995. durch und durch

G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
995.
durch und durch


wenn alles klar ist
und freie bahn sich vor uns dehnt
weit weit hinaus

dass unsren sinnen
kein widerstand entgegensteht
und unsrem glück

und diese weite
total hinausgestülpte kraft
sich ganz vergisst

und dann die grenze
die dünngespannte haut zerreiszt
die zeit zerplatzt

und unser lachen
die dimensionen biegt und bricht
durch durch und durch

ja unser rachen
in tollem kuss sich rückwärts stülpt
und uns auswürgt

ganz wie ein drachen
der aller tage abend bringt
sich selbst verschlingt
 
Hallo Mondnein,
Aus deinem Gedicht spricht (so interpretiere ich es) sehr viel Euphorie und Freude am hier und jetzt. Die Sprachbilder sind sehr treffend und auf hohem Niveau in Worte gefasst.
Beim zweiten Lesen wirkt das einleitende 'wenn' etwas störend. Das 'wenn' sollte immer von einem 'dann' gefolgt werden, um die Spannung zu lösen. In deinen Strophen folgt nach dem einleitenden 'wenn' jedoch mehrere 'und' . Dies baut die Erwartungshaltung immer mehr auf, aber am Ende folgt nicht das erlösende 'dann'. Ist das so gewollt von dir?

Beste Grüße,
Michael
 
Hmm... ein Anakoluth sollte meiner Ansicht nach als Stilmittel erkennbar sein, sonst wirkt es fehlerhaft. Hier erschließt sich mir nicht seine Funktion. Was willst du denn genau mit diesem Stilmittel ausdrücken?
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Natürlich ist jeder Anakoluth fehlerhaft.
Als Stilmittel erkennbar ist eine bestimmte Form wohl am ehesten dadurch, daß sie den Inhalt wiederspiegelt. Hier ist das Zerreißen der "dünngespannten Haut" des Erfahrungshorizonts oder der Vorstellungsgrenze, das Zerplatzen der Zeit, das Biegen und Brechen der Dimensionen so hyperbolisch aufgedonnert, so maßlos übertrieben, daß es die Maße und Prädikationserwartungen der Satzbildung mit reinreißt in das Biegen und Brechen der Sprache.
Diese Selbstabbildung der Selbstverschlingung wird dann noch einmal potenziert - hoch zwei, Quadratur des Zeitenkreises, haha, oder hoch drei, in drei Selbstabbildungen analog untereinandergeschichtet, deren erste Zeilen sich entsprechend reimen. Entsprechung der Entsprechung der Entsprechung.

und unser lachen
die dimensionen biegt und bricht
durch durch und durch

ja unser rachen
in tollem kuss sich rückwärts stülpt
und uns auswürgt

ganz wie ein drachen
der aller tage abend bringt
sich selbst verschlingt
 
Vielen Dank, jetzt ist mir klarer,was du damit ausdrücken wolltest! Ich habe trotzdem Zweifel... Ein Anakoluth sollte meiner Ansicht nach sofort als Stilmittel erkennbar sein, es muss also so dick aufgetragen werden (siehe beispielsweise die Verwendung des Anakoluths im Karbaret), dass sofort und unmissverständlich klar ist, dass dies ein Stilmittel ist. Nach deinen Erklärungen ist mir nun klar, warum du dies so einsetzt, aber das ist mir zu viel 'Literaturwissenschaftliches Proseminar' :) , ich habe den Eindruck, du hast an der Stelle 'zu viel gewollt'. Natürlich ist das immer auch eine Frage der individuellen Leseerfahrung, aber für mich funktioniert es als Stilmittel nicht, weil es nicht sofort als solches erkennbar ist (zumindest für mich...), daher empfinde ich es eher als störend. Aber das ist ja auch immer auch eine Geschmacksfrage.
Davon abgesehen finde ich das Gedicht wirklich gut gelungen!
 

James Blond

Mitglied
Es ist eines der wenigen Gedichte im Ungereimten, das mir in seiner sprachlichen Ausdruckskraft und in seiner Rhythmik sehr gefällt. Schade nur, dass es sich nicht reimt. ;) Wenn die längeren Verse Reime hätten, wie es bei 'vor uns dehnt / entgegensteht' schon ein wenig anklingt.

Ein Anakoluth als Stilmittel ist schwierig. Das sich selbst verschlingende Gedicht wäre konsequenter Weise eine leere Seite, kein halber Satz. Das scheint mir hier auch ein wenig zu gewollt.

Ich könnte mir aber auch abseits der Bühnenkünste ein lyrisches Spiel mit Halbsätzen vorstellen. z. B ein sich strophenweise wiederholender Wenn-Anfang, den am Ende ein 'Ja - wenn' abschließt.

Grüße
JB
 



 
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