Abendlied

4,70 Stern(e) 3 Bewertungen

sufnus

Mitglied
Abendlied

Ein Sing, ein Sang aus Welt gemacht
am unbestirnten Stundenstrand;
zum Herzerschrecken: Der Verstand
befürchtet, meine Seelennacht

müsst wohl für ihn von Übel sein.
Mein Hirn, sieh ein, Dein Fehlen ist
Gedankengrenze und nicht Frist,
nur Schwelle zwischen ja und nein,

und wenn mein Auge nicht erwacht,
schlüpfst Du durchs Loch der Daseinswand
und löschst, System der toten Hand,
was je Dich um den Schlaf gebracht.
 

Scal

Mitglied
Hallo Sufnus!

Eine Phänomenologie besonderer Art.
Für manche möglicherweise nicht so ohne Weiteres bis ans Ende der Strophe 3 ganz nachvollziehbar.
Ich finde den Text erstaunlich, und empfinde ihn zudem als ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie durch lyrische Sprache ein mehr oder weniger allen vertrautes Erlebnisphänomen in eine völlig neue, besingende "Sehweise" gerückt werden kann. Das kann nur die Lyrik, bilde ich mir ein.

Lieben Gruß
Scal
 

sufnus

Mitglied
H Scal!

Ja - übersetzt man den Text in eine Sprache, die im strengen Dienst der Faktenvermittlung steht, dann bleibt nicht viel Inhaltliches übrig. Diese Gefahr einer Übersetzung lyrischen Redens (nein: Singens) in genormte Bedeutungszuweisungen besteht immer. Der flatterhafte Sang und Klang rutscht dann in den prosaischen Bereich des Er-zählens, dieses Versuchs, die Wirklichkeit per Malen nach Zahlen in eine euklidische Geometrie zu zwingen, in der alle Dreieckswinkelsummen genau 180 Grad ergeben.
Es kann (muss aber nicht!) bei der Lyrik auch einmal um das nicht Nachvollziehbare gehen. Bei diesem Text hadere ich daher ein bisschen, er ist ein bisschen wie eine Umrisszeichnung, eine in sich geschlossene Kontur ohne Füllung.
Also... wir versuchens weiter. :)
LG!
S.
 

Scal

Mitglied
Es erwachte eine Erinnerung, ich begann zu schürfen und schiebe das jetzt aus den Stollen des Archivs:

Patrick Schuler
22 März 2021
Herausforderung: Gedichte über den Schlaf



Schlaf. Ein Harnisch
mit Scherben und Schotter
zerschlagener Tage gefüllt.

Schlaf. Eine Wolke die
bekennt dass sie den Schnee liebt
weil er dem brüllenden Land
die Stimme nimmt.

Schlaf. Eine See
in der sich das Klirren
von Muschelketten spiegelt.

Schlaf. Hinter deiner Stirn
das knarzende Eisen
dann nichts
und das Rauschen gesetzter Segel.


Scal
23 März 2021
Schlafzu, guterletzt



ruderver
schluss

wähnen, ein fuß
sinnüber
fluss

sickert
durch eine membran



Angeregt durch Patrick Schuler: Eine Herausforderung. Gedicht über Schlaf


LG, Scal
 
Zuletzt bearbeitet:

sufnus

Mitglied
Hi Scal!
Das sind ja großartige Texte! Sie beweisen, gerade auch im Vergleich mit meinen Zeilen, dass ungereimte, rhythmisch freie Gedichte häufig eine weitaus größere Strahlkraft zu entfalten vermögen als traditionell endgereimte und metrisch gebundene Texte. Natürlich kann man gerade auch beim Thema Schlaf zur Leier (zum Leiern?) greifen und das Publikum säuselnd ins REM-Reich singen. ;)
Aber Deine richtig coolen Beispiele machen wir wieder mehr Lust, ein paar frei flottierende Texte zu produzieren. :)
Danke & LG! :)
S.
 

fee_reloaded

Mitglied
...
am unbestirnten Stundenstrand;
...
Da hab ich doch glatt diese feine, kleine Alliterationsperle gehoben, lieber sufnus!

Am "fehlenden Gehirn" bin ich kurz leicht irritiert hängengeblieben (was wohl einer eigenen momentanen Gehirn-Absenz geschuldet war), bis ich das "Fehlen" richtig als "Fehl-Gehen" eingeordnet hatte. Danach erschloss sich mir der Text dann doch und vor allem in all seiner Finesse ;)

und wenn mein Auge nicht erwacht,
schlüpfst Du durchs Loch der Daseinswand
gefällt mir besonders gut. Das "Schlüpfen durch die Daseinswand" - das ist herrlich spürbar verwortet; beinah zärtlich. Aber ich meine fast: anders geht das auch gar nicht.

Sehr gerne gelesen!
LG,
fee
 

sufnus

Mitglied
Also wenn ich Deine Bemerkungen lese, liebe Fee, gefällt mir mein Text plötzlich wieder etwas besser... das freut mich wirklich sehr!
Der unbestirnte Stundenstrand war ein nicht geplanter Zufallstreffer (mir fällt grad auf, dass man anstelle fehlender Sterne hier auch eine fehlende Stirn herauslesen könnte) und das "schlüpfen" (so Puppe-Schmetterlings-mäßig) ist mir auch eher so passiert. Also das Gedicht hat definitiv irgendein komisches Eigenleben entwickelt. Fast etwas gruselig... ich lese die Zeilen ein bisschen wie einen fremden Text.
LG!
S.
 

fee_reloaded

Mitglied
Also das Gedicht hat definitiv irgendein komisches Eigenleben entwickelt. Fast etwas gruselig... ich lese die Zeilen ein bisschen wie einen fremden Text.
Ah, ja...die Gedichte, die mit einem machen, was sie wollen und durch des Dichters Daseinswand schlüpfen...ja, das Phänomen kenne ich auch.
Gruselig finde ich das nicht...ich empfinde solche Texte, die einem selbst dann ein wenig fremd bleiben, wie kleine, schriftlich manifestierte Zeitfenster, wo man einen Blick auf sich selbst erhaschen konnte, der einem sonst verwehrt bleibt. Ist doch schön, wenn wir uns selbst doch immer auch ein wenig Rätsel bleiben.

Freut mich, wenn du dich mit deinem Text ein wenig mehr anfreunden kannst.

LG,
fee
 

sufnus

Mitglied
Hey Fee! :)
Also ich glaube mittlerweile, dass ich meinen eigenen Text total missverstanden habe... das macht ja grad wirklich, was es will, dieses Textbiest! Jetzt hat es ich doch glatt in den Finger gezwickt! Ich glaub, das macht sich einen Jux mit mir.... wie ein total verrücktes Haustierchen und wenn die Fee auf Besuch kommt, ist es ganz brav und lässt sich kraulen. :)
LG!
S.
 

fee_reloaded

Mitglied
Bei diesem Text hadere ich daher ein bisschen, er ist ein bisschen wie eine Umrisszeichnung, eine in sich geschlossene Kontur ohne Füllung.
Ich glaube, du hast nur die bereits vorhandene Füllung erst jetzt entdeckt. Sie hat dich gezwickt? Ts ts. Hat wohl das Überraschungsmoment ausgenutzt. Sehr übermütig...
 



 
Oben Unten