9. Das Brot ist nicht mehr
Es kam schließlich der merkwürdige Tag, der meinem Leben ein weiteres Mal eine ganz neue Richtung geben sollte. Ich war an diesem Tag besonders schlecht gelaunt und schlenderte wieder einmal mit hängendem Kopf und ohne jede Energie ein wenig im Stadtpark umher, da ich wenigstens noch ahnte, daß es besser war, meine miese Laune in die frische Luft hinauszutragen als sie im kleinen, stickigen Zimmer unter klaustrophobischem Hochdruck gären zu lassen. Ich trottete dahin, unentschlossen, nicht zielgerichtet, langsam, kaute lustlos an einem Käsebrot herum und biß dann und wann ein kleines Stückchen ab, ohne wirklich Appetit zu haben. Warum ist die Welt so grau?, dachte ich. Ja, warum war ich gefühlsmäßig wieder einmal so am Boden? Wo war meine anfängliche Begeisterung für die Wahrheit, die ich im Brot entdeckt hatte? Hatte ich mich etwa getäuscht, war alles nur ein Irrtum? Wenn ja, worin bestand dann für mich überhaupt noch Hoffnung, wo ich nun doch schon so oft gescheitert war? Mit diesen und ähnlichen Gedanken quälte ich mich – wie an allen vergangenen Tagen, so auch jetzt beim Umherirren auf den tristen Wegen.
Schließlich warf ich das Brot, mehr unbewußt als bewußt und einer spontanen teuflischen Eingebung folgend, mit einem ganz kurzen, automatischen, letztlich blinden Seitenblick im Vorübergehen in einen Mülleimer, schlurfte gedankenlos weiter und starrte nach wie vor abwesend vor mich hin, als ob nichts geschehen wäre.
Erst einige Momente später realisierte ich, was ich gerade getan hatte. Siedendheiß durchfluteten mich Gefühle von Schuld und Scham. Wie erstarrt blieb ich auf der Stelle stehen und wagte es nicht, zum Mülleimer zurückzublicken. Ich hatte Brot weggeworfen! Ich hatte Brot weggeworfen! Das konnte doch nicht wahr sein ... In meinen Ohren begann es zu hämmern, mein Herz schlug wie wild, ich glaubte zerspringen zu müssen – ich hatte Brot weggeworfen! Ich wurde irr ...
Ohne zu überlegen hatte nun auch ich die Schuld auf mich geladen, die ich monatelang anderen angekreidet hatte. Ich hatte das Brot, das ich verehrt und in höchste Höhen gehoben hatte, achtlos wie jeder andere unwissende Mensch in den Mülleimer geworfen. Moment mal – hatte ich es eigentlich geworfen, oder hatte ich es auch nur fallen lassen? Ein ganzer Berg aus Gefühlen brach über mich herein; es war der wackelige Berg radikaler Gedanken, den ich in letzter Zeit über mir errichtet hatte; es war der Turm aus tausend Tonnen Brot, der sich nun an mir rächte, anstatt mir die liebevolle, väterliche Sorge zu danken, die ich für ihn gehegt hatte. Wie betäubt wankte ich zur nächsten Parkbank, setzte mich und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hatte Brot weggeworfen! Schweigend saß ich da, war völlig aufgelöst und verwirrt, sah mich einem Scherbenhaufen gegenüber, biß mir nervös die Lippen wund. Lange Minuten dauerte es, bis der Pulsschlag sich beruhigte und ich in der Lage war, geordnet zu denken. Allmählich ebbte die innere Erschütterung ab, und die fassungslose, bohrende Scham, die im ersten Augenblick so gefährlich aufgeschäumt war, wich kleinlaut zurück.
Ein anderes Gefühl keimte schwach auf, wurde stärker, hielt sich eine Zeitlang mit den Schuldgefühlen die Waage und wurde schließlich übermächtig. Es war eine Art Erleichterung, über die ich mich sogleich wieder etwas schämte, die sich aber nicht mehr verdrängen ließ. Eine seltsame Ruhe ergriff mich, wurde zur Affektlosigkeit, fast zur inneren Größe. Ich fühlte nun die stille Ergebenheit, mit der man eine unausweichliche Tatsache hinnimmt, eine Ruhe nach dem Sturm, ein auffälliges, beinahe mißtrauisch machendes Fehlen von Schmerz. Plötzlich mußte ich mich nicht mehr schämen, fühlte mich unbeschwert und gar nicht mehr schuldig; ja, sogar die ganze deprimierte Stimmung der letzten Zeit war auf einmal von mir abgefallen. Ich flüsterte ganz wie von selbst und mit einer tröstlichen Gewißheit „ja“. Ich wußte zwar nicht genau, was ich bejahte und warum, aber ich fühlte, daß mein „ja“ auch das einschloß, was ich soeben getan hatte.
