ABBA trifft Schubert

Hera Klit

Mitglied
Wir hatten eine super Idee. So dachten wir wenigstens. Wir wollten unseren Kommilitonen Heribert, einen erklärten ABBA-Fan, zu seinem Geburtstag, mit einer ABBA-Performance überraschen.

Wir, das waren zwei Studentinnen und zwei Studenten aus dem Fachbereich Elektrotechnik der FH-Darmstadt, die aber nicht miteinander liiert waren. Ich war einer der zwei Studenten, und zwar der wesentlich schlankere von beiden.

Da wir bei unserem Auftritt freilich nur Playback singen würden, was ja nichts Besonderes ist, sollten wenigstens unsere Outfits absolut authentisch sein.
Um die Sache lustiger zu machen, hatten wir uns überlegt, die Jungs sollten die Mädels von ABBA geben und die Mädels die Jungs von ABBA. Ich war zunächst dagegen gewesen, weil es mir absolut kindisch vorkam, aber Ricarda, eine von uns vieren, und zwar die, die meist den Ton angab, bestand darauf und hatte auch schon das Kostüm für mich besorgt und mir in der Mensa übergeben. Zu Hause zog ich das Zeug recht lustlos zur Probe mal an. Einen himmelblauen, hautengen, glitzernden Overall, weiße hohe Lackstiefel und dazu eine blonde, langhaarige Agnetha-Perücke. Den zugehörigen BH, musste ich freilich auspolstern, um Agnethas Format zu erreichen.

Zunächst traute ich mich gar nicht vor den Spiegel zu treten in dem Aufzug, aber dann, als ich es tat, rieselte mir ein Schauer über meinen Rücken.
Ich sah ja tatsächlich fast aus wie Agnetha und ich fand mich schön so. Schöner, als ich mich jemals als Jungmann gefunden hatte. Unwillkürlich machte ich eine weibische Handbewegung und sagte Hallöchen zu meinem Spiegelbild. Dann musste ich lachen. Zu meinem Erstaunen war mein Lachen, so eingerahmt von dem schönen blonden Haar, viel kecker, als ich sonst lachte. Es wirkte absolut einnehmend und irgendwie sexy und verführerisch. Ich ging noch eine ganze Zeit in den Agnethakleidern in meiner kleinen Studentenwohnung herum und schaute aus allen möglichen Blickwinkeln in den Spiegel. Ich konnte kaum fassen, dass ich diese adrette Person sein sollte, die ich da immer wieder neu erblickte.

Am nächsten Tag, nach der Vorlesung, besorgte ich mir bei Rossmann Schminksachen und
damit schminkte ich mich so, wie ich es glaubte, bei Agnetha gesehen zu haben. Dann zog ich das Agnetha-Dress an, setzte die Perücke auf und trat erneut vor den Spiegel.
Ich war von mir begeistert. Wie konnte ein Mensch, der normalerweise sicher nicht unbedingt zu den Hinguckern zählte, plötzlich so ein Hingucker werden?

Ich war ja immer der feminine Typ gewesen und als Knabe mit langen Haaren, musste ich mir oft gefallen lassen, von Fremden zunächst für ein Mädchen gehalten zu werden, aber seit ich mein Haar kürzer trug und etwas reifer geworden war, hatten die Fehleinschätzungen nachgelassen. Deswegen war es für mich jetzt selbst frappierend, was eine Perücke und Schminke bewirken können. Ehrlich gesagt, hätte ich mich damit selbst nicht auf der Straße erkannt, beim Vorübergehen.

Ich konnte mich an mir selbst nicht satt sehen. Ich fühlte mich neu, anders und zudem richtiger als sonst. Irgendwie glaubte ich angekommen zu sein. Aber meine Vernunft fuhr dazwischen und versuchte diese dummen Gefühle beiseite zu schieben. Niemals würde ich an meiner bisherigen Existenz die notwendigen Änderungen vornehmen können, um im wirklichen Leben eine Agnetha zu sein. Wie töricht war ich doch gewesen. Ich riss mich von meinem Spiegelbild los, dann zog ich die Sachen aus, setzte die Perücke ab und wusch mein Gesicht mit einer Intensität, als wollte ich mir die Haut von den Knochen schrubben.
Dies alles war sicher nur eine kleine Irritation. Bestimmt wäre ich genauso begeistert gewesen, wenn ich mich als Clown geschminkt hätte, dachte ich mir jetzt. Es ist einfach nur das ungewohnte Aussehen, das einen dann überwältigt, weiter nichts, redete ich mir ein.

