9. Leben auf dem Meeresgrund

pol shebbel

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(Eine kurze Rückblende, etwas nie Dagewesenes in Frascha - und eine Art neues Leben für Paril.)

In den Jahren vor und während der grossen Trockenheit hatten sich in Asîmchômsaia unmerklich einige Veränderungen angebahnt. Begonnen hatte diese Entwicklung vermutlich schon lange vorher, aber richtig in Fluss kamen die Dinge erst, seit der Hochmeister der Stadt Assing hiess. Von diesem bemerkenswerten Manne gingen wohl letztendlich die Impulse aus, die von Asîmchômsaia aus in den Pyramidalwald ausstrahlten und nach und nach an vielen Orten kleine Feuer zu entzünden begannen. Wobei - gerade fällt mir auf, dass dies eine ausgesprochen ungünstige Metapher ist; Feuer im Wald entzünden war bekanntlich eine Spezialität der Waldfrevler... Also, mehr mit den Worten des Grünen Buches gesagt: Dieses Mannes war die Saat, die an vielen Orten zu keimen begann.

Was keimte, manifestierte sich in den Gesprächen der Menschen, in denen immer öfter Kritik am angeblichen Zerfall der Sitten und der Religion laut wurde - zunächst im allgemeinen, zunehmend jedoch und immer lauter im besonderen an den vermeintlichen Urhebern, das heisst zunächst an Zin-Âching, dann an den Städten im Metallgebirge und schliesslich an allen, die die Heiligkeit und Unantastbarkeit des Waldes antasteten und seine Zerstörung, z.B. zwecks Metallgewinnung, förderten oder auch nur tolerierten. Natürlich war es klar, um was es in Wirklichkeit ging - nicht so sehr Workash Assing selbst, der ein Philosoph war und kein besonderes Interesse an politischen Intrigen hatte, wohl aber denen, die in seinem Namen auftraten, seine Worte auslegten und für ebensolche Intrigen ausnutzten: Es ging darum, möglichst einfach der verhassten Macht, dem Metallbund, Schaden zuzufügen. Als Nebeneffekt dieser Strategie begann der Einfluss Asîmchômsaias unmerklich zu wachsen, und mehr und mehr wurde aus einem Wirtschafts- und Kulturzentrum auch ein Zentrum politischer Macht. Und im Gegensatz zur ausgesprochen konservativen Färbung der Ideen Assings kündigte sich auf anderer Ebene eine grundlegend neue Gesellschaftsordnung an, in der es mit der Unabhängigkeit der einzelnen Ortschaften vorbei sein würde.

Die Kritik tat ihre Wirkung. Die Erträge aus dem Metallhandel in Zin Loemparl, Bork-Reiângingân und Reibork-Uem begannen zusehends zu schrumpfen (es gab im Pyramidalwald inzwischen sogar Fanatiker, die die reichlich realitätsfremde Forderung aufstellten, völlig auf den Gebrauch von Metall zu verzichten), und die grosse dreijährige Trockenheit gab den Rest. (Das Ausbringen der erwähnten Saat erhielt jetzt noch einen zusätzlichen Sinn: einen Schuldigen für die Hungersnot zu finden bzw. zu verhindern, dass die Wut der Bevölkerung sich gegen die eigene Obrigkeit richtete.) Vor diesem Hintergrund des dreifachen Angriffs durch Hunger, wirtschaftlichen Niedergang und religiöse Gärung ist es zu sehen, dass die Regierungen der metallfördernden Städte plötzlich etwas begannen, was es bis dahin noch nie in Frascha gegeben hatte: einen überregional organisierten Krieg.