Daß nun auch ich Brot weggeworfen hatte, war ja doch nur die logische Schlußfolgerung aus all den bedrükkenden Zweifeln, die mich zuletzt geplagt hatten. Wenn ich ehrlich war, mußte ich mir doch eingestehen, daß es nicht so weitergehen konnte wie bisher. Das war doch kein erträglicher Zustand mehr gewesen! Das war übertrieben, zu radikal, zu verbittert ... Wie seltsam waren doch die Dinge, die ich über Brot gedacht hatte, ja wie eigenartig war ich eigentlich in all meinen Handlungen geworden! Für einen Moment war ich fast froh, nun auch selbst Brot weggeworfen zu haben, fühlte mich plötzlich wie von einer bleiernen Fessel befreit, lächelte sogar vorsichtig – die Röte der Aufregung immer noch im Gesicht. Ungläubig und durch diesen unerwarteten Stimmungsumschwung aufs Neue verunsichert blickte ich hilfesuchend umher, als läge eine greifbare Erklärung für meine Zustände vor mir auf dem Boden und wartete nur darauf, von mir aufgehoben zu werden. Doch schon war wieder eine vage Angst im Anflug, dieses für mich so seltene, schöne, freie Gefühl wieder zu verlieren. Zu oft war ich in letzter Zeit hin- und hergeworfen gewesen, zu schnell war bei mir immer die Ernüchterung auf die Euphorie gefolgt. Ich durfte nicht länger so sitzenbleiben und herumsinnieren, es war zu gefährlich. Mit Entschlossenheit stand ich auf, blickte mich noch einmal zu dem Mülleimer um, in dem sich nun mein angebissenes Brot befand, und ging dann kopfschüttelnd weiter.
Etwa zehn Meter von mir entfernt, auf einer Bank am Wegrand, saß jemand.
Es kam schließlich der merkwürdige Tag, der meinem Leben ein weiteres Mal eine ganz neue Richtung geben sollte. Ich war an diesem Tag besonders schlecht gelaunt und schlenderte wieder einmal mit hängendem Kopf und ohne jede Energie ein wenig im Stadtpark umher, da ich wenigstens noch ahnte, daß es besser war, meine miese Laune in die frische Luft hinauszutragen als sie im kleinen, stickigen Zimmer unter klaustrophobischem Hochdruck gären zu lassen. Ich trottete dahin, unentschlossen, nicht zielgerichtet, langsam, kaute lustlos an einem Käsebrot herum und biß dann und wann ein kleines Stückchen ab, ohne wirklich Appetit zu haben. Warum ist die Welt so grau?, dachte ich. Ja, warum war ich gefühlsmäßig wieder einmal so am Boden? Wo war meine anfängliche Begeisterung für die Wahrheit, die ich im Brot entdeckt hatte? Hatte ich mich etwa getäuscht, war alles nur ein Irrtum? Wenn ja, worin bestand dann für mich überhaupt noch Hoffnung, wo ich nun doch schon so oft gescheitert war? Mit diesen und ähnlichen Gedanken quälte ich mich – wie an allen vergangenen Tagen, so auch jetzt beim Umherirren auf den tristen Wegen.
Schließlich warf ich das Brot, mehr unbewußt als bewußt und einer spontanen teuflischen Eingebung folgend, mit einem ganz kurzen, automatischen, letztlich blinden Seitenblick im Vorübergehen in einen Mülleimer, schlurfte gedankenlos weiter und starrte nach wie vor abwesend vor mich hin, als ob nichts geschehen wäre.
Erst einige Momente später realisierte ich, was ich gerade getan hatte. Siedendheiß durchfluteten mich Gefühle von Schuld und Scham. Wie erstarrt blieb ich auf der Stelle stehen und wagte es nicht, zum Mülleimer zurückzublicken. Ich hatte Brot weggeworfen! Ich hatte Brot weggeworfen! Das konnte doch nicht wahr sein ... In meinen Ohren begann es zu hämmern, mein Herz schlug wie wild, ich glaubte zerspringen zu müssen – ich hatte Brot weggeworfen! Ich wurde irr ...