Einmal müsste ich ja diese Agnethamaskerade nur noch machen, für unseren Auftritt. Es würde lustig werden, alle würden lachen und dann wäre ich wieder ich und während des Auftritts müsste ich mich selber ja nicht betrachten. Basta! Ich war wieder in der Spur, der Spuk war vorbei.

Da rief Ricarda an und kommandierte, ich solle nächsten Montag um 18 Uhr bei ihr sein, zur ersten Probe für unsere ABBA-Performance und ich solle auf keinen Fall mein Kostüm vergessen, denn wir würden freilich auch bei den Proben voll gestylt performen, um uns dadurch richtig in Stimmung zu bringen. Susanne, Holger und sie bestünden darauf. „Im Jogginganzug und in Latschen, wird das nichts.", belehrte sie mich. Noch bevor ich irgendwelche Einwände anbringen konnte, hatte sie aufgelegt. Manchmal ging mir ihre herrische Art schon auf die Nerven. Sie war eine Frau mit kurzem Bürstenhaarschnitt und mit mehr Muskeln am Körper als ich sie je durch härtestes Gewichtstraining mir draufschaffen hätte können. Ich hielt sie natürlich schon bei unserem ersten Kennenlernen für eine Kampflesbe. Kürzlich hatte mir Holger allerdings zugeraunt, er sei sich sicher, Ricarda habe ein Auge auf mich geworfen, ob ich denn nichts bemerkt hätte. Ich hatte nichts bemerkt und seit ich diese Information von Holger bekommen hatte, fürchtete ich mich davor, Ricarda würde sich mir offenbaren. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, komplett unter ihrem Kommando zu stehen. Sexuell sprach sie mich freilich auch nicht an. Weil ich nie Zeit hatte und für mein Studium immer lernen musste, hatte ich mich auch bis dahin nicht um eine Freundin bemüht.

Erst den Abschluss machen, dann einen guten Job ergattern und danach die passende Frau suchen, so riet mir mein Vater immer. Er hatte mit neunzehn heiraten müssen, weil ich ungewollt unterwegs war und dann musste er malochen, an studieren war da nicht mehr zu denken. Ich spürte, dass ich ihm das Leben versaut hatte, das war auch nicht erbaulich für mich. Wir kommen schon schuldig auf die Welt, so sagte ja schon Jesus sehr richtig. Für mich, als unerwünschtes Kind, trifft das freilich besonders zu.

Wir machten die Proben bei Ricarda, weil ihre Wohnung, die sie als Untermieterin bei einem gut situierten Herrn bewohnte, die geräumigste war. Wir drei anderen hausten jeweils in winzigen Studentenbuden, da hätten wir die ausgefeilte ABBA-Bühnenshow niemals proben können. Nacheinander verschwanden wir in Ricardas Schlafzimmer, um uns umzuziehen und zu schminken. Ich als Letzter. Als ich aus dem Zimmer trat, als Agnetha, bekam ich Beifall von meinen Mitstreitern. Sie waren ähnlich begeistert von mir, wie ich es vor wenigen Tagen gewesen war, als ich mich selbst zum ersten Mal als Agnetha im Spiegel betrachtete. Ricardas Augen leuchteten derart, dass ich fürchten musste, noch an diesem Abend einen Heiratsantrag von ihr zu bekommen. Sie war also doch eine Lesbe, ich hatte es ja geahnt. Ich nahm mir vor, mich nach den Proben sofort umzuziehen und nach Hause zu fahren.

