AB: Lang, lang ist's her oder wenn Fünf gerade wird

Hassels

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AB: Lang, lang ist’s her oder wenn Fünf gerade wird
Die zweiten vierzig Minuten waren zum Marathon geworden, aber ich hatte es genossen. Als Held des Tages durfte ich zwei Tore zu unserem 3:1 beisteuern. Unsere Ü70 war seit fast drei Jahren ungeschlagen, da könnten der Löw und seine Jungs sich eine Scheibe abschneiden.
Seit über vierzig Jahren spielte ich mit Kurt, Ansgar und Dietrich zusammen Fußball. Je oller, je doller. Den Spaß am Spiel hatten wir uns nicht nur erhalten, mit zunehmendem Alter bereitete es uns sogar noch mehr Spaß als früher.

Und die in den Jahren Hinzugekommenen hatten sich nahtlos in die Mannschaft gefügt. Wenn einer wegen seiner Familie aufgehört hatte, standen dafür immer drei in der Warteschleife. Die Mannschaftsstärke hatten wir nämlich nie über sechzehn wachsen lassen, damit auch alle ihre Einsatzzeit bekamen.
Heute hatte ein Neuer Premiere gehabt, Bernhard, wie ich schon sechsundsiebzig. Und er hatte gut gespielt, war Antriebsmotor im Mittelfeld gewesen.
Beschwingt vom Sieg gingen wir plaudernd Richtung Kabine, freuten uns schon auf die dritte Halbzeit, die bei uns meist bis Mitternacht ging.

Bernhard war mir schon sympathisch gewesen, als er sich beim Mannschaftsrat vorgestellt hatte und jetzt, so kurz nach dem Spiel, war er auch noch zu Späßen aufgelegt. Auch wenn ich den ein oder anderen Witz schon kannte, seine Art zu erzählen und zu betonen war einfach klasse.
Unter der Dusche erblasste ich dann, als er den linken Arm zum Einseifen nach oben reckte. Ein mir bekanntes Tattoo, AB, prangte auf dem Arm, unterhalb seiner Achselhöhle.

Ob ich gestarrt habe, meine Gesichtszüge entgleist waren oder was auch immer, Bernhard war irritiert durch mein Verhalten.
„Was ist los, Willy?“, fragte er mich.
„Das Tattoo“, antwortete ich noch immer konsterniert.
„A für Anneliese und B für Bernhard. Meine Exfrau wollte das damals so. Und ich habe es mir im Liebesrausch nach ihrem Wunsch stechen lassen.“
Er hüllte sich in sein Badetuch und ging in den Vorraum.

Ich seifte mich nochmal ein und auch mein Verstand kehrte zurück. Und selbst mir leuchtete es jetzt ein, es konnte ja gar nicht sein, bei Kriegsende war er ja auch erst zwei Jahre alt gewesen.

Geschniegelt und gebügelt, bald darauf saß unsere Altherrenriege an den zwei zusammengestellten Tischen und die erste Runde Pils und Korn wurde hastig hinter die Binde gekippt.
Lautstark analysierten wir unser Spiel, die Sichtweise aus jeder Position heraus. Und bei Konrad mussten wir sogar lachen. „Ich war ja heute fast arbeitslos, die sind ja nur dreimal mit ihren Kackstelzen vor meinem Tor gewesen.“
Und immer wieder fand ein neues Pilschen und dazugehöriges Körnchen den Weg in die teilweise etwas aus der Form geratenen Bäuche.

Das feste Ritual wurde auch wie immer eingehalten, pünktlich zur Tagesschau schaltete Ansgar den Kneipenfernseher ein. Nach den Nachrichten schaltete Susi den Fernseher wieder aus und servierte unser Essen. Heute gab es in Butter geschwenkte Pellmänner mit Heringsstipp.
Die Unterlage war auch dringend nötig, da die Schlagzahl heute besonders hoch war. Der Nebel um mich hellte etwas auf und die Laufstegschönheiten unseres Stammlokals entpuppten sich wieder als normale Frauen.

Nun gut, so normal waren die Damen auch nicht, aber wir kannten sie aus für sie besseren Zeiten. Unsere drei Junggesellen hielt das nicht ab, die in die Jahre gekommenen Bordsteinschwalben mit zu sich zu nehmen. Nach unserem nächsten Spiel würden wir wieder in allen Einzelheiten unterrichtet werden.
So neigte sich der feuchtfröhliche Abend langsam dem Ende zu, kurz vor Mitternacht gingen auch die letzten ihres Weges.

Als letzter Mohikaner wollte ich gerade Susi zur Abrechnung winken, als sich Bernhard zu mir gesellte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er noch geblieben war.
„Nu Mal Butter bei die Fisch, Willy. Jetzt sind alle weg und niemand ist in Hörweite. Ich finde das Tattoo auch nicht schön, aber Du hast ausgesehen, als hätte der Leibhaftige Dir das Nudelholz übergezogen.“ Er schaute mich dabei schulterzuckend an.