Die völlige Neuartigkeit der Situation trug zum Überraschungsmoment zusätzlich bei; noch ehe man in Asîmchômsaia richtig begriffen hatte, dass die Stadt das Ziel eines Angriffs war, stand das feindliche Heer schon zwei Tagesmärsche Distanz vor ihren Mauern - vor den Mauern einer Stadt, die in keiner Weise auf einen Kampf mit einem gleichwertigen, geschweige denn überlegenen Gegner vorbereitet war. Was dann aber geschah, war erstaunlich und mindestens ebenso neuartig: innerhalb kürzester Zeit mobilisierten alle umliegenden Dörfer und Landkreise ihre kampffähigen Leute und schickten sie Asîmchômsaia zu Hilfe. Förmlich aus dem Nichts stand plötzlich eine starke Armee da und brachte den Vorstoss des Metallbundes abrupt zum Stehen. Jetzt waren die "Ketzer" an der Reihe, sich überrumpelt zu fühlen. Nachdem so beide Seiten ihren Schock abbekommen hatten, begann ein zähes Ringen, bei dem bald die eine, bald die andere Seite die Oberhand hatte. In den nun folgenden Wochen leistete Asîmchômsaia Pionierarbeit und bewies, dass es den Titel "Nabel Ssais" vollkommen zu Recht trug: Man erfand das Feldlazarett, das Gefangenenlager, das Flüchtlingslager, eine ganze Familie militärischer Ränge und eine Kriegsfahne (wobei allerdings für die letztere nicht allzu viel Phantasie aufgewendet wurde; das Emblem bestand einfach aus dem Schriftzeichen für "Assing").

Sowohl das Gefangenenlager wie auch das Flüchtlingslager und das Feldlazarett, wo Paril seine Shas Gil-Wunden auskurierte, befanden sich zunächst in Rishwa Loemparl; das Gefangenenlager wurde ziemlich bald aus der Gefahrenzone abgezogen in die Nähe von Asîmchômsaia. Zwei Wochen später, als Rishwa Loemparl durch einen plötzlichen Durchbruch der Feinde in akute Gefahr geriet, wurde auch das Flüchtlingslager geräumt. Da das Lazarett überfüllt war, wurden bei dieser Gelegenheit alle Insassen untersucht, und diejenigen, die für reisefähig befunden wurden, mussten mit den Flüchtlingen mit. Unter denen, die sich so einem ganztägigen Fussmarsch unterziehen mussten, war auch Paril Sherritex; und ebenso fand er sich unter denen, die diesen nicht verkrafteten. Seit der Tagundnachtgleiche war mehr als ein Monat vergangen, die Sonne brannte täglich heisser, die Insassen des Flüchtlingslagers von Asîmchômsaia lauschten gebannt dem Herold, der die neuesten positiven Kriegsnachrichten ausrief,und hörten sich die neuesten Lobeshymnen auf die Weisheit des heiligen Assings an; Paril merkte nichts von alledem. Tagelang dämmerte er auf seinem Lager vor sich hin, fiebrig phantasierend und die Beine mit Geschwüren bedeckt. In der allgemeinen Verwirrung kümmerte sich zunächst niemand um ihn - der Schock des Kriegsausbruchs hatte die lokale Bevölkerung so gründlich durcheinandergewirbelt, dass unter den Menschen in der neuen Umgebung kein einziger Bekannter oder Verwandter von ihm war. Wäre es dabei geblieben, dann wäre Paril wohl in kurzer Zeit nur noch ein weiterer Toter im Flüchtlingslager gewesen.