Das Playback wurde eingeschaltet und wir zogen unsere Nummer zu unserer Zufriedenheit durch. Da wir in der Mensa in den Pausen schon die Moves und Schritte geübt hatten, war jetzt recht schnell alles ziemlich auf den Punkt gebracht. Trotzdem bestand Ricarda darauf immer und immer wieder zu üben und zu üben. Also mindestens fünfzehnmal Waterloo und Dancing Queen. Dann musste ich aufs Gästeklo, das sich am Ende eines langen Flurs befand.

Aus einem Zimmer hörte ich Klaviermusik und Gesang, die Tür war nur angelehnt. Nachdem ich auf dem Töpfchen war, wollte ich doch mal auf meinem Rückweg in das Zimmer, aus dem die Musik kam, hinein stibitzen, um den Verursacher der wohlklingenden, klassischen Klänge zu sehen. Da saß ein grauhaariger, etwas korpulenter Herr, mit Brille und Schnauzer, im feinen Anzug am Klavier und sang und spielte, ohne mich zunächst zu bemerken. Das muss natürlich Herr Lorenzen, Ricardas Vermieter, sein, wer sonst, dachte ich und wollte mich wieder entfernen, um den Herrn nur ja nicht zu stören. Ich wusste von Ricarda, dass er Witwer war und bereits früh pensioniert. Er hatte eine gut dotierte Beamtenstelle gehabt. Öfters erlaubten wir uns, Ricarda damit aufzuziehen, dass dieser Herr Lorenzen doch eine gute Partie für sie wäre, dann könnte sie sich das Weiterstudieren sparen und hätte ausgesorgt. Sie wurde jedes Mal fuchsteufelswild und schwor, sich lieber etwas abzuhacken, als so einen ollen Kerl zu ehelichen. Jetzt, als ich ihn so sah, in seiner ganzen reifen Erhabenheit und Würde, konnte ich Ricarda in dieser Sache absolut nicht verstehen. Ich sagte mir im Stillen, wenn ich eine Frau wäre, wäre ich doch froh, so einen Ausweg aus der Tretmühle des Malochens zu finden.

Ich hatte wohl so in Gedanken versunken, etwas zu lange im Türspalt verharrt, denn jetzt sah Herr Lorenz auf, erblickte mich, beendete sein Spiel und seinen Gesang und beeilte sich zur Tür herüber zu mir zu kommen. Ob ihn meine Erscheinung erschreckte oder irgendwie sonst beeindruckte, vermochte ich nicht zu sagen, aber ich hörte ihn sagen, in einem sonoren Tonfall, wie ihn nur richtige Herren haben:

„Aber liebes Fräulein, so bleiben sie doch und gestatten sie mir, sie zum Tee mit etwas Gebäck einzuladen. Wie selten habe ich doch die Ehre, so einen feinen Besuch in meinen bescheidenen Gemächern willkommen heißen zu dürfen.“

Ich hätte natürlich sagen müssen, dass ich weder ein Fräulein noch fein bin. Stattdessen sagte ich etwas tonlos und mit einer Stimme, die nicht mehr die meine war, sondern ungefähr eine Quinte höher lag: „Gerne, der Herr, wenn sie mich so nett bitten.“

Er deutete einen Handkuss an und ich glaubte mich im falschen Film zu befinden. Da jedoch, kein Regisseur „Aus! Aus! Aus!“ brüllte, spielte ich meine Rolle weiter und nahm mit Herrn Lorenzen eine Tasse Tee und etwas Gebäck. Als ich auf dem Sessel saß, mit der Tasse in der Hand, hielt ich die Knie eng zusammen, wie Damen es in Kostümfilmen immer tun. Instinktiv wusste ich, dass sich das so gehört. Auch hielt ich den Rücken total gerade und saß schön aufrecht, nicht hingeflätzt, wie es meine männliche Person, die im Augenblick nicht anwesend zu sein schien, meist zu tun pflegte. Ich wollte die Situation so lange genießen, wie es möglich war. Er kannte mich ja nicht und wenn ich gegangen wäre, würde er mich ja nie wieder sehen. Also, was war schlimm daran? Bestimmt wusste er ja, dass ich keine Frau war, sicher spielte er auch nur den Unbedarften, um der Peinlichkeit der Situation die Schärfe zu nehmen. Und so plauderten wir leicht dahin und ich erfuhr, dass das eben ein Schubert Lied gewesen war, das er intoniert hatte. Ich sagte ihm, es hätte mir außerordentlich gut gefallen und seine Stimme und sein Klavierspiel wären außergewöhnlich gut. Das leichte Vibrieren seines Schnurbarts, als er dies vernahm und sein frohes Augenleuchten, signalisierte mir, dass er durchaus für Komplimente empfänglich war.

