen hörte, erstarrte sie kurz. Dann winkte sie Mickel, der gerade bei den Krills stand, heran und verschwand mit dem Jungen zwischen den Sträuchern, wo auch Loran am Boden lag.
Gespannt lauschte die Seherin auf die sich nähernden Hufgeräusche. Nach einer Zeitspanne, die Ariste wie eine Ewigkeit erschien, trabte ein Pferd auf die Lichtung, das so schwarz war wie Kleidung und Haare seines Reiters. Dieser war noch jung, etwa in Lorans Alter, schätzte die Seherin. Seine Gestalt war hager, wobei er sicherlich ebenso groß gewachsen war wie der blonde Krieger. Gekleidet war er in Leder und einen Umhang. Sein Haar reichte bis in den Nackenund war glatt zurück gekämmt. Das Gesicht des Ankömmlings war schmal und von einer scharfen Nase dominiert, die Lippen dünn und seine dunklen Augen funkelten, als er sein Pferd zügelte und sich umschaute.
Fast gleichzeitig fühlte Ariste ein Tasten im Apaethon, dann einen leisen Ruf.
„Bist du da, Seherin? Ich bin Mirthan. Der Meister von Renkar schickt mich.“
Ariste zögerte einen Moment, dann trat sie zwischen den Sträuchern hervor in das Blickfeld des Reiters. Jetzt sah sie, dass er blaue Striemen am Hals hatte. Das musste von dem Angriff herrühren, von dem Meister Rovan berichtet hatte. Als er die Seherin gewahrte, glitt ein freundliches Lächeln über sein Gesicht und er schwang sich aus dem Sattel.
Er ging auf Ariste zu, griff in die Tasche seiner Hose und brachte einen kleinen Gegenstand zum Vorschein, den er ihr reichte. Sie schaute ihn an und nickte dann.
„Das ist die Gemme von Meister Rovan“, stellte sie fest und gab ihm das Schmuckstück zurück. „Du bist, wer du zu sein vorgibst.“ Sie lächelte erleichtert.
„Es freut mich, dich wohlauf zu sehen, Ariste.“ Er schaute an der Frau vorbei. „Und das ist sicher Mickel. Hallo, junger Mann.“ Mickel war einen Meter hinter der Seherin stehen geblieben. Jetzt lächelte der Junge.
„Hi“, sagte er und hob die Hand.
Mirthan grinste, wurde aber nach einigen Sekunden wieder ernst.
„Wie geht es Loran?“, erkundigte er sich besorgt.
„Besser.“ Ariste lächelte. „Er hat kein Fieber mehr. Die Kräuter haben gut gewirkt. Er ist dort hinter den Büschen.“
Mirthan trat zwischen den Sträuchern hindurch und ging neben dem verletzten Krieger in die Hocke.
„Ist das deine neue Methode, den Frauen zu imponieren?“ Sein Lächeln war spöttisch, aber aus seinen Augen sprach die Sorge.
Loran, der gerade wach war, lächelte matt.
„Das habe ich nicht nötig. Du bist keine Konkurrenz für mich, Zauberzwerg.“
Mirthan grinste.
„Sei froh, dass du in einem so jämmerlichen Zustand bist, Kraftprotz, sonst würde ich dich lehren, frech zu Erwachsenen zu sein!“
„Erwachsen?“ Loran lachte auf. „Sogar in diesem Zustand würde ich dir noch den Frack verhauen.“
Ariste lachte.
„Es scheint, ihr kennt euch.“ Sie beugte sich über Loran. „Jetzt ist es genug. Ruh dich aus, dann kannst du morgen sicher einige Stunden reiten.“
Loran nickte und schloss gehorsam die Augen.
„Bist du sicher, dass wir morgen reiten können? Dass er das durchhält?“, erkundigte sich Mirthan, nachdem sie sich ein wenig von dem Verletzten entfernt hatten.
Die Seherin zuckte die Schultern.
