Nead Moro
Mitglied
Motivation: Über Grenzen
„Überaus erfreut!“, antwortet Herr Aber auf die E-Mail seines Chefs. Ein einzelnes Wort kann über den Ausgang dieses Gesprächs entscheiden, denkt er bei sich. Er sieht sich sinnierend im Büro um. Es wirkt im trüben Licht des Morgens noch grauer als sonst. Bis auf ein großes Modell einer Dampflokomotive, wohl ein Überbleibsel einer früheren Kollegin, ist das Büro vielmehr schmucklos. Sonst glaubt hier niemand an die guten alten Zeiten. Von den Kollegen fährt auch niemand Bahn. Dafür ist sie nicht flexibel genug. Die kleinen Arbeits-Zellen sind so früh noch leer und so arrangiert, dass Schreibtisch, Stuhl und Bildschirm geradeso Platz haben. Jedoch beliebt das Herr Aber so. Der enge Raum gibt ihm Halt, hält seine Gedanken in Schach und hilft ihm nicht über zu reagieren.
Herr Aber wischt sich fieberhaft über die Stirn und kaut an seinen Fingernägeln. Er hat viel zu tun. „Ein wenig übereifrig“, sagen die Kollegen. Eher übereilig. Beim Herfahren wurde er an einer Fußgängerüberquerung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung geblitzt. Seine Arbeitsfläche ist mit Akten überladen. Alles Beschwerden. Er wird diese später in die Datenbank übertragen müssen. Herr Aber ist dem Ganzen überdrüssig und nestelt deswegen nervös an seiner Mappe mit den Notizen zu seiner entwickelten Projektidee herum, die er für seinen Chef vorbereitet hat. Die Tür öffnet sich und herein kommt Herr Dennoch, sein Kollege und Kontrahent. Er steuert stoisch auf seine Zelle zu, Herr Abers im Gang gegenüberliegend, und nickt ihm dabei zur Begrüßung zu, beiläufig. Zu seinem Kollegen hinüberschielend, sortiert Herr Aber beflissentlich seine Dokumente. Verstohlen versichert er sich, dass die imaginäre Linie zu seiner Zelle existiert. Er weiß, dass niemand diese Schwelle überwinden kann, es sei denn, er wird dazu von ihm aufgefordert. Das gilt für alle Zellen hier. Erleichtert widmet er sich wieder seinen Gedanken, die kommende Zwistigkeit betreffend.
Er wird mit bemüht aufrechter Haltung und einem verschmitzten Lächeln für seinen Kollegen den Gang ganz nach oben antreten. Dort ist eine große, schwere Tür mit den verheißungsvollen Lettern „Willkommen bei der Machtübernahme“ . Herr Aber überwindet sich und überschreitet die Schwelle zum Olymp. Wie immer, wenn er diesen Ort betritt, kommt das einer Reizüberflutung gleich. Es ist lückenlos weiß und grell. Der einzige Fixpunkt – der Chef. Er scheint einen anzusaugen.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt jener. Etwas irritiert.
Herr Aber runzelt die Stirn. Der Chef weiß doch genau, worum es geht. Schließlich stand sein Anliegen übertrieben ausführlich in der E-Mail mit der Überschrift „Gesuch“.
„Es geht um die Stelle.“, sagt er unsicher.
„Ach ja. Die von Frau Los, nicht wahr! Die Hals-über-Kopf nach Übersee gereist ist und nicht wiederkam.“ Der Chef beäugt ihn abschätzig.
Dann sagt er in versöhnlicherem Ton: „Dann erzählen Sie mal, warum Sie denken für die Stelle geeignet zu sein!“
Herr Aber weiß, das ist seine Chance. Er wird den Chef überzeugen müssen.
„Nun sehen Sie, seit einiger Zeit werde ich mit Beschwerden überladen. Blockierte Bahnübergänge, übervolle Züge, überfallene Züge. Ausgefallene Züge. Ich denke, wir können darin übereinkommen, dass das Konzept Bahn überdacht werden muss. Es braucht europaweit landesübergreifende Zugverbindungen. Bei genauerer Überprüfung sind mir einige Bahnstrecken aufgefallen, die es zu überholen gilt. Ich habe die Wiederaufbaukosten dem Nutzen gegenübergestellt und bin zu dem Schluss gekommen: Es lohnt sich!“ Herr Aber wird sicherer in seinen Übermittlungen. Der Chef sieht ihn aus schmalen Augen an. Man kann den Phasenübergang zur kühleren Gesprächsatmosphäre förmlich spüren. Doch Herr Aber in seinem Redeschwall merkt nichts.