Nach ungefähr zwanzig Minuten hörte ich Ricarda draußen im Flur nach mir rufen, also sagte ich zu Herrn Lorenzen, ich müsse gehen. Bevor ich ginge, wolle er aber noch meinen Namen erfahren und wissen, ob er mich wiedersehen dürfe, denn ich hätte ihn sehr beeindruckt.

Ich bedankte mich und sagte: „Ich heiße Agnetha und ich bin in zwei Tagen wieder hier im Haus.“
Darauf lud er mich ein, ihm dann wieder Gesellschaft zu leisten.


Nach unseren Proben zog ich mich sofort um und schminkte mich ab und fuhr heim.
Für den Umtrunk, den wir gewöhnlich noch abhielten, hatte ich absolut keine Lust. Ich wollte auch Ricarda nicht die Chance geben, sich mir zu nähern. Instinktiv war für mich ab diesem Abend klar, dass ich Frauen immer bewundern würde, zumindest die, die femininer daherkamen als Ricarda, aber dass ich einer Frau nicht das geben wollte und konnte, was sie sich gemeinhin von Männern wünscht.

Mit heißen Wangen lag ich später in meinem heimeligen Bett und ich dachte an Herrn Lorenzen und dabei berührte ich mich auf ganz mädchenhafte, fast ungeschickte Weise und bald bebte mein ganzer Körper, als ich mir vorstellte, Herr Lorenzen läge auf mir und gäbe mir Küsse auf meinen Hals, meine Wangen und meinen Mund.

Kurz bevor ich einschlief, tadelte ich mich dann doch und sagte mir, wie benimmst du dich nur, wo ist deine Selbstverständlichkeit als Mann? Ich konnte mir selbst keine Antwort geben, aber ich spürte, dass mich diese ewige Vernünftelei meiner anderen Seite, richtiggehend anödete.

Den nächsten und den übernächsten Tag erlaubte ich mir in keinster Weise in diese dummen Gefühle hineinzufallen und das klappte auch soweit ganz gut, aber als ich bei der zweiten Probe, als Agnetha gestylt, aus Ricardas Schlafzimmer trat, war ich mir sicher, bald wieder bei Herrn Lorenzen zum Tee zu erscheinen. Es muss an dem Kostüm liegen, dachte ich mir. Scheinbar bin ich nicht mehr ich, wenn ich es trage. Die Agnetha in mir, lachte über derlei Bedenken und war von einem Treffen mit Herrn Lorenzen, um nichts in der Welt abzubringen. Ich musste mich fügen. Ich hatte ja als Mann niemals gegen Frauen aufbegehren können, so war es auch jetzt.


Als ich dann endlich mit Herrn Lorenzen zum Tee zusammensaß, gestand er mir, dass es ihm eine unermessliche Freude bereiten würde, wenn ich ihn am nächsten Samstag zu dem, im Kurhaus stattfindenden, Schubertabend begleiten würde. Ich glaubte zunächst, er würde gleich prustend und schallend loslachen und zugeben, er habe sich einen Witz mit mir erlaubt. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen erläuterte er mir, der zunehmend ungläubig Lauschenden, er habe seit dem Tod seiner Frau, vor zwölf Jahren, keine Frau mehr um einen derartigen Gefallen gebeten, aber ich hätte ihn von der ersten Sekunde an durch mein feines Betragen und mein anmutiges Äußeres derart eingenommen, dass er nicht umhin könne, mich darum zu bitten, in der stillen Hoffnung, es könne sich mehr ergeben zwischen uns. Ich selbst war sprachlos, auch weil mir das jetzt doch zu schnell ging, aber ich hörte Agnetha sagen:
„Selbstverständlich möchte ich sie begleiten, Herr Lorenzen und auch ich hoffe, es möge sich mit uns zum Guten entwickeln.“ Um eine Katastrophe zu verhindern, schob ich schnell nach:

„Bedauerlicherweise habe ich für solche ausgesuchten Gelegenheiten nicht das Passende anzuziehen, es tut mir wirklich leid Herr Lorenzen.“


„Folgen sie mir in mein Schlafzimmer, liebe Agnetha, ich habe eine Überraschung für sie.“, sagte er darauf und war schon halb an der Schlafzimmertür. Ich folgte ihm, obwohl ich doch annehmen musste, dass nun Dinge geschehen, die nicht mehr im Bereich des bürgerlichen Anstands sich abspielen würden. Ich musste doch zumindest vermuten, dass dieser Herr Lorenzen im Begriff war, sich über Agnetha herzumachen. Ich hatte ja schon viel gelesen, was Frauen mit Schuften alles widerfahren konnte. Die Gazetten waren ja voll davon. Ich las ja diese Berichte immer wieder gerne und litt mit den Frauen, die so viel erdulden mussten.


Würde ich eine derartige Schande ohne seelischen Schaden überstehen können?
Das war zumindest fraglich, denn ich hatte ja weder mit Frauen noch mit Männern bisher Erfahrungen gesammelt.

Meine ganzen Befürchtungen ad absurdum führend, öffnete Herr Lorenzen jetzt seinen Kleiderschrank, der ein Ehekleiderschrank gewesen war und zog ein schwarzes wunderschönes Kleidchen auf einem Bügel heraus und präsentierte es mir. Dieses Kleid hatte seine um dreißig Jahre jüngere Frau, die vor der Ehe Schönheitstänzerin gewesen war, einen Tag vor ihrem Unfalltod gekauft, um mit ihm damit einen Schubertabend besuchen zu können, so erklärte er mir. Er sei sich sicher, seine Frau mache es im Himmel stolz, wenn ich nun, dieses, mir bestimmt wie angegossen passende Kleid, auf dem diesjährigen Schubertabend trüge, an seiner Seite.

Ich musste erst einmal schlucken, aufgrund der unerwarteten Wendung des Geschehens in Herrn Lorenzens Schlafzimmer, dann wurde mir schlagartig klar, wie erotisch es sich anfühlen muss, an der Seite eines begehrenden Mannes zu schreiten, in dem Kleid, das er für das angemessene hält, in dem sich seine Frau der Öffentlichkeit zeigen soll.

Bar jeder Vernunft und in Ausklammerung aller damit einhergehenden Risiken, sagte ich zu und erhielt das Kleid aus Herrn Lorenzens Händen, zudem den passenden Mantel und elegante Pumps mit Pfennigabsätzen. Also eine komplette Ausstattung, die eine schöne Frau zu einem Wunder an Grazie und Anmut machen kann und auch soll.

Als ich aus Herrn Lorenzens Zimmer trat, erfüllt von Glück und ängstlichen Erwartungen, kam mir Ricarda entgegen auf dem Flur.

„Sag mal, warst du so bei dem Lorenzen drin? Bist du verrückt? Willst du, dass der mir die Wohnung kündigt? Welche Späße erlaubst du dir? Das geht eindeutig zu weit. Ich habe ein halbes Jahr gesucht, bis ich in dieser Stadt eine Bleibe fand.“

Ihr Blick war dabei recht unfreundlich. Wahrscheinlich hatte sie recht, ich war verrückt geworden, aber ich konnte von meinem Traum eine Frau sein zu dürfen, einfach nicht mehr ablassen. Ich sagte Ricarda nichts, von dem Kleid, dem Mantel und den Schuhen, die ich in einer Schachtel bei mir trug. Ich log, es wären Briefmarkenalben drin, die mir Herr Lorenzen ausgeliehen hätte, weil ich mich sehr für seine Sammlung interessierte.