Ohne zu überlegen hatte nun auch ich die Schuld auf mich geladen, die ich monatelang anderen angekreidet hatte. Ich hatte das Brot, das ich verehrt und in höchste Höhen gehoben hatte, achtlos wie jeder andere unwissende Mensch in den Mülleimer geworfen. Moment mal – hatte ich es eigentlich geworfen, oder hatte ich es auch nur fallen lassen? Ein ganzer Berg aus Gefühlen brach über mich herein; es war der wackelige Berg radikaler Gedanken, den ich in letzter Zeit über mir errichtet hatte; es war der Turm aus tausend Tonnen Brot, der sich nun an mir rächte, anstatt mir die liebevolle, väterliche Sorge zu danken, die ich für ihn gehegt hatte. Wie betäubt wankte ich zur nächsten Parkbank, setzte mich und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hatte Brot weggeworfen! Schweigend saß ich da, war völlig aufgelöst und verwirrt, sah mich einem Scherbenhaufen gegenüber, biß mir nervös die Lippen wund. Lange Minuten dauerte es, bis der Pulsschlag sich beruhigte und ich in der Lage war, geordnet zu denken. Allmählich ebbte die innere Erschütterung ab, und die fassungslose, bohrende Scham, die im ersten Augenblick so gefährlich aufgeschäumt war, wich kleinlaut zurück.
Ein anderes Gefühl keimte schwach auf, wurde stärker, hielt sich eine Zeitlang mit den Schuldgefühlen die Waage und wurde schließlich übermächtig. Es war eine Art Erleichterung, über die ich mich sogleich wieder etwas schämte, die sich aber nicht mehr verdrängen ließ. Eine seltsame Ruhe ergriff mich, wurde zur Affektlosigkeit, fast zur inneren Größe. Ich fühlte nun die stille Ergebenheit, mit der man eine unausweichliche Tatsache hinnimmt, eine Ruhe nach dem Sturm, ein auffälliges, beinahe mißtrauisch machendes Fehlen von Schmerz. Plötzlich mußte ich mich nicht mehr schämen, fühlte mich unbeschwert und gar nicht mehr schuldig; ja, sogar die ganze deprimierte Stimmung der letzten Zeit war auf einmal von mir abgefallen. Ich flüsterte ganz wie von selbst und mit einer tröstlichen Gewißheit „ja“. Ich wußte zwar nicht genau, was ich bejahte und warum, aber ich fühlte, daß mein „ja“ auch das einschloß, was ich soeben getan hatte.
Daß nun auch ich Brot weggeworfen hatte, war ja doch nur die logische Schlußfolgerung aus all den bedrükkenden Zweifeln, die mich zuletzt geplagt hatten. Wenn ich ehrlich war, mußte ich mir doch eingestehen, daß es nicht so weitergehen konnte wie bisher. Das war doch kein erträglicher Zustand mehr gewesen! Das war übertrieben, zu radikal, zu verbittert ... Wie seltsam waren doch die Dinge, die ich über Brot gedacht hatte, ja wie eigenartig war ich eigentlich in all meinen Handlungen geworden! Für einen Moment war ich fast froh, nun auch selbst Brot weggeworfen zu haben, fühlte mich plötzlich wie von einer bleiernen Fessel befreit, lächelte sogar vorsichtig – die Röte der Aufregung immer noch im Gesicht. Ungläubig und durch diesen unerwarteten Stimmungsumschwung aufs Neue verunsichert blickte ich hilfesuchend umher, als läge eine greifbare Erklärung für meine Zustände vor mir auf dem Boden und wartete nur darauf, von mir aufgehoben zu werden. Doch schon war wieder eine vage Angst im Anflug, dieses für mich so seltene, schöne, freie Gefühl wieder zu verlieren. Zu oft war ich in letzter Zeit hin- und hergeworfen gewesen, zu schnell war bei mir immer die Ernüchterung auf die Euphorie gefolgt. Ich durfte nicht länger so sitzenbleiben und herumsinnieren, es war zu gefährlich. Mit Entschlossenheit stand ich auf, blickte mich noch einmal zu dem Mülleimer um, in dem sich nun mein angebissenes Brot befand, und ging dann kopfschüttelnd weiter.
Etwa zehn Meter von mir entfernt, auf einer Bank am Wegrand, saß jemand.