7. Endgültig ausgeträumt

pol shebbel

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(Ein paar Dinge klären sich auf - aber nicht alle.)

Schwere Träume waren es, die sich Welle für Welle über Paril hinwegwälzten; schwere und wilde Träume, von der Rishwa Lai-Droge angeheizt. Er stand einem Baum gegenüber - jenem Pyramidalbaum, von dem er die Lebensflechten abgerissen hatte. Er spürte, dass die Aufmerksamkeit des Baumes auf ihn gerichtet war; mit allen Nervenfasern spürte er den Vorwurf,die Anklage des Baumes, den er beraubt hatte, ohne richtig um Erlaubnis zu fragen. Aber ich habe doch gefragt! wollte Paril sagen, ich habe mich gemäss dem Gesetz verhalten! Mit tausend Argumenten versuchte er sich zu verteidigen, das Grüne Buch zitierte er - doch die gesamte Wortgewalt verging im Bruchteil einer Sekunde vor dem Gefühl von machtvoller Gegenwart dieser fremden nichtmenschlichen Persönlichkeit, die ihn fixierte und niederbannte in einem unsichtbaren Käfig, der Verurteilung harrend. Was waren Worte für einen Baum! Paril krümmte sich und wälzte sich herum; zwischendurch kam ihm halb ins Bewusstsein, dass er sich auf einem richtigen Lager wälzte und eine Decke über sich hatte; doch wenig später liefen die Bilder weiter. Er war wieder auf der Flucht vor den Shas Gil und kam nicht vorwärts, so viel er auch zu rennen versuchte, und bald war sein ganzer Körper mit braunen durcheinanderkriechenden Insekten bedeckt. Etuik stand daneben, völlig unversehrt, und schaute einfach zu. Paril wollte ihn anschreien: "Hilf mir doch!" - da wachte er wieder auf. Er spürte, dass er schweissbedeckt war, und versuchte die Decke zu heben, um Luft durchzulassen. Gleich darauf stand er allein einer Armee Ketzer gegenüber - lauter schwarzgefärbte Haare, blasse Gesichter mit Bärten am Kinn, obszöne Worte im Breitmaulfrosch-Dialekt. Sie waren alle mit Eisenschwertern bewaffnet, er nur mit einem Knüppel. Wie ein Donnervogel stürzte er ihnen entgegen und schlug um sich, was das Zeug hielt. Sie bedrängten ihn von allen Seiten, aber sie kriegten ihn nicht unter; Mann für Mann mähte er sie hin - und der letzte grosse Knüppelschlag liess ihn wieder aufwachen. Er fragte sich, wo er war; wenig später riss ihn ein neuer Traum mit. Wieder und wieder kam dieses Bild oder dieses Gefühl des ihm zürnenden Pyramidalbaums, der ihm zürnenden Waldgottheit. Vielleicht war Ssai zornig, weil er seit 2 Tagen nicht meditiert hatte, kam ihm in einer neuen Wachphase in den Sinn; doch bevor er Vorsätze fassen konnte, ergriff ihn eine neue Traumwelle.

Mit der Zeit wurden die Wachperioden länger, er begann mehr Gewalt über seine Träume zu haben, die Bilder wurden blasser, gingen nahtlos über in Gedanken, die sich in seinem Kopf umherwälzten und die er genau von der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Die Wirklichkeit?

Ein mittelmässig hartes Lager, das sich strohig anfühlte, und eine leichte Buschwolldecke, das ganze in einem vermutlich recht grossen, dunklen Raum. Von irgendwo weit weg sickerte Licht herein; ob Tageslicht oder Lampen, konnte er nicht ausmachen. Was war mit seinen Beinen? Er tastete mit den Fingern und fühlte harten Stoff. Sie waren zugebunden, seine Beine; sein Kopf war es auch. Dieser begann zu schmerzen, als er den Verband befühlte; auch in seinen Beinen erwachte ein dumpfes, vages Brennen.

Unbehaglich wälzte er sich auf die Seite. Links von ihm befand sich offenbar ein anderes Lager; darauf lag eine Gestalt, die zu schlafen schien. Nachdem Paril eine Zeitlang durch das Halbdunkel gespäht hatte, drehte er sich auf die andere Seite - und erschrak. An seinem Bett stand jemand.

"Ein schöner Morgen, Paril", sagte eine vertraute Stimme.

Die Person , die da stand, trug Kniehosen, ein Lederwams mit einem schwarz eingebrannten Schriftzeichen auf der Brust und einem Messer am Gürtel. Die Person hatte kurz geschorenes, ungewöhnlich helles Haar und eine feingeschnittene Nase in einem ungewöhnlich hellhäutigen Gesicht. Die Person war Gânssi.

Paril gab einen Piepston von sich und versuchte sich hochzureissen. Noch bevor er wieder zurücksinken konnte, flog ihm Gânssi entgegen, und sie umarmten sich. "Ich glaubs nicht! Ich glaubs nicht!" wiederholte Paril mehrmals. "Was glaubst du nicht?" fragte Gânssi, die sich schon wieder - etwas verlegen - von ihm gelöst hatte. Paril setzte sich etwas auf, schaute Gânssi an, sah sich um. "Dass du... hier... Und ich... Wo... Was ist passiert? Ich versteh das alles nicht!" Gânssis Gesicht, ein richtiges Bett - es erschien wieder alles so sicher und wohlbekannt - so wie früher. Ein Gedanke tauchte plötzlich wieder auf: Waren die Erlebnisse der letzten Zeit doch nur ein Alptraum gewesen? War er zu Hause?

Aber es gab Dinge, die nicht stimmten. Gânssis Kleidung - und Gânssis geschnittene Haare... Was hatte das zu bedeuten? "Du bist im Lazarett von Rishwa Loemparl", sagte Gânssi, "du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dir alles erklären, aber zuerst solltest du dich ausruhen. So, wie du gestern aussahst, als die Stinkholzmänner euch fanden, kannst du Ruhe bestimmt gebrauchen." "Die Stink - was?" fragte Paril irritiert.

"Die Stinkholzmänner!" Gânssi lachte. "Man nennt sie hier so, weil sie Masken aus Stinkholzzweigen vor dem Mund tragen. Der Geruch macht fast wahnsinnig, aber es ist das einzige bekannte Mittel gegen Rishwa Lai. Sie machen jeden Tag einen Rundgang durch das Feld, um Betrunkene aufzusammeln - solche, die sich verirrt haben, oder Süchtige, die absichtlich reingehen..."

Paril fasste sich an die verbundene Stirn. "Dann war es doch kein Traum", murmelte er. Er setzte sich etwas höher auf und kniff die Augen zusammen. "Ich bin in Ordnung", sagte er. "Ich bin wach. Ich brauche nicht zu ruhen..." Gânssi sah ihn etwas zweifelnd an. "Na ja", meinte sie schliesslich, "Ausgiebig Gelegenheit, dich auszuruhen, hast du ja schon gehabt. Weisst du, dass du 20 Stunden durchgeschlafen hast?"

"20 Stunden..." wiederholte Paril. Dann erschrak er. "Haben wir schon Tagundnachtgleiche?" rief er. "Meine Abschlussprüfung..." Gânssi legte eine Hand auf seinen Arm. "Vergiss die Prüfung", sagte sie ernst. "Keiner aus O'kir wird diesen Frühling die Weihe erhalten..."

Paril starrte sie an. Irgend etwas war geschehen - Gânssis Gesichtsausdruck nach etwas sehr Ungutes! "Bei Ssai...", murmelte er, "was ist denn bloss passiert? In Rishwa Loemparl sind wir, sagtest du? Warum - warum bist du dann eigentlich hier?!"

"Warte, warte, ich erkläre dir alles." Gânssi setzte sich auf die Bettkante. "Ich bin erst seit kurzem hier. Ich kam zusammen mit Workash Irzo, der Vizemeisterin, um den Empfang für die anderen vorzubereiten. Die Bewohner von Onnikir sind alle auf dem Weg hierher - alle, die noch übrig sind."

"Alle, die was??!" Ein kalter Schreck stieg Parils Rücken hoch und entfachte sein Kopfweh neu.

"Oh, bei Ssai!" In einer plötzlichen Aufwallung der Gefühle sprang Gânssi auf, schüttelte sich wie in Krämpfen und schlug die Hände vors Gesicht. "Bei allen vier Naturgewalten, du kannst dir gar nicht vorstellen, was bei uns in den letzten 2 Tagen alles passiert ist! Kaum 1 Stunde, nachdem jener Mob mit euch als Geiseln abgezogen war, kamen die Soldaten aus Asîmchômsaia an. Wegen der Drohung der Geiselnehmer konnten sie nicht weiterziehen, sondern nur Kundschafter ausschicken. Diese fanden recht bald die Kinder. Wir waren einerseits sehr erleichtert, andererseits noch besorgter, weil du und Etuik fehlten. Etuik ist übrigens schon etwas länger wach, er hat uns schon erzählt, was ihr erlebt habt. Du bist jetzt so eine Art Held hier, er lobt dich in den höchsten Tönen..."

"Aha..." machte Paril. Er hatte keine Ahnung, welche seiner zurückliegenden Handlungen ihn zum Helden machen sollte; aber um sich damit zu befassen, fehlte ihm nun wirklich die Kraft.

Inzwischen fuhr Gânssi fort zu erzählen. "Schliesslich beschlossen die Asîmchômsaia-Leute, doch die Verfolgung aufzunehmen - natürlich mit der nötigen Vorsicht, um eure Leben nicht zu gefährden. Ich und Workash Irzo, die ja Etuiks Tante ist, zogen gegen Mittag mit ihnen los, weil die euch nicht kannten. Den ganzen Nachmittag bis zum Abend folgten wir ihrer Spur, ohne sie selbst zu treffen. Als es dunkel wurde, mussten wir ein Lager aufschlagen. Es wurde ein Bote nach Onnikir zurückgeschickt, um über den Stand der Dinge zu berichten..."

Gânssi machte eine Pause und schüttelte den Kopf, wie sie es früher immer getan hatte, um ihre Haare zu ordnen. "He! Das seh ich ja erst jetzt", rief Paril plötzlich, "was ist mit deinen Haaren passiert?" "Tja", sagte Gânssi mit seltsamem Gesichtsausdruck, "das ist Vorschrift; ich gehöre jetzt zur Armee von Asîmchômsaia. Die Typen da sind noch extremer als die Galbell bei uns..."

Paril warauf einiges gefasst gewesen - aber nicht auf das. Gânssi - in der Armee von Asîmchômsaia?! Was hatte Asîmchômsaia in Onnikir zu befehlen? Und welche teuflischen Kräfte konnten es schaffen, aus einer um das Wohl der Bäume besorgten Priesterin eine Kriegerin zu machen?

Gânssi musste den schockierten Ausdruck in Parils Gesicht bemerkt haben. "Ich erkläre es dir! Lass mich erzählen..." Sie holte tief Luft und stiess plötzlich einen tiefen Seufzer aus. "Paril - bei allen 4 Naturgewalten, du kannst es dir nicht vorstellen. In der Nacht haben sie angegriffen. Mit Feuer und Eisenschwertern, und es waren doppelt so viele wie in Onnikir gewesen waren. Und alles geübte Krieger! Die Schutztruppe aus Asîmchômsaia hatte keine Chance, Paril. Alles, was wir machen konnten, war, überstürzt zu fliehen. Hierher." "Hierher?!" rief Paril erschreckt. "Aber dann...kommen die anderen auch hierher?"