Als ich später ging, sagte sie mir noch: „Pass bloß auf, dass du keine Briefmarke ruinierst, der Lorenzen ist verdammt pingelig. Ich begreife nicht, dass der dir ausgerechnet seine Marken anvertraut. Wenn der deine Bude einmal gesehen hätte, dann hätte er seine Alben nie herausgegeben an dich.“ Wahrscheinlich hatte sie recht, ich war eben der typische, schlampige Student, der für alles Zeit hat, nur nicht fürs Aufräumen und Putzen.

Als ich später in meinem Bett lag, schaute ich zu dem Kleid hinüber, das auf dem Bügel an meiner Schranktür hing und stellte mir vor, wie Herr Lorenzen nach dem Schubertabend in seinem Schlafzimmer hinter mir steht und mit sanften Fingern den Reißverschluss desselben hinunterzieht, worauf mein Nacken für seine, mich belohnen und begehren wollenden Küsse, freigelegt wird, denn ich hatte mich ja als gehorsame und schöne vorführbare Frau an seiner Seite erwiesen und präsentiert, die er nun deswegen über alle Maßen anziehend findet und besitzen will, mit allen nur erdenklichen Maßnahmen und Folgen. Dann ließe er das Kleid hinuntersinken und mein Popo mit dem winzigen Slip wäre ganz nah an seinem Schritt und dann …weiter konnte ich mir nichts Konkretes vorstellen, weil mich meine Gefühle überwältigten.

Darauf musste ich mich kaum noch mädchenhaft berühren, um fast zu zerspringen.

Am nächsten Morgen erwachte ich viel zu spät. Ich beschloss spontan, diese Woche nicht mehr an der Hochschule zu erscheinen. Zum einen, weil sie mich generell anödete und zum anderen, weil ich keine Lust hatte, mir Ricardas Standpauken anzuhören. Ich war sicher, sie würde darauf bestehen, ich müsse mich bei Herrn Lorenzen offenbaren und ihn um Entschuldigung bitten.

Es kam mir auch jetzt völlig unmöglich vor, am Samstagabend mit Herrn Lorenzen zu dem Schubertabend zu gehen. Ich hatte kaum Lust, mich beim morgendlichen Zähneputzen im Spiegel zu betrachten. Irgendwie wollte ich diesen Kerl, der ich jetzt wieder war, gar nicht sehen. Da ich zu faul war, was zum Frühstück zu richten, -es war ja auch schon elf-, sprang ich in meine Jeans und zog ein Sweatshirt drüber und fuhr mit meinem alten Kadett zum in der Nähe liegenden McDonalds Drive-in und holte mir zwei Cheeseburger und eine Portion Pommes. Das machte ich oft, weil ich oft keinen Bock hatte, mir selbst was zu machen.

Danach machte ich einen Spaziergang im angrenzenden Stadtwald, um mich zu zentrieren und zu überlegen, was ich in dieser, etwas verfahrenen Situation, tun könne.

Am Ende meines Spaziergangs, hatte ich mich gegen den Schubertabend entschieden und war der festen Überzeugung, ich müsse Herrn Lorenzen sofort anrufen und ihm alles gestehn.
Das war wohl das Beste. Ricarda hatte freilich recht gehabt, ich hatte absolut gesponnen, als ich annahm, die Frau an der Seite eines Herrn, wie Herr Lorenzen einer war, spielen zu können.
Eine Frau, wie Ricarda, war bestimmt die Richtige für mich. Sie war etwas herb und zupackend, was mir doch nur guttun konnte. Bestimmt würde sie im Bett auch das Kommando übernehmen, sodass mein, in mir fest verankerter Wunsch nach Hingabe, dadurch auch ein Stück weit zur Erfüllung kommen konnte. Ich wollte sie gleich anrufen, wenn ich heimkäme und für Samstagabend ins Kino einladen. Auf einem Plakat hatte ich gesehen, es wird Krieg der Sterne gezeigt. Ich wusste, den Film wollte sie unbedingt sehen.