Doch was geschah, war eine Art Wunder. Jemand erkannte Paril - und dieser Jemand war niemand anderer als Etuik Irzo aus Onnikir. Etuik, den Paril einst als winselnden, schlaffen Sack an seiner Schulter erlebt hatte - jener selbe Etuik legte jetzt plötzlich eine erstaunliche Energie und Zähigkeit an den Tag. Etuik sorgte dafür, dass Paril die ihm zustehenden Wasserrationen erhielt. Etuik bemühte sich mit Hartnäckigkeit um heilkundige Betreuung. Etuik warf seine ganze Kraft und sein ganzes Gewicht in die Waage, um Paril eine bessere Lebensmittelversorgung zu verschaffen - und wie sich jetzt herausstellte, war dieses Gewicht gar nicht so gering. Etuik hatte Verwandte in der Stadt, die zu den "besseren Familien" zählten; dank ihrer Hilfe blieb Paril am Leben - das war, trotz allem, zunächst alles, was man sagen konnte. Die dieses Jahr geschlüpften Jungen der Blätterpfeile machten ihre ersten Flugversuche und schossen wie schlecht gezielte Rednerpflaumen durch die Gegend, der Feind war allen Siegesmeldungen zum Trotz noch immer nicht geschlagen - und Paril begann, unendlich langsam diesmal, sich zu erholen. Als das Gras auf den Baumstämmen gelb wurde, stand Paril zum erstenmal wieder auf. Und während die Lianen eine nach der anderen in Sommerstarre fielen, erforschte Paril Schritt für Schritt seinen neuen Lebensraum: eine grob zusammengezimmerte Baracke etwa 4 Mannslängen über Grund inmitten eines Wirrwars von anderen provisorischen Hütten, provisorischen Leitern, provisorischen Brücken. Man zählte zum drittenmal Neumond seit der Tagundnachtgleiche, die Flechten waren knochentrocken und die Armee der Ketzer (gemäss Herold) nur deshalb noch nicht vernichtet, weil man gleichzeitig die von ihnen gelegten Waldbrände bekämpfen musste - und Paril lernte, an der Nahrungsausgabe Schlange zu stehen, unentbehrliche Dinge als Schutz gegen Diebstahl stets bei sich zu tragen und sich dreimal pro Tag bei einem der kostbaren Pyramidalbäume zur Meditation anzumelden; letzteres fiel ihm, der Zeit seines Lebens einen Pyramidalbaum ganz für sich gehabt hatte, besonders schwer. Paril Sherritex war am Leben - viel mehr konnte man auch jetzt nicht sagen. Allenfalls beschrieb man das Leben, das er wie viele andere jetzt führte, als "Leben wie auf dem Meeresgrund". Oder weniger poetisch: ein beschissenes Leben!

Paril war ein eingefleischter Optimist, doch es gibt Umstände, die auch einen solchen zu Fall bringen; manchmal fragte er sich, ob der wohlhabende, gebildete Bauernsohn von einst mit dem wortkargen, düsteren Gesellen von jetzt überhaupt noch etwas gemeinsam hatte. Was ihn - neben einem dumpfen, täglich geschürten Hass auf die waldmordenden Feinde - am Leben hielt, war eben diese Erinnerung an den Paril von einst; den ganzen Tag streifte er durch das Lager auf der Suche nach Erinnerungen, nach Menschen, die er kannte. Meistens blieb die Suche vergeblich; seine Eltern waren tot, Gânssi kämpfte an der Front, seine Schwester, sein Schwager und die übrigen Bewohner des einstigen Onnikir waren das eine oder das andere oder weiss Kerr wo. Seine einzige wirkliche Bekanntschaft blieb Etuik; doch auch ihn sah Paril zunehmend seltener, da Etuik mittlerweile vom Flüchtlingslager zu seinen Verwandten in die Stadt umgezogen war.

Parils Gesundheitszustand zumindest aber wurde schliesslich so gut, wie er es bei einer Lebensweise mit solch niedrigen Essensrationen überhaupt sein konnte. Und dies wurde zur Voraussetzung zu einer Veränderung seiner Lage. Um Kranke oder Tote kümmerte sich, wie Paril hatte erfahren dürfen, niemand im Lager. Um gesunde junge Männer jedoch sehr wohl.