„Übersetzen! Konkreter werden!“, fordert der Chef.
Herr Aber schwitzt zunehmend.
„Nun nehmen Sie zum Beispiel die stillgelegte Überbrückung des Rheins bei Breisach.“
„Aber die war ja auch völlig überflüssig! Es gibt ja schließlich die Überquerung bei Straßburg.“, deklariert der Chef gereizt. „Herr Aber. Glauben Sie denn wirklich, dass Ihre Ausführungen mir neu sind. Aber sie sind überbewertet. Die Bahn fährt und die Kunden überweisen.“
Er sieht Herr Aber mit hochgezogenen Brauen an. Dieser ist in sich zusammengesunken. Er sieht das anders. Aber was soll man da machen.
„Sie werden schon nicht übersehen, werter Herr Kollege. Aber wissen Sie, wir brauchen Sie genau da, wo sie jetzt sind!“ Ein gönnerhaftes Lächeln. Dann ein kurzes, knappes Kopfnicken hin zur Tür. Herr Aber hat den Wink verstanden und er hat ohnehin nichts mehr zu erwidern. Er hat sich übernommen, wollte sich übertreffen und hat doch gar nichts gewonnen.
Ein Kugelschreiber fällt klappernd zu Boden. „Verzeihung!“, sagt Herr Dennoch mit übertrieben leiser Stimme.
Aber das bringt Herr Aber zurück in die Gegenwart. Ein Gefühlsüberschwang ereilt ihn. Alle seine Bemühungen werden nicht fruchten, begreift er mit wachsender Angst. Nichts wird sich ändern. Kurz entschlossen nimmt er die Mappe mit den Dokumenten, notiert darauf die Zeit des Meetings und geht hinüber zu seinem Kollegen. Er wagt es den Rand jener Zelle zu übertreten und reicht dem erstarrten Herr Dennoch die Mappe. Sollen andere ihr Glück versuchen. Er nickt dem Kollegen selbstbewusst lächelnd zum Abschied zu und geht ohne zurückzublicken hinaus. Er wird etwas anderes wagen. Seine persönliche Grenze ist hier erreicht. Aus. Grenzen.
„Überaus erfreut!“, antwortet Herr Aber auf die E-Mail seines Chefs. Ein einzelnes Wort kann über den Ausgang dieses Gesprächs entscheiden, denkt er bei sich. Er sieht sich sinnierend im Büro um. Es wirkt im trüben Licht des Morgens noch grauer als sonst. Bis auf ein großes Modell einer Dampflokomotive, wohl ein Überbleibsel einer früheren Kollegin, ist das Büro vielmehr schmucklos. Sonst glaubt hier niemand an die guten alten Zeiten. Von den Kollegen fährt auch niemand Bahn. Dafür ist sie nicht flexibel genug. Die kleinen Arbeits-Zellen sind so früh noch leer und so arrangiert, dass Schreibtisch, Stuhl und Bildschirm geradeso Platz haben. Jedoch beliebt das Herr Aber so. Der enge Raum gibt ihm Halt, hält seine Gedanken in Schach und hilft ihm nicht über zu reagieren.
Herr Aber wischt sich fieberhaft über die Stirn und kaut an seinen Fingernägeln. Er hat viel zu tun. „Ein wenig übereifrig“, sagen die Kollegen. Eher übereilig. Beim Herfahren wurde er an einer Fußgängerüberquerung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung geblitzt. Seine Arbeitsfläche ist mit Akten überladen. Alles Beschwerden. Er wird diese später in die Datenbank übertragen müssen. Herr Aber ist dem Ganzen überdrüssig und nestelt deswegen nervös an seiner Mappe mit den Notizen zu seiner entwickelten Projektidee herum, die er für seinen Chef vorbereitet hat. Die Tür öffnet sich und herein kommt Herr Dennoch, sein Kollege und Kontrahent. Er steuert stoisch auf seine Zelle zu, Herr Abers im Gang gegenüberliegend, und nickt ihm dabei zur Begrüßung zu, beiläufig. Zu seinem Kollegen hinüberschielend, sortiert Herr Aber beflissentlich seine Dokumente. Verstohlen versichert er sich, dass die imaginäre Linie zu seiner Zelle existiert. Er weiß, dass niemand diese Schwelle überwinden kann, es sei denn, er wird dazu von ihm aufgefordert. Das gilt für alle Zellen hier. Erleichtert widmet er sich wieder seinen Gedanken, die kommende Zwistigkeit betreffend.