Zurück in meiner Wohnung fiel mein Blick auf das Kleid an meinem Schrank und dann spulte sich wie automatisch ab, dass ich mir die ollen Jeans und das schlabbrige Sweatshirt auszog und das Kleid überstreifte, die Perücke aufsetzte und die Pumps anzog und so vor meinen Ganzkörperspiegel trat.
Als ich mich so sah, atmete ich unwillkürlich ganz tief ein, wie man es tut, wenn einem eine schwere Last von den Schultern genommen wird und dann sagte ich mit meiner Agnethastimme zu meinem Agnethagesicht in dem Spiegel:

„Und wenn ich dabei draufgehe, ich werde am Samstagabend auf diesem gottverdammten Schubertabend sein und ich werde schön sein, verlasst euch drauf.“

Das Telefon schrillte in meine Trotzphase hinein, das Display zeigte Ricardas Nummer.
Ich nahm den Hörer nicht ab.

Dann sagte ich laut, fast schrie ich es, sodass der Student im Nachbarzimmer an die Wand klopfte: „ Nein! Agnetha ist für dich nicht zu sprechen. Punkt!“

Die nächsten zwei Tage blieb ich, bis auf kurze Trips zum Drive-in, in meinem Zimmer. Ich hatte festgestellt, dass ich üben musste auf diesen High Heels zu gehen und überhaupt mich als Frau zu bewegen, zu schauen und zu gestikulieren.

Ich schaute mir Kostümfilme an, wie zum Beispiel „Sissi, die Kaiserin“, die ich zufällig besaß, um zu lernen, wie sich edle Damen bewegen und wie sie sich geben.

Ich kam mir vor, als würde ich mich auf das härteste Examen meines Lebens vorbereiten müssen. Unzählige Male drohte mich der Mut für mein bevorstehendes Unternehmen zu verlassen und ich wollte Herrn Lorenzen anrufen, um abzusagen.

Doch dann stand ich endlich samstagabends in voller Montur an der Straße und wartete auf Herrn Lorenzen, der mich mit seiner Limousine abholen wollte. Ich hatte einen Treffpunkt vor einem Jugendstilgebäude ausgemacht, meine echte Adresse sollte Herr Lorenz nicht erfahren, denn die Gegend, in der ich wohnte, war leider etwas heruntergekommen.

Mein Stresslevel war unsagbar hoch. Ich hätte selbst nicht geglaubt, dass ich es jemals wagen würde, so aufzutreten in der Öffentlichkeit, aber mein Agnetha-Ich stärkte mir den Rücken.

Pünktlich fuhr Herr Lorenzen vor, stieg aus und öffnete mir die Beifahrertür, nicht ohne mir herzliche Komplimente für meine Erscheinung zu machen. Ich hätte nie gedacht, wie tief diese galanten Förmlichkeiten, meine weiblichen Seelenanteile zu berühren in der Lage waren.
Plötzlich verstand ich in voller Gänze, was es eigentlich heißt, eine Frau zu sein und wie wichtig es ist, gewisse, zwischen den Geschlechtern seit Jahrhunderten entwickelte und verfeinerte Verhaltensmuster, zu pflegen und zu zelebrieren. Erst dadurch werden Menschen überhaupt zu Menschen. Erst dadurch, wird eine Frau eine Frau und ein Mann ein Mann.

Den Rest des Abends verlebte ich wie in einem Traum. Das Abgeben des Mantels der Frau durch den Herrn an der Garderobe kam mir nun genauso wichtig vor, wie das Hand in Hand Hineinschreiten in den Saal, wenn sich die Köpfe der Anwesenden wenden, um die Hereinkommenden zu mustern. Niemand deutete auf uns als Paar, niemand klagte uns an. Alle blieben distinguiert und gelassen, nachdem sie uns gemustert hatten und widmeten sich dann wieder ihren Programmheften oder dem geflüsterten Gespräch mit ihren Begleiterinnen und Begleitern.
Nicht einmal ein Räuspern deutete auf ein gewisses Misstrauen hin. Manche Herren, die wohl Herrn Lorenzen kannten, nickten ihm kurz unauffällig lächelnd zu, als ihre Begleiterinnen schon den Blick abgewandt hatte, womöglich, um zu signalisieren, dass sie den Fang, den er mit mir gemacht hatte, für einen kapitalen hielten. Man muss auch bedenken, dass ich ja noch blutjung war und somit natürlich bei reiferen Herren automatisch besonders begehrt.