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Eines Tages, als Paril einmal mehr mit den Händen in den Taschen und Gânssi im Kopf durch das Lager strich, sprachen ihn zwei Männer an. Sie redeten eigenartige Dinge, die ziemliche Ähnlichkeit mit den täglichen Propagandareden der Herolde hatten. Paril hörte düster und wortkarg zu, und er blieb wortkarg und äusserlich teilnahmslos, als klar wurde, dass er in die Armee von Asîmchômsaia eintreten sollte. Er leistete der Aufforderung jedoch Folge - und es war ihm mehr als recht. Nur schon aus dem Lager herauszukommen, war viele Mühe wert, denn die Stimmung dort begann langsam unruhig zu werden; Unmut wurde laut über die offenbare Unfähigkeit der Führung, den Sieg herbeizuführen, Streitereien und Gewalt waren am Steigen. Vor allem aber war die Armee von Asîmchômsaia der Ort, wo Gânssi lebte, und ausserdem der Ort, wo man die Objekte des Hasses, die Baumfrevler nämlich, treffen und verprügeln konnte. So wie damals in Onnikir, als es geheissen hatte: "Auf die Kletteraffen los oder aus dem Weg!", entschied sich Paril für das erstere.

Seine Hoffnungen erfüllten sich nur zum Teil. Von Gânssi hörte er ein einziges Mal etwas, als ihr Name in einer Liste von Personen auftauchte, die ihrer Verdienste wegen zu Gruppenführern befördert wurden; zu einer persönlichen Begegnung kam es nie. Einen neuen Schlafplatz erhielt er zwar, doch dieser war vom alten kaum eine halbe Meile entfernt. Für Nahrung und Wasser wurde überhaupt nicht gesorgt; das musste er sich nach wie vor an den Ausgabestellen im Lager besorgen. Ein Vorteil lag allerdings darin, dass er in seinem hellbraunen ledernen Waffenrock mit dem "Assing"- Schriftzeichen auf der Brust recht stattlich aussah; so wurde er als eine Art Respektperson behandelt und weniger oft in Schlägereien hineingezogen.

Ansonsten lernte Paril jetzt, sich von der fetten Adjutantin anbrüllen zu lassen und, wenn verlangt, zurückzubrüllen; letzteres wirkte ziemlich gut, dank seinem tiefen Bariton. Er lernte den Ton des Alarmhornes, bei dessen Ertönen man blitzschnell kampfbereit zu sein hatte, kennen und hassen. Er lernte, ein Schwert in der Hand zu halten und einen Speer zu werfen; mit der Armbrust schiessen konnte er schon. Mit leichtem Kopfschütteln lernte er die Kriegermeditation, bei der nur der mit einer Paradiesvogelfeder geschmückte Hauptmann in einem Pyramidalstamm kniete und alle Soldaten sich auf ihn konzentrieren mussten. Er lernte den Treueschwur auf den heiligen Hochmeister Assing auswendig und hörte die täglichen Nachrichten von speziellen Armee-Herolden, die noch ein bisschen aggressiver schrien als die im Lager; dabei stellte er sich immer jemanden wie den Messerhelden vor, um angemessen reagieren zu können.

Der grösste Teil von diesem neuen Leben war immer noch wie auf dem Meeresgrund - doch zumindest war Paril nun nicht mehr allein. An den freien Abenden kamen die Kriegerinnen und Krieger irgendwo zusammen und liessen eine Rishwa Lai-Pfeife kreisen. Paril und ein anderer Neuer namens Shebbel spielten dann etwa eine Partie Kchalpu, ein Brettspiel mit vertrackten Zugregeln; oder sie schlugen Trommeln und sangen schwerblütige Volksmelodien. Bisweilen waren sie in der Stadt in einer Taverne; manchmal wurde geprügelt, und manchmal wurde geliebt; beides sowohl untereinander als auch mit Nicht-Kriegerinnen oder -Kriegern. Es waren diese kleinen Begebenheiten, die das Leben einigermassen erträglich machten; und manchmal, etwa wenn der Schlauch mit dem Feigenschnaps bei Paril zwei - oder dreimal vorbeigegangen war, mochte es geschehen, dass ein kleiner Teil von Parils früherer fröhlicher Gelassenheit zurückkehrte.