Er wird mit bemüht aufrechter Haltung und einem verschmitzten Lächeln für seinen Kollegen den Gang ganz nach oben antreten. Dort ist eine große, schwere Tür mit den verheißungsvollen Lettern „Willkommen bei der Machtübernahme“ . Herr Aber überwindet sich und überschreitet die Schwelle zum Olymp. Wie immer, wenn er diesen Ort betritt, kommt das einer Reizüberflutung gleich. Es ist lückenlos weiß und grell. Der einzige Fixpunkt – der Chef. Er scheint einen anzusaugen.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt jener. Etwas irritiert.
Herr Aber runzelt die Stirn. Der Chef weiß doch genau, worum es geht. Schließlich stand sein Anliegen übertrieben ausführlich in der E-Mail mit der Überschrift „Gesuch“.
„Es geht um die Stelle.“, sagt er unsicher.
„Ach ja. Die von Frau Los, nicht wahr! Die Hals-über-Kopf nach Übersee gereist ist und nicht wiederkam.“ Der Chef beäugt ihn abschätzig.
Dann sagt er in versöhnlicherem Ton: „Dann erzählen Sie mal, warum Sie denken für die Stelle geeignet zu sein!“
Herr Aber weiß, das ist seine Chance. Er wird den Chef überzeugen müssen.
„Nun sehen Sie, seit einiger Zeit werde ich mit Beschwerden überladen. Blockierte Bahnübergänge, übervolle Züge, überfallene Züge. Ausgefallene Züge. Ich denke, wir können darin übereinkommen, dass das Konzept Bahn überdacht werden muss. Es braucht europaweit landesübergreifende Zugverbindungen. Bei genauerer Überprüfung sind mir einige Bahnstrecken aufgefallen, die es zu überholen gilt. Ich habe die Wiederaufbaukosten dem Nutzen gegenübergestellt und bin zu dem Schluss gekommen: Es lohnt sich!“ Herr Aber wird sicherer in seinen Übermittlungen. Der Chef sieht ihn aus schmalen Augen an. Man kann den Phasenübergang zur kühleren Gesprächsatmosphäre förmlich spüren. Doch Herr Aber in seinem Redeschwall merkt nichts.
„Übersetzen! Konkreter werden!“, fordert der Chef.
Herr Aber schwitzt zunehmend.
„Nun nehmen Sie zum Beispiel die stillgelegte Überbrückung des Rheins bei Breisach.“
„Aber die war ja auch völlig überflüssig! Es gibt ja schließlich die Überquerung bei Straßburg.“, deklariert der Chef gereizt. „Herr Aber. Glauben Sie denn wirklich, dass Ihre Ausführungen mir neu sind. Aber sie sind überbewertet. Die Bahn fährt und die Kunden überweisen.“
Er sieht Herr Aber mit hochgezogenen Brauen an. Dieser ist in sich zusammengesunken. Er sieht das anders. Aber was soll man da machen.
„Sie werden schon nicht übersehen, werter Herr Kollege. Aber wissen Sie, wir brauchen Sie genau da, wo sie jetzt sind!“ Ein gönnerhaftes Lächeln. Dann ein kurzes, knappes Kopfnicken hin zur Tür. Herr Aber hat den Wink verstanden und er hat ohnehin nichts mehr zu erwidern. Er hat sich übernommen, wollte sich übertreffen und hat doch gar nichts gewonnen.
Ein Kugelschreiber fällt klappernd zu Boden. „Verzeihung!“, sagt Herr Dennoch mit übertrieben leiser Stimme.
Aber das bringt Herr Aber zurück in die Gegenwart. Ein Gefühlsüberschwang ereilt ihn. Alle seine Bemühungen werden nicht fruchten, begreift er mit wachsender Angst. Nichts wird sich ändern. Kurz entschlossen nimmt er die Mappe mit den Dokumenten, notiert darauf die Zeit des Meetings und geht hinüber zu seinem Kollegen. Er wagt es den Rand jener Zelle zu übertreten und reicht dem erstarrten Herr Dennoch die Mappe. Sollen andere ihr Glück versuchen. Er nickt dem Kollegen selbstbewusst lächelnd zum Abschied zu und geht ohne zurückzublicken hinaus. Er wird etwas anderes wagen. Seine persönliche Grenze ist hier erreicht. Aus. Grenzen.