Alles in allem war es ein gelungener Abend, an dem ich kaum Fehler machte.
Sogar die Musik gefiel mir und ich nahm mir vor, die Schallplatte mit der „Winterreise“, -das war nämlich die Musik, die gegeben wurde-, bald zu besorgen.
Kurz, ich war vollkommen bereit, in eine andere Wirklichkeit einzutreten, mit neuem Musikgeschmack, neuen Gewohnheiten und als Frau, an der Seite eines Mannes, der es noch versteht, einer Frau das Gefühl zu geben, eine Königin zu sein. Ja, Sissi, das war ich jetzt.

Später, als wir vor dem Jugendstilhaus in meiner Nähe standen und Herr Lorenzen mich noch um einen kleinen Kuss zum Abschied bat, hoch erregt, weil der Abend nach seiner Ansicht wunderschön gewesen war, stimmte ich diesem kleinen Kuss zu, war aber der Überzeugung, dass es für mehr definitiv noch zu früh war mehr zu geben. Was hätte Herr Lorenzen wohl gedacht, wenn ich mich ihm da schon ganz hingegeben hätte? Unmöglich, so etwas lässt eine Frau in den Augen eines Herrn abstürzen, soviel war mir klar. Ich war im Begriff, eine Dame der Gesellschaft zu werden. Herr Lorenzen sprach davon, mich seinen Freunden im Club vorstellen zu wollen. Jeder Schritt, den ich nun unternahm, musste nun mit größter Sorgfalt von mir abgewogen werden, um das bisher Erreichte nicht zu zerstören.

Nach einer traumreichen Nacht sah ich mich als Bursche im Spiegel am nächsten Tag gar nicht erst an. Es gab da einfach zwei Hälften von mir, die inkompatibel waren. Keine Chance, die zu synchronisieren. Verzweiflung befiehl mich. Kaum konnte ich glauben, was gestern Abend geschehen war. War das ein Traum gewesen?

Ricardas Anruf riss mich aus meinen Zweifeln. Es war gut, dass sie jetzt anrief, denn nur sie konnte mich jetzt noch retten und auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Ich war doch keine Frau. Ich konnte Herrn Lorenzens Wünsche nicht erfüllen. Ich hatte nur eine Frau gespielt, die in der Abenddämmerung und im Schummerlicht eines Liederabendkonzerthauses vielleicht noch als eine solche durchgehen kann, aber doch nicht im Tageslicht eines Clubs, unter den hellen, kritischen Blicken besorgter Freunde von Herrn Lorenzen, die ihn gewiss beschützen wollen und davor bewahren wollen, in irgendwelche Fallen zu tappen.

Mit diesen Einsichten und Ängsten konfrontiert, sprach ich zu Ricarda in die Muschel:

„Ricarda, ich sehe jetzt ein, dass du recht hattest, wie konnte ich nur Herrn Lorenzen eine Frau vorspielen. Ich muss völlig toll geworden sein. Bitte verzeih du mir und bitte versuche Herrn Lorenzen schonend die Wahrheit beizubringen. Ich schäme mich so, und ich kann ihm unmöglich noch jemals unter die Augen treten. Was habe ich getan? Ich Narr?.“

Dann hörte ich Ricarda, wie durch einen Schleier meiner Selbstanklage und tiefen Zerknirschung sagen:

„Wieso, ich habe ihm doch schon am Donnerstag reinen Wein eingeschenkt. Er weiß Bescheid.
War was, was ich wissen müsste? Sag mir alles, was du noch angestellt hast.“


„Nein, nein, es war nichts mehr, erwiderte ich.“, fassungslos.


Um sie schleunigst loszuwerden, lud ich sie für „Krieg der Sterne“ am heutigen Sonntagabend ein. Besänftigt legte sie bald auf, nicht ohne zu beteuern, wie froh sie sei, dass ich zur Vernunft gekommen war.

Dann machte ich mich frisch und stylte mich noch einmal wie am gestrigen Abend, mit allem Drum und Dran und trat vor meinen Spiegel.

Da sagte Agnetha lächelnd zu mir: „Siehst du, es ist möglich.“


 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten