8. Brot

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Rokwe

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8. Brot

Wie ein Blitz durchzuckte mich der Anblick dieser scheinbar völlig gewöhnlichen und nebensächlichen Handlung des Brotwegwerfens, und augenblicklich spürte ich, daß dieser Handlung ein Irrtum zugrundelag, ein Fehler in der Weltsicht, ja eine elementare Blindheit. Mir schoß durch den Kopf, daß dieses Brot geheimnisvoll war. Es war wertvoll. Ich konnte nicht konkret sagen, warum, aber ich hatte das Gefühl, daß in diesem Brot eine verborgene Wahrheit zu finden war. Dieses Brot war nicht irgendein Gegenstand, über den man so leichtfertig verfügen durfte. Obwohl es in den letzten zwei Tagen etwas hart geworden war, hatte es in meinen Augen nicht an Wert verloren. Warum sollte es nun wertlos sein, warum warf man es weg? War es etwa giftig geworden, war es gefährlich? Wieso behandelte man es als Müll, stellte es auf eine Stufe mit Schimmel, Staub und Exkrementen? Dabei wurde es nicht einmal aktiv in den Abfalleimer geworfen – es wurde einfach verächtlich fallengelassen, so als ob man Gefallen daran fände, es noch zu quälen, zu verhöhnen, sein Hinscheiden hinauszuzögern und genüßlich auszukosten! Innerhalb weniger Augenblicke kamen mir all diese Gedanken, und ich wußte sofort, daß sie mein Leben verändern könnten. Ich hatte nie zuvor ein vergleichbares Erlebnis gehabt und ahnte doch sogleich, daß es sich um eine Art Offenbarung handelte.
Trotz meiner jähen inneren Empörung beim Anblick dieses grundfalschen Umgangs mit dem Brot schwieg ich. Ich protestierte nicht, da meine Gefühle zu frisch und zu unausgegoren waren, um ihnen gleich entsprechende Taten folgen zu lassen. Zu erschüttert war ich innerlich, um sofort handeln zu können. Ich saß nur mit rotem Kopf da und gab meiner Umwelt wie so oft keinen Hinweis darauf, welche Dramen sich in mir abspielten. Schließlich flüchtete ich in mein Zimmer, ließ mich auf mein Bett fallen, starrte die Decke an und versuchte, eine Erklärung für all das zu finden, was ich soeben erlebt hatte.
Was war eigentlich passiert? Ich hatte offenbar entdeckt, daß Brot wertvoll war. Mir war etwas zuteil geworden, was andere nicht besaßen. Mir war es vorbehalten, im Brot mehr zu sehen als meine Mitmenschen. Ich begriff, daß ein Ruf an mich ergangen war. Meine Rolle war nun klar: Ich sollte die Wahrheit finden und verteidigen, die im Brot verborgen war. Und gerne machte ich mich an diese Aufgabe; nicht mit der gebückten Dienstbeflissenheit eines furchtsamen Untergebenen, sondern mit dem erleuchteten Sendungsbewußtsein eines Propheten.
Nun war die Schwelle zwischen meinem früheren und meinem späteren Leben endgültig überschritten. Es war jene monatelange Zeit des radikalen Eiferns angebrochen, von der ich ganz zu Beginn schon berichtet habe. Stufenweise baute ich mir um das Brot herum ein neues Gedankengebäude, ja eine neue Weltsicht auf. Wichtig war für das Gedeihen meiner Ideen zunächst, daß das Wegwerfen von Brot in unserem Haushalt keine Ausnahme, sondern ein recht häufiges Ereignis war. Ich fand dies heraus, schämte mich, daß ich diesen Mißstand nicht schon früher bemerkt hatte und ließ nun wie zur Buße entsprechende Verhaltensweisen folgen, um gegenüber all den bereits weggeworfenen Broten Wiedergutmachung zu üben. Über die offen artikulierte Empörung schritt ich zum akribischen Krümelauflesen vor, verbrachte immer mehr Zeit mit immer groteskeren Gedanken, die um Brot keisten, und ließ das Ganze schließlich in regelmäßigen, offenen Auseinandersetzungen mit meinen Eltern und anderen falsch handelnden Personen kulminieren – ohne natürlich je eine Einigung zu erzielen oder gar Verständnis hervorzurufen.
Auch der bereits erwähnte Kuß, der altbacken schmeckte, fällt in diese Zeit. Ich hatte da einmal eine junge Frau in einem Café kennengelernt, und sie schien an mir Interesse gefunden zu haben (schließlich war ich ja auch eher hübsch als häßlich, wenn auch nur unwesentlich). Auch ich war ihr nicht abgeneigt, war ich doch bisher, was Frauen anbelangte, fast gänzlich unerfahren, und nahm sie als neuartige, durchaus spannende Randerscheinung in meinem Leben wahr. Bei einem unserer Treffen gab sie mir dann jenen Kuß, der unser erster und zugleich letzter war. Daß ich währenddessen eher an Brot dachte als an die Reize, die sie mir zu bieten hatte, gab mir hinterher sehr zu denken und veranlaßte mich schließlich dazu, konsequent zu sein und den Kontakt mit ihr abzubrechen. Sie wußte nichts von der Wahrheit, die im Brot war, und da es mir aussichtslos erschien, ihr diese unsagbare Wahrheit mitzuteilen, konnte aus uns nichts werden.
Wie bei jeder anderen Entwicklung auch war es jedoch unumgänglich, daß ein Ende meiner Brotmanie nahte, ein Punkt, ab dem es nicht mehr weitergehen konnte. Bei mir kam das Ende zunächst schleichend. Es kündigte sich in der undenkbaren Unendlichkeit des Brotes an, die ich entdeckt hatte. Es näherte sich mir aus dem Hinterhalt in den Gedanken an die Brotmenge, die jeden Tag weltweit im Müll landete. Und es klopfte schließlich laut und unerbittlich an meine Tür, als ich die Ausweglosigkeit dieser Tatsache begriff, die tägliche, gebetsmühlenartige Wiederholung des globalen Wegwerfens, die unaufhaltsame Addition dieses Verlustes, die angesichts der Dauer aller Zeit zur Multiplikation, zur Potenz, zum hoffnungslos verschlungenen Unendlichkeitszeichen wurde. Pausenlos wurde weltweit Brot weggeworfen, und zweifellos litt das Weltethos daran, aber konnte ich daran etwas ändern? Immer deutlicher begriff ich, wie erbärmlich doch meine Versuche waren, diesen Mißstand abzumildern, und wie wenig Verständnis und Anteilnahme selbst meine nächsten Mitmenschen dafür bezeugten. Diese Gedanken zermürbten mich und nahmen mir die Kraft, die ich anfangs so deutlich in mir gefühlt hatte; sie ließen mich immer trübsinniger werden und warfen mich wieder auf die Ebene der grauen, sich träge dahinwälzenden Leere zurück. Ebenso, wie mich die Welt der Kunst allmählich losgelassen hatte, schied für mich auch ganz sachte, schleichend und giftig das Brot dahin. Wieder einmal wurde ich dadurch nicht frei, sondern leer; wieder wurde eine Verlobung unter Tränen gelöst. Ich darbte wieder im Loch der Tatenlosigkeit, dämmerte antriebslos vor mich hin und verdrängte die mittlerweile beunruhigenden Gedanken an Brot, von denen mich manche noch lange heimsuchten, vereinzelt und stechend, wie höhnisch grinsende, fratzenhafte Alpträume.
 

Inu

Mitglied
Auch die Gedanken, die sich Dein lyrisches Ich zum Wert des Brotes und dem Unrecht des Vergeudens macht, sind überzeugend dargestellt, aber auch hier wieder sind diese Gefühle wechselhaft und vergänglich, Anregungen werden nicht weiter verfolgt, mit der Frau, die in des Prot. Leben auftaucht, kann er auch nicht wirklich etwas anfangen.
Dennoch gewinnt Deine Hauptperson endlich an Konturen.
 



 
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