Was die "Kletteraffen" anging, so blieben sie vorerst weit weg. Eine Zeitlang schien es sogar, als ob der Krieg bald vorbei sein würde, ohne dass die neuen Soldaten einen Finger rücken mussten. Es wurde nämlich gesagt, dass aus dem Norden des Pyramidalwalds, aus Buefshchim Loemparl und Waicho Laewilae, Truppen unterwegs seien, um dem Feind in den Rücken zu fallen. Diese angeblichen Hilfstruppen liessen dann allerdings nie etwas von sich hören - und Paril war froh, bei den Soldaten zu sein, denn im Flüchtlingslager begann es mit der Zeit wirklich zu gären; es fiel den Ausrufern immer schwerer, die aufgebrachten Bauern zu besänftigen, die unbedingt zu ihren Feldern zurückkehren wollten. Insgeheim machte sich auch der ehemalige Bauer Paril gelegentlich Sorgen, wo das noch hinführen sollte. Es war jetzt nämlich Erntezeit, und auf den Feldern wurde jeder Arm gebraucht - um so mehr, als die Ernte der Trockenheit wegen sowieso mager ausfallen würde, und erst recht, weil nicht wenige Felder inzwischen niedergebrannt waren. Jeder Tag dieses unseligen Krieges verschärfte die Hungersnot, und es war Verheerendes zu befürchten, wenn er nicht bald zu Ende war.

Kurze Zeit später aber begannen all die Sorgen und Probleme in den Hintergrund zu rücken: die Sommersonnenwende nahte. Seit jeher war die Sommersonnenwende eine Zeit des grossen Feierns, und auch diesmal war von vornherein klar, dass sich niemand das Fest von so etwas Lächerlichem wie einem Bürgerkrieg verderben lassen würde. Auch die Obrigkeit spielte mit: Aus den Botschaften der Herolde begannen die Kriegsnachrichten zu verschwinden, wurden mehr und mehr abgelöst von Ankündigungen betreffend die Festzeit, über Ort und Zeit von Festwirtschaften, heiligen Ritualen, Jahrmärkten, Bällen. Man mag die Volksseele von Asîmchômsaia leichtsinnig nennen; fest steht, dass die Stadt etwas Erheiterung bitter nötig hatte, und so kann man es auch als Ausdruck gesunden Lebenswillens ansehen, dass am Vorabend der Sonnenwende das Thema Krieg aus den Köpfen vollständig verschwunden war.

Es war, wie üblich zu dieser Jahreszeit, eine warme und lebendige Nacht voller tanzender Irrlichter, Rascheln und Grillengezirpe. Überall, in der Stadt, im Lager, flackerten blassgelbe Laternen; Trommeln ertönten, Leiern, Affenlauten und Hornpfeifen. Die Menschen sassen in Gruppen zusammen und wiegten sich im Rhythmus der Musik hin und her, den Blick nach innen gerichtet, auf die Gestalten und Bilder ihrer durch Mondkraut-Rauch angeheizten Phantasie. Mutige sassen hoch oben in den Baumwipfeln und erschauerten beim Betrachten des samtenen Sternenhimmels, eines schwarzen Meeres, in deren Mitte ein fetter, gelber Vollmond schwamm; von der Mondgöttin persönlich liessen sie sich in Trance versetzen. Wieder andere sassen ganz unten, in den Höhlen der Pyramidalstämme, in Meditation versunken. Nie ist der Kontakt zwischen menschlichen und pflanzlichen Seelen so eng wie im Rauch der Rishwa Lai; Menschen- und Waldgeister waren eins in dieser Nacht und schweiften fort in weite, unbekannte Welten.