„Eigentlich müsste er mindestens eine Woche liegen, aber das können wir uns nicht erlauben. Es wird seine endgültige Genesung sicher verzögern, aber wir müssen Mickel nach Renkar bringen.“
Der Zauberer nickte nachdenklich.
„Wie wäre es ...“ Er zögerte. „Wie wäre es, wenn ich mit Mickel voraus reite und ihn nach Renkar bringe. Wir könnten für Loran eine Bahre bauen und du lässt dir einige Tage Zeit, mit ihm nachzukommen.“
Ariste überlegte.
„Das ist eine gute Idee. Es fällt mir zwar schwer, mich von dem Jungen zu trennen, aber er wenn er nicht bei uns ist, haben Loran und ich alle Zeit der Welt, weil Verline an uns keinerlei Interesse hat.“
„Ich soll weg von dir?“ Mickel hatte sich unbemerkt genähert und schaute jetzt mit großen Augen zu Verline auf.
Die Seherin lächelte und ging neben dem Jungen in die Hocke.
„Nur für zwei oder drei Tage.“ Sie strich über Mickels Haar. Dann erklärte sie ihm den Plan des Zauberers.
„Ok.“ Mickel grinste Mirthan an. „Aber wir nehmen die Dinos.“
Mirthan schaute Ariste fragend an. Die Seherin lachte.
„Er meint die Krills. Das wäre ohnehin besser, weil ein Krill kaum eine Bahre ziehen wird.“
Mirthan nickte.
„Dann haben wir beide eine Trennung vor uns. Ich trenne mich auch ungern von meinem Hengst. Aber du hast recht.“
Er schaute sich um.
„Was meinst du, Mickel, bauen wir eine schöne Bahre für den gestürzten Krieger?“ Er deutete auf Loran.
„Klar!“ Mickel grinste breit.
Während die beiden loszogen, um Holz für die Bahre zu suchen, machte sich Ariste daran, aus den zähen Blättern von am See wachsenden Pflanzen Bänder zu flechten, mit denen man das Holz würde zusammenbinden können.
Als die Sonne langsam dem Horizont entgegen sank, hatten sie die Bahre und das Geschirr für Mirthans Hengst fertiggestellt. Der Rappe hatte zwar beim ersten Versuch, die Bahre an seinem Sattel zu befestigen, protestierend geschnaubt, aber Mirthan hatte seinen Hengst beruhigt und nach einer Weile freundete sich das Tier mit der ungewohnten Last an. Mirthan war zufrieden.
„Das dürfte so in Ordnung sein, was denkst du?“ Er schaute Ariste fragend an. Die Seherin nickte.
„Ja, ich denke schon. Allerdings werden wir auf die Art sicher drei Tage bis Renkar benötigen.“
„Das vermute ich auch.“ Der Zauberer zuckte die Achseln. „Es gibt unterwegs einige Ortschaften und auch Gasthäuser, wo ihr sicher für die Nacht unterkommen könnt.“ Er verzog das Gesicht. „Oh, ich hätte fast vergessen, dir das zu geben.“
Er zog einen Lederbeutel aus der Satteltasche und reichte ihn der Seherin.
„Meister Rovan meinte, du kannst das vielleicht brauchen.“
In dem Beutel klirrten Münzen. Ariste nickte.
„Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber wir werden Geld benötigen, wenn wir in einem Gasthaus übernachten wollen. Markam hatte seinen Geldbeutel am Gürtel als er ...“ Die Erinnerung an den Tod des alten Zauberers war mit einem Mal wieder schmerzlich präsent. Sie senkte den Kopf.
„Markam war ein guter Mann und ein großer Zauberer.“ Mirthan legte der Seherin die Hand auf die Schulter. „Wir werden seiner gedenken, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Jetzt müssen wir uns auf andere Dinge konzentrieren.“ Er lächelte, als Ariste zu ihm aufsah.
„Du hast recht.“ Die Seherin brachte ein trauriges Lächeln zustande. Sie straffte sich. „Ich sehe nach Loran. Könntet ihr euch um das Abendessen kümmern? Es ist alles in den Satteltaschen der Krills.“
 



 
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