Gânssi legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. "Nur keine Angst!" beruhigte sie ihn. "Krieger aus Rishwa Loemparl und Umgebung sind zu Hilfe gekommen und haben sie wieder ein Stück zurückgeschlagen. Die gehören jetzt auch zur Armee von Asîmchômsaia - die Meister fanden, es sei am besten, mit vereinten Kräften zu kämpfen, bis die Schlacht zu Ende ist. Aus Asîmchômsaia sind auch schon neue Truppen unterwegs; unmittelbar droht keine Gefahr. Aber lass mich weitererzählen, es geht noch weiter...

Der Bote, den sie nach O'kir geschickt hatten, kam heute morgen zurück - blutend und am Ende seiner Kräfte. Kaum war die Schutztruppe weg, wurde Onnikir zum zweitenmal angegriffen! Wieder mit Eisenwaffen und wieder mit Feuer - und diesmal wurde offenbar ganze Arbeit geleistet. Das Dorf stehe in Flammen, berichtete er, und die gesamte Bevölkerung sei auf der Flucht..."

Paril war blass geworden; ein würgender Kloss schien in seinem Hals zu sitzen. Seine Familie... seine Freunde... sein Schlafbaum... sein Flokaigrab... "Wie... Wie konnte das geschehen?" stotterte er. "Woher kamen die vielen Soldaten?"

"Ja, genau das war die Frage! Die Soldaten Asîmchômsaias haben ein paar von denen gefangengenommen und verhört. Und weisst du, woher sie gekommen sind? Aus den Bergen! Über den Gânchoudup-Pass!" Gânssis Augen blitzten. "Siehst du den Faden? In Zin-Âching brechen Krawalle aus. Etwa gleichzeitig marschiert in den Bergen eine Armee Richtung Pyramidalwald los. Nicht einmal 2 Tage später treffen sie sich und rücken gemeinsam nach Süden vor! Das war kein Zufall. Das war geplant. Ein von Zin-Âching und dem Metallbund gut vorbereiteter Krieg!"

Paril starrte sie an. "Bei Ork!" entfuhr es ihm. Es stimmte. Haargenau passte es mit seinen eigenen Erfahrungen zusammen. "Aber warum?" stiess er hervor. "Warum sollten sie einen Krieg anfangen?" Gânssi warf den Kopf hoch und zuckte mit den Schultern. "Das mögen die Urgewalten wissen. Es gibt die Dürre, die Hungersnot in den Bergen, die Überfälle - was man eben alles schon weiss. Man redet von einem Krawall auf höherer Stufe - einem Krawall der Krawalle sozusagen, der aus amoklaufenden Stadtregierungen besteht..." "Krawall der Krawalle", wiederholte Paril halb für sich, "Wahnsinn..."

Plötzlich starrte ihn Gânssi erschrocken an. "Ich habe dir doch nicht zu viel zugemutet?" fragte sie. "Du siehst ziemlich benommen aus. Leg dich erst einmal hin und entspann dich. Im Augenblick kann dir nichts passieren..." Etwas hastig fügte sie hinzu: "Und ich muss auch wieder gehen. Wir reden später weiter, ja?" Und bevor Paril etwas sagen konnte, sprang sie plötzlich auf und eilte davon.

Paril rutschte von der sitzenden wieder in eine liegende Lage. Der Druck in seinem Kopf hatte sich wirklich etwas verstärkt. Na, die Nachrichten waren auch entsprechend... Er blieb liegen und versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Es war schwierig, und rasch begann seine Konzentration wieder zu erlahmen. Nach und nach liess er all die schweren Gedanken fahren, bis am Schluss nur noch ein Gedanke, der aber klar und deutlich, in seinem Kopf war.

Das ganze Dorf Onnikir Loemparl hatte bisher in einem schönen Traum gelebt. Und dieser Traum war jetzt ausgeträumt. Endgültig.
 



 
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