Schlagartig war ich wieder nüchtern und sah ihn einige Zeit prüfend an.
„Du hast wohl gar keine Ahnung was es mit dem Tattoo an der Stelle auf deinem Arm auf sich hat?“
„Nicht die geringste. Ich habe es mir ja wie schon gesagt, für meine damalige Frau machen lassen. Und das, obwohl ich mir dabei wie eine Toilette vorkam. Bei uns an der holländischen Grenze, wo ich herstamme, war AB die Abkürzung für Abort und stand auf vielen Klotüren. Ich war jung und diese erfahrene und gutaussehende Frau wollte mich. Da habe ich mich halt breitschlagen lassen. Anneliese war zwanzig Jahre älter, aber ein steiler Zahn. Uijujui, das war für damalige Verhältnisse ein echter Hammer. Wir haben 1965 geheiratet und ich habe erst drei Jahre später erfahren, dass sie mich einen Tag nach dem Tod ihres vorherigen Mannes kennengelernt hat. Heinrich Gärtner wäre 1964 ermordet worden.“

„Am 7.April 1964, um genau zu sein,“ warf ich vorschnell ein.
Nun schaute Bernhard mich an, als wäre ihm der Canterville Ghost erschienen, doch er fing sich rasch und hakte nach: „Bist Du Kommissar Zufall, oder woher weißt Du das?“
„Treffer. Ich war bei der Polizei und das war in meinem ersten praktischen Jahr. Aber mehr kann ich dazu nicht sagen“, antwortete ich.
Er überlegte, das war deutlich zu sehen.

„Was hältst Du eigentlich von der AfD und den Thesen von Beatrix von Storch?“, versuchte ich über die Scheißhausparolen der Stammtischgespräche seine Gesinnung zu erkunden.
„Von der braunen Scheiße halte ich gar nichts. Ich frage mich manchmal, wie die Leute so etwas wählen können. Aber lenke nicht ab, Willy. Lass Mal fünfe gerade sein und sag mir was es mit dem Tattoo auf sich hat.“

„Fünfe gerade sein lassen ist das Stichwort. Nach zwei Jahren Schulung kam ich zu Jahresbeginn 1964 zu Hauptkommissar Katzbach. Der Kater, wie er im Präsidium genannt wurde, war Mister 100%. Er war bis dahin der einzige Leiter einer Mordkommission, der alle Mordfälle gelöst hatte.
Und der zweite Fall, den ich unter seiner Leitung bearbeitete, war der Fall Heinrich Gärtner. Und der hatte auch so ein Tattoo und war der erste Fall, den der Kater nicht löste“, beließ ich es mit der Erklärung.

„Aber das ist ja wohl nur ein Teil der Erklärung, oder?“, fragte Bernhard. Er hatte es erfasst und da der Kater ja schon einige Zeit den Würmern diente, entschloss ich mich die Geschichte zu erzählen.

„Also gut Bernhard, danach wirst Du verstehen, wie extrem gerade man die Fünf sein lassen kann.
Das AB-Tattoo war die Blutgruppe von Heinrich Gärtner. Allen Mitgliedern der ‚SS‘ wurde dieses Tattoo gestochen, damit sie im Ernstfall schnellstmöglich behandelt werden konnten. Heinrich Gärtner war Hauptmann der Waffen-SS gewesen.
Schon eine Stunde nach der Tat hatten wir durch Befragungen ein Bild vom Täter und einen Mann, auf den die Beschreibung passte, am Hauptbahnhof festgenommen.“

„Ein Nazi, jetzt wundert mich auch Annelieses Einstellung nicht mehr, wenn es um irgendetwas im Zusammenhang mit Israel ging“, unterbrach mich Bernhard. „Gut, dass ich mich nach drei Jahren von ihr scheiden ließ, als ich sie mit einem anderen erwischte. Und wieso habt ihr den Fall nicht gelöst, wenn ihr doch anscheinend den Täter festgenommen habt?“

„Aaron Morgenstern, die von uns verhaftete Person, war ein israelischer Tourist. Er hatte eine Gerichtsakte bei sich. Gärtner war in München angeklagt worden, unweit vom Ort seiner Missetaten. Nach Dachau war es ja nur ein Katzensprung. Und zur Überraschung aller wurde er freigesprochen. Der Richter war auch schon unter dem Führer Richter gewesen.

Nachdem der Kater die Akte studiert hatte, begleitete er Aaron Morgenstern zur Tür und ließ ihn gehen. Mich schaute er an und meinte, ich kann ja nicht jeden Fall lösen. Lieber lasse ich diesmal Gnade vor Recht ergehen, da unser Recht ja auch gebeugt wurde. Dann nahm er die Akte und schob sie in den alten Kohleofen.“

„Wow!“, entfuhr es Bernhard. „Ein toller Mann!“
Er machte das Verschwiegenheitszeichen, Pflaster über den Mund.
Danach hob er den Arm und als er Sichtkontakt zu Susi hatte, bestellte er:
„Bitte einen Kniffelblock, Knobelbecher, fünf Pils und fünf Korn,“ dabei zwinkerte er mir zu.
 



 
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