Als die ersten, fahlen Lichtstreifen über den Himmel huschten, näherte sich der Höhepunkt. Der grosse Platz im Herzen von Asîmchômsaia war gerammelt voll mit Menschen - alles, was noch laufen konnte, hatte sich hier versammelt, um am traditionellen Mittsommernachts-Ritual teilzunehmen. Im Mittelpunkt stand - natürlich - der Heilige Baum der Stadt mit den fast symmetrisch rechts und links aus seinem Stamm wachsenden Eichen, denen die Stadt ihren Namen verdankte. Dort kniete der Hochmeister Assing höchstpersönlich andächtig in Meditationshaltung, schwer tragend an der Last seiner rituellen Gewänder. Die Baumpriester hatten eine Anzahl Opferbecken vorbereitet, in denen nach Vorschriften des Grünen Buches zusammengestellte Ernteprodukte verbrannt wurden. Die Galbell schritten nun, zu zweit die Becken mit den schwelenden Opfergaben tragend, an den Menschen vorbei,so das sich die würzig riechenden Rauchschwaden über den ganzen Platz verteilten. Eine andere Gruppe von Galbell, die Vorsänger, begann mit einem monotonen Singsang; sie sangen das diesjährige Gebet an die vier Urgewalten, in welchem für ie Ernte gedankt und um Segen für die Zukunft gebeten wurde. Die Menge stimmte nach und nach mit ein, bis schliesslich der ganze Platz vibrierte vom mächtigen Gesang aus Tausenden von Kehlen, das rauschte wie ein mächtiger Regen, wie dumpfes Donnergrollen - der Regen, um den die gesungenen Worte die Götter anflehten.

Schliesslich wurde es wieder still, eine gespannte, erwartungsvolle Stille, in der alle Augen wie gebannt zwischen den Zweigen der Bäume hindurch auf den inzwischen blassgelb gefärbten Himmel gerichtet waren. Eine Minute verstrich, zwei - sogar die Vögel schienen den Atem anzuhalten. Da erscholl von oben ein jauchzender Ruf: "Ssu pla'if!" - und auf einen Schlag begann die Masse unten zu tanzen, zu johlen, zu lachen, zu stampfen. Der hoch in den Bäumen sitzende Herold hatte soeben das Aufgehen der Sonne gemeldet - der längste Tag war angebrochen, der Sommer hatte endgültig begonnen. Der heilige Platz brodelte, kam in Bewegung, in geballtes, überschäumendes Leben, das sich ausbreitete, in die ganze Stadt strömte, während ein strahlend sonniger Tag heraufzog. Arm und reich, Galbell und Galbladi, Flüchtlinge und Soldaten waren gleich an diesem Tag, gingen einträchtig nebeneinander durch die von lebendigen Mauern begrenzten Gassen der Stadt. Bauern aus der Umgebung hatten Stände aufgebaut und boten frischgeerntete Produkte feil; es gab keine Lebensmittelrationierung an diesem und den folgenden Tagen, und auch der Krieg, die Ketzer von Zin-Âching und alles andere weit entfernte existierten nicht mehr.

Mitten in dem bunten Treiben befand sich Paril zusammen mit seinen neuen Freunden - Acho, Shebbel, Kir, Dagam und wie sie alle hiessen. Es war wie früher - fast genauso wie in den besten Zeiten seiner Kindheit, und doch wieder anders: so viel intensiver, so unermesslich gigantischer als es in seinem kleinen Dorf je gewesen war. Und etwas zweites war anders: die Beziehung zur Vergangenheit fehlte, der Rückhalt in der Familie, die Verwurzelung in den wohlbekannten Örtlichkeiten. Um so intensiver warf sich Paril in die Gegenwart - die Gegenwart, die ihm als einziges geblieben war, seit dieses Leben auf dem Meeresgrund begonnen hatte. Er liess sich mitschwemmen vom Strom der feiernden Masse, er betäubte seine innere und äussere Leere mit Rauch, Alkohol und anderen sich darbietenden Genüssen. Was sonst hätte er tun sollen? Sein Leben war zu einem Alptraum geworden; so tauschte er lediglich einen Traum ein gegen einen anderen, wesentlich angenehmeren; und er hielt diesen angenehmen Traum fest, so lange es möglich war. Und das war diesmal lang, Tage um Tage.

Doch ein Traum bleibt ein Traum. Und aus jedem Traum gibt es ein Erwachen. Und je angenehmer der Traum, desto bitterer ist das Erwachen.
 



 
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